Weltspiegel

Was das geopolitische Europa bedeutet

Das Konzept einer „geopolitischen EU“ ist keine Theorie, sondern eine realistischere Sicht der Welt, die Ergebnisse zeitigt.

Eine Replik auf Hans Kundnani: Unter der Überschrift „Europas geopolitische Verwirrung“ wies Kundnani, Associate Fellow des Europa-Programms von Chatham House, darauf hin, dass die EU und ihre Vertreter den Begriff „geopolitisch“ in schillernder Weise verwenden. Wenn damit klassische Machtpolitik gemeint sei, so Kundnani, laufe dies dem Anspruch der EU zuwider, Macht durch Regeln ersetzen zu wollen.

Als Universitätsprofessor verstehe ich den Wunsch, die Bedeutung zu hinterfragen, die politische Akteure ihren Ideen verleihen. Das gilt auch für das Konzept eines „geopolitischen Europas“, und genau das hat Hans Kundnani auf sehr prägnante Art mit seinem Artikel „Europas geopolitische Verwirrung“ versucht.

Seine Schlussfolgerung lautet, dass das Konzept schwammig und nicht klar definiert worde sei. Ich möchte diese Schlussfolgerung, mit der ich ganz und gar nicht übereinstimme, infrage stellen.



Ja, das Konzept eines „geopolitischen Europas“ (GE) ist mit Sicherheit keine Theorie. Dennoch beinhaltet es eine Reihe von Annahmen, die seit 2020 das Denken und Handeln der Europäischen Union auf dramatische Weise beeinflussen. Daher möchte ich kurz definieren, was GE bedeutet und welche Folgen es hat.



Eine Weltanschauung

Vor allem ist GE eine Weltanschauung – eine, die mit der klassischen interdependenten und liberalen Weltsicht bricht, auf der die EU ihre Politiken begründet hat. Wir haben uns in sehr naiver Weise vorgestellt, dass eine wachsende gegenseitige Abhängigkeit im Energiebereich Russland weniger aggressiv machen würde. Das war ein schrecklicher Irrtum, den wir nun in unglaublicher Geschwindigkeit und sehr effektiv berichtigen. Zu Beginn des Ukraine-Krieges betrug die deutsche Abhängigkeit von russischen Energieimporten 55 Prozent bei Gas, 50 Prozent bei Öl und 30 Prozent bei Kohle. Im Jahr 2023 werden diese Zahlen bei 0 Prozent liegen: bei Gas, bei Öl und bei Kohle, und all das ohne wirtschaftliche Krise. Was für eine Leistung!

Die Verringerung der EU-Abhängigkeit von einem Land, das ihr schaden kann, ist ein konkreter Erfolg des geopolitischen Europas. Leider erwähnt Hans Kundnani an keiner Stelle dieses Beispiel oder irgendein anderes, vermutlich, weil er sich mehr für Konzepte an sich interessiert und nicht für ihre Effektivität. Für einen politischen Akteur ist das unmöglich. Konzepte sind in dem Maße wichtig, wie sie in Politiken übersetzt werden. Ansonsten bleiben sie abstrakt und auf die akademische Sphäre beschränkt. Was in Ordnung geht, aber frustrierend ist.



GE bedeutet nicht, die Werte der EU aufzugeben. Es bedeutet, die allzu optimistischen Annahmen zu korrigieren, die sie aus diesen Werten zog, und zugleich die Risiken neu zu bewerten, die mit wirtschaftlicher Interdependenz einhergehen. Europa hat erkannt, dass Interdependenz als Waffe für politische Zwecke instrumentalisiert werden kann und dass sie nicht notwendigerweise zu einer liberalen Transformation der politischen Systeme auf dieser Welt führen wird. Kurz gesagt: In der Weltsicht der EU hat sich ein radikales Umdenken vollzogen.



Eine realistische Einschätzung

In gewisser Weise kann GE als realistische Einschätzung des internationalen Systems definiert werden. Das beinhaltet eine größere Akzeptanz des konfliktreichen Charakters des Weltsystems, den Willen zur Verringerung der eigenen Verletzlichkeit, weniger Vertrauen in die Fähigkeit wirtschaftlicher Interdependenz zur Befriedung der internationalen Beziehungen und die Bereitschaft zur politischen Konfrontation, wenn unsere Interessen auf dem Spiel stehen.



Das geopolitische Europa misst der Rückkehr des traditionellen Wettbewerbs zwischen Staaten als zentraler Antriebskraft des internationalen Wettbewerbs ein größeres Gewicht bei. Anders als Hans Kundnani nahelegt, verleugnet die EU aber keineswegs ihr kantianisches und liberales Erbe. Sie ist überzeugt, dass die friedliche Lösung von Konflikten die angemessenste Art bleibt, internationale Beziehungen zu regeln. Sie glaubt auch, dass die Kraft der Norm gegenüber der Norm der Gewalt zu bevorzugen ist.



Europa muss sich allerdings auf Situationen vorbereiten, in denen seine Partner oder Feinde diese Sichtweise nicht teilen und Gewalt einsetzen, statt sich auf anerkannte Normen zu berufen. Das ist der Grund, warum wir erstmals die Europäische Friedensfazilität eingesetzt haben, um ein Land im Krieg zu unterstützen. Die Friedensfazilität wird auch die Ausbildung der ukrainischen Soldaten für den Krieg ermöglichen. Die EU-Militärmission wurde innerhalb von zwei Monaten eingerichtet, während es bis zum Start einer EU-Ausbildungsmission normalerweise mindestens ein Jahr braucht.

Die EU leistet der Ukraine in sehr erheblichem Umfang Militärhilfe. In weniger als einem Jahr hat sie sich auf etwa acht Milliarden Euro addiert. Auch wenn das nur etwa 45 Prozent des militärischen Engagements der Vereinigten Staaten sind, ist das keine zu vernachlässigende Summe. Im Verhältnis zu ihrem jeweiligen Bruttoinlandsprodukt sind die Beiträge der EU und der USA praktisch gleich. Rechnet man noch die wirtschaftliche und finanzielle Hilfe für die Ukraine dazu, steht die EU an der Spitze.



Alles in allem handelt es sich bei GE nicht nur um einen Diskurs oder um Veränderungen der Wahrnehmung, sondern um eine Reihe von konkreten Schritten, die gemeinsam unternommen werden, auch in dem sehr sensiblen Bereich der Militärhilfe. Russlands Krieg gegen die Ukraine ist dabei, die EU in einen glaubwürdigen globalen Akteur zu verwandeln, der sich mit Fragen von Krieg und Frieden befasst und nicht nur mit Handels- und Regulierungsfragen. Letztere Themen bleiben für die EU lebenswichtig. Aber wir haben die geostrategische Dimension hinzugefügt, deren Fehlen bisher unseren Einfluss und unsere Glaubwürdigkeit geschmälert hat.



Die EU hat sich endlich eingestanden, dass Soft Power heute nicht ausreicht, um ihre Interessen und Werte in der Welt zu verteidigen. Natürlich ist das Konzept von weicher und harter Macht zweischneidig. Aber wenn wir uns auf Joseph Nyes ursprüngliche Definition berufen – nach der sich weiche Macht auf Überzeugungsarbeit und harte Macht auf Zwang bezieht, und zwar nicht nur auf militärischen Zwang, wie allgemein angenommen wird – dann passt sie sehr gut zu GE.



Was die EU seit Beginn des Krieges gegen die Ukraine in Bezug auf Russland getan hat, lässt sich eben genau als weitreichender Einsatz harter Macht beschreiben. Natürlich ist dies nicht das erste Mal, dass die EU Sanktionen als Waffe einsetzt. Aber noch nie wurden so weitreichende Sanktionen gegen ein so großes Land verhängt.



So hat beispielsweise das Einfrieren der Vermögenswerte der russischen Zentralbank die Wirtschaftspolitik des Landes geschwächt, weil Russland die riesigen Devisenreserven nicht mehr verwenden kann, die es gesammelt hatte, um sich vor möglichen Sanktionen zu schützen. 300 Milliarden Dollar befanden sich in westlichen Ländern und wurden eingefroren, der größte Teil davon in der EU. Aber auch die verbleibenden 300 Milliarden Dollar, die in Russland gehalten werden, sind in Wirklichkeit nicht nutzbar, weil ein großer Teil davon aus Goldreserven besteht, die Russland nur gegen US-Dollar verkaufen kann.



Indem die EU auf diese Weise mit Russland umgeht, akzeptiert sie es, Risiken einzugehen. Risiken einzugehen bedeutet, eine mögliche Konfrontation mit dem von ihr sanktionierten Staat in Kauf zu nehmen. Auch das gehört zum geopolitischen Europa. Allerdings bleibt noch viel zu tun. Zuallererst gilt es, unsere politische Einheit zu wahren, bis die Ukraine den Sieg davongetragen hat. Mit Sieg meinen wir, dass das Land die volle Souveränität über sein Staatsgebiet zurückerlangt. Und das wird nicht einfach werden.



Russlands Krieg wird nicht dazu führen, dass Europa wie von Zauberhand all seine strategischen Fragen beantwortet. Aber er zwingt uns, über unsere Beziehungen neu nachzudenken: über diejenigen zu den USA – unserem besten Verbündeten, der aber in Zukunft andere Prioritäten haben mag; zu Russland – das unser Gegner bleiben wird, solange es seine imperiale Identität nicht ablegt, aber auch unser Nachbar ist; zu China – dessen Aufstieg sich fortsetzen wird und dem gegenüber wir uns offen ebenso wie anspruchsvoll zeigen sollten; und schließlich zum Globalen Süden. Jenseits ihrer Heterogenität und innerer Gegensätze haben die Länder der südlichen Erdhalbkugel mit Blick auf den Krieg gegen die Ukraine deutlich gemacht, dass sie eine eigene Rolle zwischen dem Westen und Russland und auch zwischen den USA und China spielen wollen.



Ein GE ist heute keine Option mehr, sondern eine Voraussetzung für Europas Überleben.





Aus dem Englischen von Bettina Vestring

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, März/April 2023, S. 80-82

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Zaki Laïdi, Politikprofessor an der Sciences Po, ist derzeit als Berater von Josep Borrell tätig, dem EU-Außenbeauftragten und Vizepräsidenten der Europäischen Kommission. Der Autor gibt seine persönliche Meinung wieder.

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