Gemeinsam sind wir stärker: Die Chancen der deutsch-polnischen Beziehungen
Deutschlands Verhältnis zu Polen ist zentral und wird immer wichtiger. Auch wenn es nicht ohne Weiteres einsichtig ist: Die Grundlagen der Beziehungen sind solide. Polen ist nicht nur unser viert- beziehungsweise fünftgrößter Handelspartner und ein geschätzter Nachbar, mit dem uns eine lange, tragische Geschichte, aber seit 1989/90 auch eine in weiten Teilen erfolgreiche Aussöhnung zwischen den Menschen verbindet. Wir stehen als Alliierte in der NATO und Partner in der EU auf der gleichen Seite der Geschichte. Umfragen belegen, dass die Menschen einander positiver sehen, als es so mancher kritische Medienbericht nahelegt. Dennoch sind wir uns in vielerlei Hinsicht fremd geblieben. Noch immer bestimmen vielfach Klischees und Stereotypen die gegenseitige Wahrnehmung.
Unabhängig davon ist das deutsch-polnische Verhältnis auf politischer Ebene heute in seiner schwersten Krise seit der Wende 1989/90. Unter dem Eindruck des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine ist die auf friedlichen Ausgleich und Einbindung setzende deutsche Außenpolitik gleich dreifach gescheitert: in der Russland-, Ukraine- und Energiesicherheitspolitik. Wir haben den aggressiv imperialen Charakter der russischen Außenpolitik und deren Nexus zu einer immer autokratischeren Innenpolitik unterschätzt sowie die Kriege, die Russland schon vor 2022 geführt hat, durch das Prisma der wünschenswerten Fortsetzung einer vermeintlich wirtschaftlich vorteilhaften Kooperation mit Moskau betrachtet. Regierung und Gesellschaft in Polen haben uns immer wieder auf die einseitigen Abhängigkeiten der deutschen Energieimporte und eine allzu naive Sicherheitspolitik gegenüber Russland hingewiesen, die in der fatalen These gipfelte, europäische Sicherheit sei nur mit Moskau zu haben.
Im Gefolge dieses systemischen Scheiterns, das sukzessive Bundesregierungen ebenso betraf wie große Teile von Wirtschaft und Gesellschaft in Deutschland und darüber hinaus, sind ein massiver Imageschaden und ein tiefgreifender Vertrauensverlust in die deutsche Politik entstanden, die aufgearbeitet werden müssen. Die deutsche Zeitenwende hat auch in Polen hohe Erwartungen geweckt, hat sich doch die Bundesregierung in präzedenzloser Weise russlandpolitisch auf die östlichen Alliierten zubewegt. Trotz real hoher Beiträge Deutschlands zur militärischen Unterstützung der Ukraine haben jedoch Kommunikationspannen und die Wahrnehmung einer gewissen Zögerlichkeit bei der Implementierung der neuen Politik die deutsche Führungsfähigkeit in einem Teil Europas, in dem deutscher Einfluss traditionell stark war, in Mitleidenschaft gezogen.
Einfache Bekundungen, Deutschland wolle jetzt mehr außen- und sicherheitspolitische Führungsverantwortung übernehmen, werden nicht ausreichen, Misstrauen abzubauen, zumal die derzeitige polnische Regierung einer deutschen Selbstbeschränkung das Wort redet. Es wird vielmehr darauf ankommen, verloren gegangenes Vertrauen durch weitere substanzielle Beiträge zur Stärkung der europäischen Verteidigungsfähigkeit, zur Absicherung der NATO-Ostflanke sowie zur wirtschaftlichen und militärischen Unterstützung der Ukraine zurückzugewinnen.
Der Krieg vor der eigenen Haustür hat in Polen ein sehr konkretes Bedrohungsgefühl hervorgerufen. Historische Reminiszenzen an die 1930er Jahre, unter denen Polen besonders zu leiden hatte, werden wach. Die Regierung und breite Teile der Gesellschaft stimmen in seltener Einigkeit überein, dass der Krieg die Sicherheit massiv bedroht. Man fürchtet, sich im Falle eines Übergreifens des Krieges auf NATO-Territorium auf Deutschland trotz beträchtlicher Leistungen für die NATO-Ostflanke nicht voll verlassen zu können.
Ein innereuropäischer Machtkampf
Allerdings ist die massive Kritik der polnischen Regierung an Deutschland auch Ausdruck eines innereuropäischen Machtkampfs. Seit seiner Machtübernahme 2015 betrachtet das nationalkonservative Regierungslager in Warschau Berlin als den europa- und russlandpolitischen Gegenspieler, dessen Einfluss man aus innen-, europa- und außenpolitischen Gründen zurückdrängen will. Die Regierung hat entschieden, den Wahlkampf für die Parlamentswahlen Ende des Jahres mit antideutscher Rhetorik zu führen. Warschau fordert über 1,3 Billionen Euro Entschädigung für die Schäden deutscher Verbrechen im Zweiten Weltkrieg gerade jetzt, wenn westliche Geschlossenheit angesichts des Krieges am nötigsten wäre. Im Übrigen blockiert eine solche Politik auch weiter freiwillige Gesten gegenüber Polen, wie sie beispielsweise mit der Stiftung für deutsch-polnische Aussöhnung 1991, durch die Zwangsarbeiterentschädigung 2004 oder das Ghettorentenabkommen von 2014 möglich waren und weiter sind.
Warschau sieht zudem in der Kritik der europäischen Institutionen am Umbau des Rechtsstaats in Polen die lange Hand Berlins, die angeblich die konservative Revolution Jarosław Kaczyńskis aushebeln will. Deutsche Bemühungen um die Stärkung der EU-internen Kohäsion und ihrer Handlungsfähigkeit nach außen werden als Gefährdung des „Europas der Vaterländer“ Warschauer Prägung interpretiert.
Ziel der polnischen Regierung ist es, mit Unterstützung der USA und später der Ukraine in der EU und möglicherweise in der NATO zu einem eigenen Machtzentrum im östlichen Teil unseres Kontinents zu werden. In diesem „polnischen Moment“ könnte eine Chance für Polen und ganz Europa liegen.
Die euroatlantische Sicherheitsarchitektur wird sich unabhängig vom Ausgang des russischen Angriffskriegs fundamental verändern. In dem aufziehenden neuen systemischen Konflikt zwischen dem Westen und Russland, der machtpolitisch zwischen der NATO und Russland, ideologisch zwischen demokratischen und autokratischen Staaten ausgetragen wird, kann Polen durch eine starke Armee tatsächlich zum zentralen Frontstaat der NATO werden. Ob Warschau die neue Rolle aus eigener Kraft möglicherweise gegen oder ohne Berlin wird ausfüllen können, steht allerdings dahin. Entscheidend ist die Haltung der USA, die an einem Streit zwischen Berlin und Warschau kein Interesse haben. Ob dies auch für eine eventuell andere Administration nach den US-Präsidentschaftswahlen 2024 gilt, ist allerdings nicht ausgemacht.
Ob zudem eine stärkere Rolle in der NATO auch zu einem Einflussgewinn innerhalb einer geostrategischeren EU führen wird, steht ebenso dahin. Hierfür sind wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, Soft Power in alle Richtungen und die Fähigkeit, handlungsfähige Koalitionen in Brüssel nicht nur zum östlichen Vorfeld zu bilden, von Bedeutung. Während Polen im Blick auf die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit in den vergangenen Jahren bemerkenswerte Fortschritte erzielt hat, hapert es bei den anderen Fähigkeiten noch, obwohl Warschau durch seine bewundernswerte Aufnahme ukrainischer Flüchtlinge Zeichen gesetzt hat.
Die Handlungsfähigkeit der neuen EU nach innen und außen steht auf dem Spiel. Die große Chance liegt jetzt darin, dass Deutschland, Polen und Frankreich gemeinsam auf eine Stärkung der EU und ihres östlichen Vorfelds hinarbeiten. Die Rahmenbedingungen für ein solches Unterfangen sind angesichts der präzedenzlosen deutschen Bewegung hin auf Polen günstiger denn je. Das Weimarer Dreieck – gegebenenfalls ergänzt um Kiew, sofern dort Themen besprochen werden, die die Ukraine betreffen – böte sich als Format an. Gemeinsam sind wir stärker.
Internationale Politik 2, März/April 2023, S. 112-113