Essay

27. Febr. 2023

Liberaler Internationalismus

Der Westen gibt sich überkommenen Illusionen hin, und er strahlt nicht mehr. Für andere Allianzen ist ein anderes Verständnis von Zentrum und Peripherie vonnöten, mehr Offenheit, Demut und weniger Halbherzigkeit. Von der Suche nach einer neuen freien Welt.

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Bild: Gemälde der Unterzeichnung der Unabhängigkeitserklärung
„Folgende Wahrheiten erachten wir als selbstverständlich: ...“ John Trumbulls Gemälde „The Declaration of Independence“ ist ein ikonisches Bild der amerikanischen Geschichte. Der Tunnelblick des Dokuments bleibt eine Ursünde des westlichen Menschenrechtsverständnisses.
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Namensnennung CC BY

Manche Sätze behaupten etwas Falsches, treffen aber doch einen Punkt. „Wir sind heute in einer anderen Welt aufgewacht“ ist ein solcher Satz. Er fiel am Tag nach dem Beginn des unerklärten russischen Angriffskriegs auf die Ukraine und war die Reaktion Annalena Baerbocks auf den neuerlichen Bruch des Völkerrechts durch Russland.

Die deutsche Außenministerin gab damit spontan dem Gefühl Ausdruck, dass eine grundsätzlich neue Situation entstanden sei. Die politischen Gewissheiten, die als unerschütterlich galten, schienen sich in nichts aufgelöst zu haben. Es war, als wären wir jäh einem eisigen Sturmwind der Geschichte ausgesetzt. Dieses Gefühl war und ist echt. Darauf eine politische Strategie bauen zu wollen, wäre jedoch unklug. Es würde aus der Verwirrung nicht heraus-, sondern tiefer in sie hineinführen.

Zu glauben, die Welt sei am 24. Februar 2022 eine andere geworden, setzt einen sehr europäischen und transatlantischen Blickwinkel voraus: Vertragstreue als die Regel. Die Bereitschaft, sich skrupellos über alles Recht und alle humanitären Übereinkünfte hinwegzusetzen und Gewalt für legitim zu erklären, schien 1945 seit dem Tod Adolf Hitlers der Vergangenheit anzugehören. Grenzen galten in Europa fortan als unverletzlich, fast könnte man sagen: als heilig. Die überwältigende Mehrheit der heutigen Europäerinnen und Europäer hatte ihr Leben lang nur dies erlebt: Frieden und Gewaltlosigkeit. Wir hielten dies für einen Normal-, ja Naturzustand.

Europäische Geschichtsvergessenheit

Heute ist klar, dass dies eine Illusion war. In Europa, in Deutschland zumal, wurde sie inniger gehegt als in den Vereinigten Staaten, die stets Venus und Mars im Blick behielten. So erfolgreich die europäische Einigung die Staaten der EU friedlich miteinander verbunden hat, so hat sie doch auch eine seltsame Geschichtsvergessenheit geschaffen. In ihrem Streben nach immer engerer Verflechtung hat sie faktisch den Glauben an einen nicht mehr weit entfernten Endzustand genährt. Politik wäre dann nur noch routinierte Arbeit am immer besseren, immer reibungsloseren Ausgleich. Gerade indem die europäische Einigung der langen Gewaltgeschichte des Kontinents ein Ende machen wollte, hat sie das historische Bewusstsein geschwächt. Und damit eine Einsicht blockiert, die nach den Barbareien des 20. Jahrhunderts doch offenkundig war. Die Einsicht, dass das Böse in der Welt ist und nie wird endgültig besiegt werden können. Dass Verbrechen, einmal verübt, wieder geschehen können. Die Geschichte der Menschheit ist, nicht erst seit 100 Jahren, voll von Zivilisationsbrüchen.

Das Erschrecken über den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine war auch deswegen so groß, weil damit zum ersten Mal einer der kriegführenden Staaten des Zweiten Weltkriegs das nach 1945 von diesen Staaten geschaffene internationale Arrangement einseitig für obsolet erklärt hat. Weitet man aber den Blick über das Staaten­ensemble des Zweiten Weltkriegs hinaus, versteht man sofort, dass der Primat des Vertraglichen auf der Welt nicht die Regel, sondern eher die Ausnahme ist. Gewalt und Krieg sind Normalität geblieben. Allein in dem noch jungen 21. Jahrhundert wurden mehr als 30 Kriege geführt. China, Korea, Vietnam, Biafra, Kongo, Algerien, Chile, Argentinien, Nicaragua, Syrien, Iran, Afghanistan: Der Gott des Krieges, der Gewalt ist allgegenwärtig geblieben. Der Glaube war irrig, Demokratie, Marktwirtschaft und Freihandel würden ein derart attraktives Ensemble bilden, dass dessen Ausbreitung unaufhaltsam sei. Wir leben nicht in einer anderen, sondern in einer bekannten Welt.

Der russische Angriff auf die Ukraine hatte einen überraschenden Effekt. Er hat Deutschland, Europa und die westliche Welt nicht in Furcht und Schrecken versetzt. Der Krieg hat gerade das nicht bewirkt, was sich der russische Präsident erhoffte. Er hat die notorisch uneinigen EU-Staaten keineswegs auseinanderdividiert und gespalten. Er hat sie enger zusammengeführt denn je. Mehr noch: Putin hat dem transatlantischen Bündnis, dessen Ausdünnung oder gar Ende besiegelt zu sein schien, eine unerwartete Renaissance verschafft. Der russische Präsident wollte die zentrifugalen Kräfte des westlichen Bündnisses befeuern – hat aber deren zentripetalen Kräften einen überraschend starken Schub gegeben. Auch die Grünen sind leidenschaftliche Befürworter der NATO und einer kampffähigen Bundeswehr sowie feurige Transatlantiker geworden.

Das ist gut so. Einen qualitativen politischen Sprung stellt es aber nicht dar. Die Grünen haben damit nur die innen-, sicherheits- und außenpolitische Verfassung verinnerlicht, die für die alte Bundesrepublik von jeher normativ gewesen war. Sie haben zur Vergangenheit aufgeschlossen. Und das hat durchaus etwas Restauratives. Wir haben keinen Grund, uns ob der Einsicht in die Notwendigkeit einer „Zeitenwende“ auf die Schulter zu klopfen. Wenn die Außenministerin bekräftigt, „wir“ stünden zu „unseren Werten“ und würden nicht wanken, klingt das wie ein Beschwörungsritual. Und täuscht eine weltpolitische Stärke des europäisch-transatlantischen Komplexes vor, die es nicht gibt. So sehr „wir“ auch die Backen aufblasen, global gesehen sind „wir“ in der Minderheit. Deutsche Außenpolitik, die etwas bewirken will, muss dies zuallererst anerkennen. Die transatlantische Renaissance alleine reicht nicht.

Der Westen kann nicht mehr Zentrum sein

Mit dem Beginn des russischen Angriffskriegs ist die Ukraine in den Mittelpunkt des europäischen Interesses gerückt. Und „wir“, vom russischen Regelbruch erschüttert, fühlen uns von der Peripherie ins Zentrum befördert. Der Ukraine-Krieg hat einen paradoxen Effekt. Weil „wir“ fast unmittelbar betroffen sind, hat er einen Eurozentrismus wiederbelebt, der eben noch eine politische Endmoräne zu sein schien. Der Ukraine-Krieg hat unseren Blick nicht geweitet, sondern verengt. Europas weltprägende Zeit ist seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs endgültig vorbei. Und auch das transatlantische Bündnis hat diese prägende Kraft verloren. Der „Westen“ ist in politischer, sozialer, wirtschaftlicher, gesellschaftlicher Hinsicht wohl das Beste, was die Neuzeit hervorgebracht hat. Aber er kann nicht mehr das Zentrum sein, dem andere sich nur anzuschließen brauchen. Er strahlt nicht mehr. Und müsste sich eingestehen, dass die Beschädigung seines Nimbus auch selbstverschuldet ist.

Die Beschränktheit deutscher Politik hat Bundeskanzler Olaf Scholz in einem Artikel für die Zeitschrift Foreign Affairs eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Dieser trägt den Titel „Die globale Zeitenwende“ (im englischen Original klingt er sogar komisch: „The Global Zeitenwende“). Es ist von Anmaßung nicht frei, wenn ein deutscher Bundeskanzler im außenpolitischen Zentral­organ der USA eine neue Ära ankündigt. Wie es auch anmaßend ist zu behaupten, Deutschland – gerade aus dem sicherheitspolitischen Dornröschenschlaf erwacht – werde ein zentraler Akteur dieser neuen Zeit sein. Gewiss, Scholz verwahrt sich gegen ein neues Blockdenken. Und gegen die Anti-Kantianer plädiert er mit Nachdruck für einen offenen Multilateralismus. Die zahlreichen Bemühungen des Bundeskanzlers, neue politische Bündnispartner jenseits der ausgefahrenen Wege der vergangenen Jahrzehnte zu suchen, gehen deutlich über die bisherige Außenpolitik Deutschlands hinaus.

Doch Scholz bleibt auf halbem Wege stehen. Seine strategischen Gedanken greifen nicht systematisch über die alte trans­atlantische Konstellation hinaus. Zwar spricht er von den aufstrebenden Staaten „in Afrika, Asien, der Karibik und Lateinamerika“, denen „größere Mitsprache in globalen Fragen“ zugestanden werden sollte. Mitsprache heißt aber auch, dass „wir“ die Köche sind und jenen aufstrebenden Regionen vorerst nur das Kellnern zusteht. Das Zentrum bleibt, wo es immer schon war: im „Westen“. Das aber passt nicht mehr in die Zeit. Mit dieser Haltung wird es nicht gelingen, wenigstens einen Teil der vielen Staaten für neue ­Allianzen zu gewinnen, die den Ukraine-Krieg als eine innereuropäische Angelegenheit betrachten, die sie nichts angeht.

"Dass alle Menschen gleich geschaffen sind"

Es gehört zu den Eigenarten grundsätzlicher Menschenrechtsproklamationen, dass sie als universell gültig verkündet werden, dann aber lange nur partikular verwirklicht werden. Zu Beginn der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 hieß es: „Folgende Wahrheiten erachten wir als selbstverständlich: dass alle Menschen gleich geschaffen sind; dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind; dass dazu Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören; dass zur Sicherung dieser Rechte Regierungen unter den Menschen eingerichtet werden, die ihre rechtmäßige Macht aus der Zustimmung der Regierten herleiten“. Das ist nun fast ein Vierteljahrtausend her. Alle Menschen? Dem Buchstaben nach waren alle gemeint, in Wirklichkeit jedoch nicht. Denn die Verfasser schlossen weder Schwarze noch Frauen ein. Nicht aus Ranküne, sondern weil sie – fast möchte man beschönigend sagen: arglos – davon ausgingen, dass Mensch gleich weißer Mann sei. Sie sahen die „anderen“ einfach nicht.

Auch wenn dieser Tunnelblick in der Folgezeit Schritt für Schritt geweitet wurde, er bleibt eine Ursünde des westlichen Menschenrechtsverständnisses. Wenn es heute weithin unbestritten ist, dass alle Menschen im Besitz der Menschenrechte sind, ist das sicher auch eine Folge der Logik, die dem christlichen Verständnis vom Individuum und der Gedankenwelt der Aufklärung inhärent ist. So gesehen, war die Verallgemeinerung der Menschenrechte unausweichlich. Man macht es sich aber zu einfach, wenn man – wie es der Historiker Heinrich August Winkler Buch für Buch, Artikel für Artikel tut – die westliche Welt als eine Maschine beschreibt, die allem Stottern und allen Rückschlägen zum Trotz mit Notwendigkeit auf die endgültige Etablierung einer liberalen, gewaltenteiligen Kultur hinausläuft, in deren Zentrum das Individuum und die unveräußerlichen Menschenrechte stehen. Der Skandal besteht darin, dass es so ungeheuer lange gedauert hat, bis sich die Erkenntnis durchgesetzt hat, dass alle Menschen gleiche Rechte besitzen. Und so sehr die Miseren der außereuropäischen Welten teils selbstverschuldet sind – die verspätete Anerkennung der universellen Menschenrechte geht auf das Konto des „Westens“. Daraus erwächst die Pflicht, die freie Welt nicht als westliche Insel zu sehen, sondern anschlussfähig zu halten und diese Anschlussfähigkeit mit allen politischen, diplomatischen, wirtschaftlichen und kulturellen Mitteln zu betreiben.

Nicht alle Völker der Welt warteten darauf, dass sich die Menschenrechte schon durchsetzen würden. Wenige Jahre, nachdem die USA unabhängig geworden waren, erkämpfte Haiti unter Toussaint Louverture die Abschaffung der Sklaverei und 1804 als erstes Land Lateinamerikas die Unabhängigkeit. Der Wunsch nach Freiheit und Selbstbestimmung breitete sich schnell weltweit aus. Spätestens seit Beginn des 20. Jahrhunderts formierte sich die antikoloniale Bewegung in Indien. Mehrere Panafrikanische Kongresse berieten, ob im antikolonialen Kampf eine Gemeinsamkeit aller afrikanischen Völker geschaffen werden könne. Der „Westen“ versuchte zu verhindern und zu bremsen, schaute bestenfalls zu. Als nach dem Ersten Weltkrieg erstmals über eine formalisierte internationale Staaten­ordnung nachgedacht wurde, machten das die Siegermächte unter sich aus. Die Befreiung der Kolonien stand nicht auf der Agenda.

Nur zwei Jahrzehnte später war es wieder ein Krieg, der Zweite Weltkrieg, der erneut die Schaffung einer stabilen Weltordnung auf die Tagesordnung setzte und der zur Gründung der Vereinten Nationen 1945 führte. Schon in ihrer Gründungsphase gingen die proklamierten hehren Ziele Hand in Hand mit dem unverblümten Hegemoniestreben der alten westlichen Welt. Als der britische Premier Churchill und der amerikanische Präsident Roosevelt kurz vor dem Kriegseintritt der USA die Idee der Vereinten Nationen zu entwickeln begannen, sollte dabei zwar ein „New Deal für die Welt“ herauskommen. An eine Weltgemeinschaft, der alle Staaten mit gleichen Rechten angehören, war aber keineswegs gedacht. Churchill bestand 1941 bei der Formulierung der Atlantik-Charta, des ersten Gründungsdokuments der Vereinten Nationen, darauf, dass diese für die britischen Kolonien nicht gelten sollte. Und Roosevelt äußerte privat, die neue Weltorganisation müsse ein „Polizeidirektorium der Großmächte“ werden.

Die Charta der Vereinten Nationen bekräftigte in ihrer Präambel „unseren Glauben an die Grundrechte des Menschen, an Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit, an die Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie von allen Nationen, ob groß oder klein“. Geschrieben hat diese Zeilen Jan Smuts. Als damaliger Präsident der Südafrikanischen Union war der Rassist und Vertraute Churchills verantwortlich für die Segregation von Schwarzen und Weißen und die Vertreibung der Schwarzen aus ihren städtischen Wohnvierteln.

Später wurden die UN durch eine Mehrheit von Staaten gekapert, die sich in den Nachkriegsjahrzehnten die Unabhängigkeit erkämpft hatten. Von Staaten, die zu einem Großteil die Menschenrechte missachteten und Autokratien wurden, die aber zugleich im Namen der Menschenrechte und des Selbstbestimmungsrechts einen ständigen Kampf gegen die Staaten der freien Welt führten. Das scheint im Nachhinein jenen recht zu geben, die die Aufnahme von Staaten der „Dritten Welt“ mit dem Argument zu verhindern suchten, diese seien nicht reif, einer Weltorganisation anzugehören. Tatsächlich gilt eher: Auch weil es die alte freie Welt versäumt hat, aktiv den Befreiungsprozess dieser Länder zu befördern, sie als gleichberechtigt anzuerkennen und so Vertrauen in den „Westen“ zu schaffen, hat sie weltweit das antiwestliche Ressentiment entfacht und bekräftigt.

Kwame Nkrumah, der die britische Kronkolonie Goldküste 1957 in die Unabhängigkeit geführt und in Ghana umbenannt hatte, trat im September 1960 in der UN-Vollversammlung auf. Er nutzte das für sein Land neue Gremium, um die Vereinten Nationen zum internationalen Forum für Dekolonisierung zu erklären und zu fordern, dass sie den Kampf gegen den Imperialismus anführen sollten.

Wie der Westen mit Lumumba umging 

Nur zwei Monate vor Nkrumahs Rede wurde die belgische Kolonie Kongo unabhängig. Während der Feierstunde in Kin­shasa, das damals nach einem ehemaligen belgischen König noch Léopoldville hieß, hielt Patrice Lumumba, 35 Jahre alt und strahlender Held der Unabhängigkeitsbewegung, spontan eine das heimische Publikum begeisternde Rede, durch die sich der anwesende belgische König brüskiert fühlte. Lumumba erinnerte daran, dass Belgien die Kolonie nicht freiwillig abgegeben hatte, dass die Unabhängigkeit erkämpft werden musste und die belgischen Kolonisten das Volk ausgebeutet, dass sie es gewaltsam unterdrückt hatten. Die optimistische Rede strahlt noch heute: „Zusammen, meine Brüder und Schwestern, werden wir einen neuen Kampf beginnen, einen erhabenen Kampf, der unser Land zu Frieden, Wohlstand und Größe führen wird.“ Doch daraus wurde nichts.

Lumumba, ein Autodidakt, erregte den Zorn Belgiens und der USA, weil er die reichen Bodenschätze des Landes zur Entwicklung des neuen Staates nutzen wollte. Da ihm die westlichen Staaten dabei jeden nur denkbaren Stein in den Weg legten, wandte er sich in seiner Not an die Sowjetunion – eines der zahlreichen Beispiele dafür, dass die Linksorientierung mancher unabhängig gewordener Staaten nicht frei gewählt, sondern eine Reaktion auf die mangelnde Bereitschaft westlicher Staaten war, den neuen Staaten mehr als die formelle Unabhängigkeit zuzugestehen. Mit seiner Entschlossenheit, dass es allein die Kongolesen sein sollten, die über den Kongo und seine Bodenschätze bestimmen dürfen, hatte Lumumba sein Todesurteil unterschrieben. Der amerikanische Botschafter in Belgien schrieb: „Unser oberstes Ziel muss es sein, die Lumumba-Regierung, wie sie jetzt existiert, zu zerstören.“ Und Präsident Eisenhower sagte in einem protokollierten Gespräch, er wünsche sich, „Lumumba würde in einen Fluss voller Krokodile fallen“. Wenig später setzten Rebellen, die von Belgien und den USA unterstützt wurden, Lumumba ab, entführten und folterten ihn. Im Januar 1961 wurde Lumumba von Soldaten aus der abtrünnigen Provinz Katanga, die unter belgischem Kommando standen, erschossen. Die Mörder zerstückelten seinen Leichnam und lösten ihn in Schwefelsäure auf, die eine belgische Minengesellschaft bereitgestellt hatte. Keiner der an der Mordaktion Beteiligten wurde je gerichtlich belangt. Im Gegenteil: Einer von ihnen, Étienne Davignon, machte unbehelligt Karriere. Von 1977 an war er Mitglied der Europäischen Kommission, vier Jahre lang deren Vizepräsident und bis 2020 Ko-Vorsitzender von „Brussels Airlines“. Ein kolonialistischer Mörder konnte zu einem hohen Repräsentanten des großen Friedensprojekts Europäische Union aufsteigen.

Nur eine Episode, gewiss. Aber eine bezeichnende. Und nur eines von vielen Beispielen dafür, dass es den Staaten der freien Welt oft genug zumindest auch um wirtschaftliche Interessen und geopolitische Ambitionen ging, wenn sie in den Staaten der „Dritten Welt“ intervenierten. Sie richteten damit – siehe Afrika, siehe Lateinamerika – viel Unheil an. Deswegen kann auch der russische Angriff auf die Ukraine kein Anlass sein, „unsere Werte“ als den Stein der Weisen zu preisen und zu propagieren. Angesichts der furchtbaren russischen Herausforderung sind vielmehr neue Bündnisse, neue Allianzen nötig. Um nur einige zu nennen: Staaten wie Kanada, Australien, Taiwan, Südkorea, Japan, Indonesien, Namibia, Ghana oder Chile verdienen eine entschieden größere politische und diplomatische Aufmerksamkeit als bisher. Freilich nicht in dem Sinne, dass sie an die Kernstaaten der freien Welt einfach nur angedockt würden. Die neue freie Welt, die auf der internationalen Tagesordnung stehen sollte, kann nicht die Verallgemeinerung der alten freien Welt sein. Sie müsste etwas Neues werden.

Neue Chance für den Multilateralismus?

Schon zwei Mal, 1918 und 1945, war es das Ende eines großen Krieges, der dazu zwang, eine neue Weltordnung in Angriff zu nehmen. Der russische Angriff auf die Ukraine, der die kriegsentwöhnten Staaten entsetzt und aufgeschreckt hat, könnte Anlass sein, erneut politisch, diplomatisch und wirtschaftlich groß zu denken. Und er könnte der durch Russlands brüske Absage beschädigten und in Misskredit gebrachten Idee des Multilateralismus eine neue Chance geben.

Selbstverständlich ist das nicht. Lucio Caracciolo, seit drei Jahrzehnten Herausgeber der italienischen geopolitischen Zeitschrift Limes, hat seinem kürzlich erschienenen neuen Buch den barschen Titel „La pace è finita“ (Der Frieden ist zu Ende) gegeben. Es beginnt mit dem apodiktischen, auf Francis Fukuyama Bezug nehmenden Satz: „Am 24. Februar 2022 hat das Ende der Geschichte endgültig sein Ende gefunden.“ In leicht triumphierendem Ton legt Caracciolo dar, nun sei Schluss mit allen hochtrabenden Ambitionen, eine aufs Völkerrecht gegründete Weltordnung zu schaffen, in der alle Staaten gleiche Rechte haben. Er prognostiziert vielmehr die Rückkehr einer unverbrämten alten Geopolitik, in der am Ende vor allem die Waffenarsenale zählen. Die Gefahr besteht in der Tat. Gerade deswegen wäre es einen Versuch wert, diese Rückkehr in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts zu verhindern.

Gefestigte Demokratien haben eine Schwäche: Sie ­kennen nur den Frieden, sie denken nur vertraglich. Der britische Geograf Halford Mackinder, gewissermaßen der Erfinder der Geopolitik, hatte zwar Sympathie für den Idealismus, der jeder Demokratie eigen ist, sah darin aber auch eine Schwäche. Als die Siegermächte 1919 ­daran gingen, eine neue Weltordnung zu entwerfen, schrieb er ein warnendes Buch über Ideal und Wirklichkeit der ­Demokratie. Darin steht: „Solange sie nicht gezwungen ist, sich zu verteidigen, weigert sich die Demokratie, strategisch zu denken.“ Demokraten denken selten vom Ernstfall her.

Jetzt aber sind wir gezwungen, strategisch zu denken und zu handeln. Das scheint den politisch Verantwortlichen des antirussischen Bündnisses zumindest zu dämmern. Dabei geht es freilich um weit mehr als um Waffenhilfe für die Ukraine und allgemein um Wehrhaftigkeit. Sondern um ein ebenso entschiedenes wie vorsichtiges Bemühen, möglichst viele Staaten für ein Bündnis zu gewinnen, das sich nicht in allgemeinen humanitären Deklarationen erschöpft, die leicht zu hoch greifen. Der US-amerikanische Diplomat und Politiker Daniel P. Moynihan hat 1975 dafür plädiert, der Instrumentalisierung der Vereinten Nationen durch antiwestlich orientierte Staaten nicht länger tatenlos zuzusehen, sondern darauf mit einer Politik des „liberalen Internationalismus“ zu antworten. Diese könnte heute wieder aktuell werden. Und attraktiv, wenn es ihr gelingt, eine kluge Menschenrechtspolitik mit dem konsequenten Verfolg des Freihandels zu verbinden.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, März/April 2023, S. 100-105

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Thomas Schmid ist Journalist, Autor und Publizist; er war Herausgeber der Tageszeitung Die Welt.

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