Liebe Leserin, lieber Leser,
als wir mit dem Konzept dieser Titelstrecke begannen, stand als Arbeitshypothese „Der neue Nahe Osten“ im Raum. Machtpolitik, Innovationen, Energie: Voller Neugier (und mit angemessenem Abstand zur Fußball-WM in Katar) wollten wir eine der vielschichtigsten Regionen der Welt unter die Lupe nehmen. Das Ergebnis: Es ist kompliziert. Und: Die Hypothese hat nicht gehalten – zumindest bei Weitem nicht für „den“ Nahen Osten.
Neu, das ist die gewachsene Kraft der Golfstaaten, ihr nochmals größeres Selbstbewusstsein infolge energie- und geopolitischer Veränderungen. Nicht neu ist dagegen ein Geflecht aus Problemen, das im Übermaß auf der Gegend zwischen Nordafrika und dem Iran lastet: Armut, Ungleichheit, Fundamentalismus, Klimakrise, Hunger, blutige Kriege, schier unendliche Krisen – und dann auch noch dieses epochale Erdbeben. Europa, als internationaler Akteur nur begrenzt multitaskingfähig, ist mit dieser hochkomplizierten Region vielfältig verwoben. Der „Fokus Nahost“ dieser Ausgabe soll helfen, sich der Nähe dieser ausstrahlenden Dauerkrisen – vielleicht neu – bewusst zu werden.
Ein Jahr Zeitenwende, das ist der zweite Schwerpunkt dieses Heftes. Besonders hinweisen möchte ich Sie auf die Zusammenstellung von drei Perspektiven aus dem Ausland eingangs unseres Weltspiegels: Daniel Hamilton (USA), Camille Grand (Frankreich) und Justyna Gotkowska (Polen) halten Kanzler, Regierung und Land den Spiegel vor. Bei allen Unterschieden in der Betrachtung eint sie ein Befund: Das reicht noch nicht, noch lange nicht; guter Anfang, dann geriet man ins Stolpern, Suchen und Zögern. Nun wären eine Strategie gut, sodann ein Plan und Entschlossenheit, für die man einzustehen bereit ist – nicht nur gegenüber den Partnern, sondern auch und erst recht mit beharrlicher Überzeugungsarbeit im eigenen Land.