Buchkritik

27. Febr. 2023

Gradwanderung: Eine klimapolitische Sammelrezension

Die Erderwärmung schreitet voran, und das gefährdet die Lebensgrundlagen nicht nur des Menschen in wachsendem Maß. Vier Neuerscheinungen mit Ideen zur Rettung des Planeten.

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Bild: Illustration eines Buches auf einem Seziertisch
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Ist nicht eigentlich schon alles gesagt? Beschrieben, beredet, zerredet? Die Frage drängt sich auf, wenn man eines der zahl­losen Bücher zum Klimawandel in die Hand nimmt, die gefühlt täglich auf den Markt kommen. Wissen wir nicht längst, dass wir gerade mit Vollgas unsere Lebensgrundlagen auf diesem Planeten gegen die Wand fahren?

An der Un- oder Scheintätigkeit der Entscheidungsträger dieser elt hat sich nichts geändert. Genauso wenig wie am Konsumverhalten der meisten Bewohner der nördlichen Hemisphäre.

„Wir denken schlau und handeln blöd“, heißt es in Dirk Steffens „Projekt Zukunft“. Das Buch versammelt zehn Interviews, die der Journalist mit Wissenschaftlern aus verschiedenen Disziplinen zum Zustand des Planeten geführt hat. Alle Beteiligten waren dabei offenbar bemüht, Optimismus zu verbreiten.

Etwa der Ozean- und Klimaforscher Mojib Latif. Zwar mahnt der Weltklimarat IPCC, schon in den 2030er Jahren könnte die Grenze von 1,5 Grad Erderwärmung, zu der sich 197 Staaten 2015 in Paris bekannt haben, überschritten werden. Doch Latif glaubt, diese Grenze sei durchaus noch einzuhalten. Wenn die Menschheit ab sofort keine Treibhausgase mehr ausstieße, dann verschwänden diese nicht auf einmal. Sie würden der Atmosphäre aber durch die natürlichen Kohlenstoffsenken der Erde – Meere, Moore, Wälder – nach und nach entzogen werden. Wie aber ein solcher Sofortstopp aller Emissionen zu bewerkstelligen sei, erklärt Latif nicht. Er verweist lediglich auf die üblichen politischen Maßnahmen wie CO2-Bepreisung oder den Abbau klimaschädlicher Subventionen. Und wenn das Ziel nicht eingehalten wird? Dann sollten die Industrieländer den ärmeren Staaten finanziell und technologisch bei der Klimaanpassung helfen, so Latif. Das klingt, als wäre ein Fortschreiten des Klimawandels zwar schlimm, aber irgendwie zu managen.

 

Das große Massenaussterben

Der Hauptvorzug des Buches besteht darin, dass es in allgemein verständlicher Sprache klar macht: Die Erderwärmung ist nicht unser einziges Problem. Die Katastrophe, die sich anbahnt, teils schon stattfindet, ist divers: von der Zerstörung des Ökosystems Meer über die Zerstörung der Böden und das Artensterben bis zum Schwinden unserer Nahrungsquellen.

Besonders eindrücklich geißelt der Evolutionsbiologe Mat­thias­ Glaubrecht die Fokussierung von Politik und Öffentlichkeit auf den Klimawandel. Beinahe unbeachtet finde unterdessen ein Massenaussterben statt, erklärt er. 150 Arten verschwänden nach Schätzungen jeden Tag, weil wirtschaftliche Tätigkeiten aller Art das Gleichgewicht der Natur ins Schwanken brächten. Doch weil in der Natur eben alles mit allem zusammenhänge, sei auch unser Überleben an die Vielfalt der Arten gekoppelt. Glaubrecht fordert, dass mindestens 30 Prozent, besser 50 Prozent der Erde unter Naturschutz gestellt werden.

Auch Tiefsee- und Polarforscherin Antje Boetius will Schutzgebiete einrichten – in den Meeren. Schließlich decke ungefähr die Hälfte der Menschheit den eigenen Eiweißbedarf mit Fisch. Aber durch Plastikvermüllung der Ozeane, Überfischung, Überdüngung, wärmere Temperaturen und Versauerung habe sich „die Produktivität der Meere so verändert, dass wir für die Deckung unseres Nahrungsbedarfs über 50 Prozent Aquakultur brauchen“.

Zusammen mit der Agrarwissenschaftlerin und Geografin Andrea Beste nimmt Steffens unsere Hauptnahrungsquelle unter die Lupe: den Boden. Was diesen fruchtbar mache, sei eine nur 20 bis 30 Zentimeter dünne Humusschicht, in der winzige Bodenorganismen lebten. Sie zersetzten abgestorbene Pflanzen, Tiere und Pilze und verwandelten sie in Nährstoffe, mit denen sie auch Nutzpflanzen versorgen. Darüber hinaus klärten sie das Trinkwasser. Sei die Humusschicht einmal weg, brauche die Natur 15 000 Jahre, um einen einzigen Meter davon wieder zu bilden.

Dessen ungeachtet zerstört der Mensch laut UN etwa alle fünf Sekunden das Äquivalent eines Fußballfelds: zehn Millionen Hektar pro Jahr. Versiegelung und Verdichtung, der Einsatz von Pestiziden und Kunstdüngern, falsche Bewässerung, Monokulturen, Entwaldung und Erosion hätten zur Degradation eines Drittels der Landfläche der Erde geführt, so Beste: Der Boden verfüge nicht mehr über die Qualität, die eine gute Ernte sichere. Laut einer Studie der UN-Landwirtschaftsorganisation FAO werde der Erdboden in 60 Jahren nichts mehr hergeben. Dabei wäre es so einfach, das Unheil abzuwenden: Man müsse nur die genannten Tätigkeiten einstellen, so Andrea Beste, dafür sorgen, dass im Boden immer Wurzeln liegen, und auf nachhaltige Landwirtschaft umsteigen. Auf Permakultur etwa: In den Tropen sorge sie bereits für höhere Ernten als die konventionelle Landwirtschaft.



Blick in die drohende Heißzeit

Setzt Dirk Steffens „Projekt Zukunft“ auf Komplexitätsreduk­tion, so ist der von Klaus Wiegandt herausgegebene Band „3 Grad mehr“ eine wissenschaftlich fundierte, fakten- und datenreiche Aufsatzsammlung, die man getrost als Standardwerk empfehlen kann. Akribisch beschreiben die Autoren die physikalischen und biologischen Folgen der Erderwärmung und zeigen auf, welche Naturprozesse uns helfen könnten, den Klimawandel aufzuhalten.

So schildert der Klimaforscher Stefan Rahmstorf, wie eine im Vergleich zur vorindustriellen Epoche um 3 Grad wärmere Welt aussehen würde. Erstens sei fraglich, ob die Menschen die Hitze überstehen würden. In Landgebieten, die sich stärker erwärmen als Ozeane, würde eine durchschnittliche Temperaturzunahme um 3 Grad 6 Grad mehr bedeuten. Der menschliche Körper könne seine Temperatur aber nur bis zu einer bestimmten Belastungsgrenze regulieren.

Durch Rückgriff auf erdgeschichtliche Daten erklärt Rahmstorf, warum der Meeresspiegel so ansteigen würde, dass 130 Millionenstädte und 200 Kernkraftwerke im Meer versänken. Die Kipppunkte im Klimasystem wie das Schmelzen des Eispanzers auf Grönland und des Westatlantischen Eisschildes, das Abreißen des Golfstromsystems, das Auftauen der Perma­frostgebiete und das Absterben des Amazonas-Regenwalds könnten sich gegenseitig so verstärken, dass eine immer stärkere Erderwärmung unaufhaltbarer Selbstläufer werde.

Jedoch: Die Apokalypse ist kein Schicksal. Auch die Autoren von „3 Grad mehr“ glauben, dass das Ruder sich noch herumreißen lässt – nicht nur durch den Stopp von CO2-Emissionen, sondern auch durch die Stärkung unserer natürlichen Verbündeten im Kampf gegen den Klimawandel, als da wären: Wälder, Ozeane und Moore. Durch die Photosynthese führten erstere der Atmosphäre Sauerstoff zu und entzögen Kohlendioxid, die sie in Biomasse, sprich: Holz, verwandelten. Im Holz der Wälder würden so große Mengen an CO2 gelagert, die wiederum in die Atmosphäre zurück gelangten, wenn Holz verrotte oder verbrenne. Auf die gleiche Art absorbierten einzellige Algen in den Ozeanen Kohlendioxid. „Aktuell bindet der Wald zusammen mit den anderen Landökosystemen 31 Prozent der anthropogenen CO2-Emissionen“, schreibt Reinhard Mosandl, „die Ozeane absorbieren zusätzlich 23 Prozent.“

Die Kohlendioxidbelastung der Atmosphäre lasse sich also auch dadurch verringern, dass man die Wälder durch Auf- und Wiederaufforstung ausweite und die Lebensdauer des Holzes verlängere. Denn dieses, so die Autoren, diene als Kohlenstoffspeicher nur, wenn es erhalten bleibe. Deshalb gelte es, Entwaldung zu verhindern und die Forstwirtschaft anzuhalten, Qualitätsholz für Möbel oder Anwendungen am Bau zu produzieren. Der Klimaforscher Hans Joachim Schellnhuber schlägt vor, den Bausektor so weit wie möglich auf Holzbau umzustellen. Dadurch könnte man auf energieintensive Baumaterialien wie Stahl und Beton verzichten und dauerhaft Kohlenstoff in Bauwerken speichern.

Kohlenstoffsenken sind an sich auch die Moore. In ihnen werden abgestorbene Pflanzen wegen des Wassergehalts im Boden langsamer abgebaut als neue Pflanzen produziert werden. Im Torf, der sich durch die Ablagerung von mehr oder weniger zersetzten Pflanzenresten bildet, liegen enorme Mengen Kohlenstoff gebunden. Auf diese Art kühlen natürliche Moore das Klima. Werden sie hingegen entwässert, heißt es in „3 Grad mehr“, so oxidiere das organische Material des Torfes und entweiche als Kohlendioxid und Lachgas in die Atmosphäre. Entwässerte, degradierte Moore – die etwa als Ackerböden u.a. zur Herstellung von Biogas genutzt werden – seien starke Treibhausgasemittenten. Es verstehe sich also von selbst, dass degradierte Moore wieder bewässert werden müssten.



„Erdregeln“ und grüne Gier

Ebenso offensichtlich ist, dass die meisten der in „3 Grad mehr“ vorgeschlagenen Maßnahmen mit wirtschaftlichen Interessen kollidieren, weshalb ihre Umsetzung politischen Druck voraussetzt. Klimaschutzaktivisten und ihren Mitstreitern weltweit möchte Donald Jacob ein Werkzeug an die Hand geben, das weltweit einsetzbar wäre: eine „Verfassung für die Erde“, wie sein 95 Seiten schmales Büchlein betitelt ist. Auf Grundlage dieser Verfassung müssten „Erdregeln“ festgelegt werden: Ein Gesetzkatalog, der unabhängig von Staats- und Landesgrenzen für alle Menschen gelten und dem Schutz der Biosphäre als „Lebensgemeinschaft der Erde und der Natur“ dienen sollte.

Abwegig ist die Idee an sich nicht. Leider stellt sich Jacob als Verfasser oder Bewahrer der künftigen Erdverfassung einen „Rat der Erde“ vor, der mit übergeordneten Machtbefugnissen ausgestattet werden sollte, aber weder jemandem rechenschaftspflichtig wäre noch überhaupt gewählt würde. Zum Bewacher der Erdregeln würde Jacob eine ebenfalls übergeordnete, unabhängige internationale Schutztruppe installieren: eine Armee, die die Regeln durchsetzt und Fehlverhalten ahndet.

Genau besehen skizziert Jacob damit die Dystopie einer Ökodiktatur. Da ist es fast ein Glück, dass seine „Verfassung für die Erde“ genauso unstrukturiert, apodiktisch und bar jeder logischen Argumentation daherkommt wie ein Sammelsurium von Notizen, die jemand in einen Block gekritzelt hat. Unwahrscheinlich, dass jemand das Büchlein als Handlungsanweisung ernst nimmt.

Von anderem Gewicht ist die ebenfalls im Oekom-Verlag erschienene Streitschrift „Grüne Gier“ von Wigbert Tocha. Der Sozialphilosoph wendet sich zunächst gegen die Vorstellung, wir befänden uns nur in einer „Klimakrise“ – nicht etwa in einer gesamtökologischen Krise –, und diese wäre allein durch den Umstieg auf erneuerbare Energien zu bewältigen. Wenn die erneuerbaren Energien dazu dienen sollten, weiter unendliches Wirtschaftswachstum zu generieren, dann werde das Problem nur verlagert – auf den Verbrauch stofflicher Ressourcen, vor allem auf die für den Bau der neuen Technologie notwendigen Mineralien wie Li­thium, Kobalt oder seltene Erden. Zudem trügen Windräder und Fotovoltaikanlagen zum Verlust von Lebensräumen und Artenvielfalt bei; ihr exponentieller Ausbau würde zu einer Biodiversitäts­katastrophe führen.

Tochas Kritik an der Green Economy ist grundsätzlich. Diese teile mit dem alten, auf fossilen Brennstoffen gründenden Kapitalismus das technizistische Muster der Weltaneignung: das ungetrübte Vertrauen in die Technik und die Idee, dass alles technisch Mögliche auch getan werden müsse. Nach wie vor gehe es um Wachstum, Expansion, Absatzmärkte, Kapitalakkumulation.

Mit dem Erhalt der Ökosysteme sei der alte oder grüne Kapitalismus aber nicht kompatibel. Schon im Bericht des Club of Rome „Die Grenzen des Wachstums“ sei 1972 davor gewarnt worden, dass unendliches Wachstum in einer endlichen Welt unmöglich sei. Statt Wachstum fordert Tocha Reduktion. Er plädiert für eine „Ökonomie des Genug“, für eine „Bedarfsökonomie“ oder auch, mit einem alten Begriff, eine „Postwachstum-Ökonomie“, in der nur das Notwendige an materiellen Gütern produziert wird – das, was es braucht, um allen ein auskömmliches Leben zu garantieren. Diese Ökonomie werde gerecht sein, oder sie werde nicht sein, schreibt er.

Was Wigbert Tocha in „Grüne Gier“ umreißt, ist letztlich der komplette Umbau unseres Wirtschaftssystems. Sowohl die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen als auch die Ausbeutung der Natur hätten in der „Ökonomie des Genug“ keinen Platz mehr. Das klingt revolutionär – aber der Autor hat keine Revolution im Sinne. Er will ein Umdenken, das sich in demokratischen Entscheidungen niederschlägt.

Das ist das Utopische an seinem Zukunftsentwurf: Auf Selbstbeschränkung ist der Homo sapiens nicht geeicht. Aber was soll’s? „Die Welt steht auf kein’ Fall mehr lang“ – das schrieb ­Johann Nestroy schon 1833.

 

Dirk Steffens: Projekt Zukunft. Große Fragen, kluge Köpfe, Ideen für ein besseres Morgen. München: Penguin Verlag 2022. 272 Seiten, 20,00 Euro

Klaus Wiegandt (Hrsg.): 3 Grad mehr. Ein Blick in die drohende Heißzeit und wie uns die Natur helfen kann, sie zu verhindern. München: Oekom-Verlag 2022. 352 Seiten, 25,00 Euro

Donald Jacob: Eine Verfassung für die Erde. Wie wir die Klimakrise gemeinsam lösen können. München: Oekom-Verlag 2022. 114 Seiten, 15,00 Euro

Wigbert Tocha: Grüne Gier. Warum die Blütenträume des Öko-Kapitalismus nicht reifen. München: Oekom-Verlag 2022, 216 Seiten, 20,00 Euro

 

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, März/April 2023, S. 126-127

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Aureliana Sorrento lebt und arbeitet als freie Autorin, u.a. für Deutschlandfunk, WDR, SWR und SRF, in Wien.

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