Weltspiegel

24. Febr. 2023

Ohne europäische Dimension?

In Paris gewinnt die Ansicht an Boden, dass die Zeitenwende für Europas Sicherheit nicht viel bewirkt. Vor allem hat sie den deutsch- französischen Motor nicht in Schwung gebracht, im Gegenteil.

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French President Emmanuel Macron and German Chancellor Olaf Scholz pose for pictures with Bruno Fichefeux, head of the Future Combat Air System (FCAS) programme at Airbus Defence and Space, as they attend the presentation of Franco-German industrial projects as part of a Franco-German joint cabinet meeting at the Elysee Palace in Paris, France January 22, 2023.
Die französische Politik kombiniert Initiativen mit einer europäischen Dimension, bei der Zeitenwende fehlt sie: Scholz und Macron vor einem Modell des Future Combat Air Systems mit FCAS-Chef Bruno Fichefeux.
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Als Bundeskanzler Olaf Scholz am 27. Februar 2022 im Bundestag seine berühmte Zeitenwende-Rede hielt, galt dies als Wendepunkt in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik. Endlich schien der Moment gekommen, an dem sich Deutschland mit dem radikal veränderten Sicherheitsumfeld auseinandersetzen würde.

Es würde strategischer agieren und sich in einer Welt der „Fleischfresser“ nicht länge als „Pflanzenfresser“ verhalten. Die Rede enthielt nicht nur die zentrale Erkenntnis, dass wichtige Prinzipien der deutschen Außenpolitik von Grund auf neu durchdacht werden mussten, sondern kündigte auch eine neue Rüstungsexportpolitik und einen 100-Milliarden-­Euro-Fonds an, durch den Deutschland militärische Lücken schließen und sich dem 2-Prozent-Ziel der NATO annähern würde. Dies wurde als das konkreteste Anzeichen einer radikalen Transformation der deutschen Sicherheitspolitik angesehen.



Auf diesen Augenblick hatten Deutschlands Partner, nicht zuletzt Frankreich, lange gewartet. Mehr als ein Jahrzehnt lang hatte sich die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik von zentralen geopolitischen Ereignissen – von der Annexion der Krim bis zu den großen Terroranschlägen auf europäischem Boden – weitgehend unbeeinflusst gezeigt. Bei Deutschlands Verbündeten und Freunden führte dies zu Frustration. Deutschland zögerte, sein Engagement bei Nord Stream 2 zu überdenken, und klammerte sich an die Hoffnung, an einem für beide Seiten profitablen Verhältnis zu Wladimir Putins Russland festhalten zu können.



Deutschland wurde häufig als trittbrettfahrender Verbündeter beschrieben und auch überzeichnet: ein Land, das sich weigerte, seiner Verantwortung im geopolitischen Raum nachzukommen; eine Exportnation, die sich auf Handel konzentrierte und die Realitäten des verschlechterten Sicherheitsumfelds ignorierte. Natürlich war diese in Paris weit verbreitete Kritik in gewissem Maße ungerecht. Deutschland hatte sich durch sein militärisches Engagement in Afghanistan und in Afrika, durch bescheidene Erhöhungen der Verteidigungsausgaben und das allmähliche Umdenken in der Russland-Politik stärker bewegt als das vielerorts anerkannt wurde. Aber die Frustra­tion über die strategische Haltung Berlins blieb in Washington, London, Warschau und Paris Teil der Debatte.



Dies erklärt die anfängliche Begeisterung, die mittlerweile bei Deutschlands engsten Partnern, allen voran Paris, in Enttäuschung und Unmut umgeschlagen ist. In den französischen Zeitungen, die den ersten Jahrestag des Amtsantritts von Bundeskanzler Scholz würdigten, fiel die Bewertung durchwachsen aus. Le Monde schrieb von „der unvollständigen Häutung von Kanzler Olaf Scholz“, während Le Figaro auf „Scholz’ mühseliges erstes Jahr“ verwies. Dies entspricht der in der französischen Politik verbreiteten Kritik: Die Zeitenwende, die eine einzigartige Gelegenheit zur Annäherung der französischen und der deutschen Sichtweise hätte sein können, hat offenbar das genaue Gegenteil bewirkt. Sie hat zu einer neuen Skepsis geführt, die mutmaßlich dem derzeitigen Tiefpunkt in den deutsch-französischen Beziehungen entspricht.



Ist der Sinneswandel echt?

Die Zeitenwende-Rede kündigte nicht nur eine Kehrtwende in der Russland-Politik an. Auch die Entscheidung zu Investitionen in die Verteidigung wurde richtigerweise als Kurswechsel gesehen. Die uneingeschränkte Verpflichtung, das NATO-Ziel zu erreichen, 2 Prozent des BIP für die Verteidigung auszugeben, und die Entscheidung, einen außerordentlichen 100-Milliarden-Euro-Fonds für die Modernisierung der deutschen Streitkräfte einzurichten, waren in vielerlei Hinsicht historisch. Sie markieren einen Schlusspunkt nach drei Jahrzehnten stagnierender Verteidigungsausgaben, um die zahlreichen und wohlbekannten Herausforderungen anzugehen, vor denen die Bundeswehr steht.



Eine hervorragende Nachricht, hätte man in Frankreich meinen sollen. Endlich zeigt sich Deutschland bereit, in der Verteidigungspolitik das Richtige zu tun und sich auf diese Weise auch dem außenpolitischen Verständnis Frankreichs anzunähern, das die Bedeutung des Militärs würdigt und in angemessene Kapazitäten investiert. Aus drei Gründen wurden in Paris trotzdem rasch Zweifel und Kritik laut: anfangs aus der Sorge über ein etwaiges Ungleichgewicht in einem Politikfeld, in dem Frankreich traditionell die Führungsrolle spielt, dann aus Sorge über die Verteilung der Mittel des „Sondervermögens“, die sehr rasch auf die Beschaffung vornehmlich fertiger US-Systeme zu zielen schien, und im Laufe der Zeit schließlich aufgrund von Zweifeln, ob der deutsche Sinneswandel überhaupt echt war.



Die anfängliche Befürchtung vor allem des französischen Militärs, dass Deutschland aufgrund der Ausweitung seines Budgets die Führung in der Verteidigung übernehmen könnte, basierte auf einer rein mathematischen Überlegung: Mit 2 Prozent des BIP würde Deutschland pro Jahr 20 Milliarden Euro mehr für die Verteidigung ausgeben als Frankreich, wogegen das französische Verteidigungsbudget traditionell seit Jahrzehnten größer war als das deutsche. Dieses mögliche neue Ungleichgewicht, das sich allerdings langfristig noch bestätigen muss, löste in Paris gewisse Sorgen aus. Man fragte sich, welche Folgen es haben würde, wenn Deutschland in der Verteidigung in Europa, die traditionell eine französische Domäne ist, die Führung übernehmen würde. Diese Befürchtungen haben sich zum Teil zerstreut, seit deutlich wurde, welche Schwierigkeiten Deutschland bei der Erreichung seiner Ziele hat. Zudem hat Frankreich im Januar 2023 selbst eine deutliche Erhöhung seiner Verteidigungsausgaben angekündigt. Schließlich erinnern französische Verteidigungsexperten daran, dass ein in Verteidigungsfragen zögerliches Deutschland ein größeres Problem ist als ein in der Verteidigung führendes Deutschland.



Die zweite Linie der Kritik richtete sich auf die Verwendung des 100-Milliarden-Euro-Fonds. Dass sich Deutschland unter Zeitdruck entschied, serienmäßig produzierte Rüstungsgüter vor allem aus den USA zu beschaffen, löste in Paris große Befürchtungen aus, weil nach dortiger Wahrnehmung dadurch wichtige deutsch-französisch-europäische Initiativen untergraben werden. Die bereits vor der Zeitenwende im Juni 2021 getroffene Entscheidung, Seefernaufklärungs-Flugzeuge des Typs Boeing P-8 zu kaufen statt bis 2030 ein deutsch-französisches Flugzeug im Rahmen von MAWS (Maritime Airborne Warfare System) zu entwickeln, war ein erstes Signal für diesen Trend.



Die im März 2022 erfolgte Ankündigung, bis zu 35 Kampfflugzeuge des Typs F-35 für die „nukleare Teilhabe“ zu kaufen, um die alternde Tornado-Flotte zu ersetzen, löste weitere Befürchtungen aus. In Paris sah man diese Entscheidung als direkte Bedrohung des geplanten deutsch-französisch-spanischen Future Combat Air System (FCAS), das unter anderem der Entwicklung der nächsten Generation europäischer Kampfflugzeuge dienen soll. Die Tatsache, dass dieses Projekt nach langwierigen und schmerzhaften Verhandlungen im Winter mit der Industrie schließlich in vollem Umfang bestätigt wurde, konnte die Bedenken nur teilweise zerstreuen.



Schließlich sorgte die Tatsache, dass Bundeskanzler Scholz ohne Abstimmung im September 2022 den Startschuss für die European Sky Shield Initiative (ESSI) gab, für weitere Kritik. Die Initiative bezog sich auf die deutschen IRIS-T-, die amerikanischen Patriot- und die israelisch-amerikanischen Arrow-Systeme, während Frankreich (und Italien) aktiv für die Entwicklung eines gemeinsamen europäischen Raketenabwehrprojekts geworben hatten. Es ist kein Zufall, dass beide Länder es daraufhin ablehnten, sich der Initiative anzuschließen.



Natürlich gibt es für jede dieser Entscheidungen gute Gründe, die in erster Linie mit der vernünftigen Absicht zu tun haben, unmittelbar verfügbare Systeme zu erwerben statt in langfristige, komplexe Projekte zur Entwicklung neuer Fähigkeiten zu investieren. Trotzdem bedeutet die Häufung dieser Entscheidungen aus Pariser Sicht, dass eine Reihe von Gelegenheiten versäumt wurde, sich für die von Frankreich favorisierten europäischen Lösungen zur Schließung der Fähigkeitslücken einzusetzen.



Die Tatsache schließlich, dass sich Deutschland mit der Umsetzung seiner neuen Verpflichtung zu höheren Verteidigungsausgaben schwer tut, führt in Paris zu einer Stimmung, die sich mit „Viel Lärm um nichts“ (oder nicht viel) beschreiben lässt. Es mehren sich die Zweifel, ob die Zeitenwende für die Verteidigung überhaupt etwas bringt. Auf jeden Fall hat sie, so der Eindruck, keinen Impuls zur Erneuerung der deutsch-französischen Beziehungen bei der Verteidigung gegeben.



Der deutsch-französische Motor

Das erste Jahr der Zeitenwende birgt ein Paradox und eine verpasste Gelegenheit für die deutsch-französischen Beziehungen. Auf den ersten Blick hätte dieses Jahr Berlin und Paris einander näherbringen sollen: Ein stärker strategisch orientiertes Deutschland hätte Frankreichs bevorzugter Partner werden können, vor allem in der Post-Brexit-EU. Außerdem waren beide Länder politisch häufig auf derselben Linie, wenn es um Russlands Krieg gegen die Ukraine geht. Beide setzen mehr auf Diplomatie und hoffen mehr auf eine Verhandlungslösung als die meisten ­NATO-Verbündeten, sie waren anfangs vorsichtiger, was Waffenlieferungen betrifft, und zögerten bei jedem Schritt, der als „eskalierend“ hätte betrachtet werden können. Aber letztlich haben sie in der Krise nur selten gemeinsam gehandelt.



Was die Waffenlieferungen betrifft: Trotz der von beiden Regierungen an den Tag gelegten Vorsicht wirkte Berlin noch zögerlicher als Paris, wenn es um das Überschreiten bestimmter Schwellen ging. Das zeigte sich in der Leopard-Debatte. Berlin stimmte sich lieber eng mit Washington als mit Paris (oder anderen europäischen Verbündeten) ab. Frankreich wiederum schloss sich immer deutlicher den Ländern an, die Deutschland durch ihre Äußerungen (die Lieferung von Kampfflugzeugen nicht auszuschließen) und Handlungen (inmitten der Leo­pard-Debatte leichte Panzer des Typs AMX-10-RC zu liefern) zu mehr Einsatz drängten. Aus Pariser Sicht deutet das Bestreben Berlins, nicht nur jeden Alleingang zu vermeiden, sondern stets nur gemeinsam mit den USA zu handeln (wie beim Marder, den Patriots und den Leopard-Panzern) auf eine Ausrichtung, die für deutsch-französisch-europäische Initiativen wenig Raum lässt.



An der diplomatischen Front gab es den spektakulären Besuch in Kiew am 16. Juni 2022, an dem Klaus Iohannis und Mario Draghi gemeinsam mit Olaf Scholz und Emmanuel Macron teilnahmen – ein Durchbruch in Richtung EU-Kandidatenstatus für die Ukraine. Trotzdem ist es frappierend, dass es im ersten Jahr des Ukraine-Krieges keine hochrangigen deutsch-französischen Initiativen gab. Stattdessen markiert dieses Jahr einen Tiefpunkt in den bilateralen Beziehungen bis hin zur Verschiebung eines deutsch-französischen Ministerrats. Wenn die Medien auf den Zustand des „Paares“ schauen, um das in Paris gebräuchliche Wort zu benutzen, schauen sie durch die Brille zwischenmenschlicher Beziehungen zwischen Präsident und Kanzler. Diese sind offenkundig wichtig und brauchen Zeit, um sich einzupendeln.



Dennoch ist es interessant, die Pariser Wahrnehmung festzuhalten, dass die Zeitenwende von Bundeskanzler Scholz sehr viel mehr darauf fokussiert war, nach den schwierigen Trump-Jahren zu einer soliden Beziehung zu Washington zurückzukehren, als gemeinsam mit Paris eine starke europäische Agenda zu entwickeln. Im Gegensatz zur französischen Politik, die stets dazu neigt, wichtige außenpolitische Initiativen mit einer europäischen Dimension zu versehen (auch auf die Gefahr hin, manche europäische Partner zu verstimmen), scheint bei der Zeitenwende die europäische Dimension einfach zu fehlen – wenngleich Scholz und Macron mit ihrem Treffen mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selensky im Élysée ein Zeichen deutsch-französischer Führung setzten. Die EU wurde in der Zeitenwende-Rede oft erwähnt, aber Berlin hat keine aufsehenerregenden Vorschläge gemacht. Es brauchte ein weiteres Jahr und den verpflichtenden Moment der Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag des Élysée-Vertrags in Paris im Januar 2023, um hier erste Ideen entstehen zu lassen. Es bleibt abzuwarten, ob die Zeitenwende auf lange Sicht ein neues Kapitel in den bilateralen Beziehungen bedeutet.



Aus dem Englischen von Bettina Vestring

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, März/April 2023, S. 70-74

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Camille Grand ist Distinguished Policy Fellow beim European Council on Foreign Relations (ECFR).

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