Weltspiegel

27. Febr. 2023

Der schwierige Partner in Brasilia

Unter Lula da Silva gibt es die Chance auf einen Neustart Brasiliens mit Deutschland, auch wenn beide Länder geopolitisch manches grundsätzlich anders sehen. Nötig sind mehr Realismus und auch mehr echte Kooperation.

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Bild: Lula und scholz umarmen sich bei Scholz' Besuch in Brasilia
Scholz und Lula Ende Januar nach einer Pressekonferenz im Amtssitz des Präsidenten. Lula ist in vielem gänzlich anderer Ansicht als der Kanzler – dennoch bleibt viel Spielraum zur Kooperation.
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Mit den Besuchen von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am 1. Januar zu Lulas Amtseinführung in Brasília und Bundeskanzler Olaf Scholz noch im gleichen Monat hat Deutschland deutlich gemacht, wie viel der Regierung daran liegt, die Beziehungen zum wichtigsten lateinamerikanischen Land wieder zu stärken. Zuvor waren die beiden Länder während der Bolsonaro-Jahre auf Abstand gegangen. Doch während Steinmeier einen optimistischen neuen Präsidenten antraf, der versuchte, seine Präsidentschaft als Ausdruck für die Rückkehr zur Normalität darzustellen, war die Lage während des Scholz-Besuchs wenige Wochen später schon sehr viel angespannter. Nachdem Pro-Bolsonaro-Anhänger mit Unterstützung von Teilen der Armee und der Polizei den Kongress, Präsidentschaftspalast und Obersten Gerichtshof am 8. Januar in Brasília gestürmt hatten, wurde selbst für Optimisten unübersehbar, wie fragil und gespalten Lateinamerikas größte Demokratie mittlerweile ist – und wie knapp sie im Oktober 2022 der Katastrophe entgangen war, als Jair Bolsonaro 49,1 Prozent der Stimmen auf sich vereinte.



Luiz Inácio Lula da Silva hatte eigentlich vor, sich gleich zu Beginn seiner Amtszeit auf den Kampf gegen die Armut und gegen die Abholzung des Regenwalds sowie die Rückkehr des Landes auf die internationale Bühne zu konzentrieren. Doch nun werden der Kampf gegen antidemokratische Tendenzen im brasilianischen Militär und die politische Stabilisierung nach dem Trauma in Brasília viel Aufmerksamkeit des Präsidenten binden.

Einhegung des Staates im Staate

In den nächsten Monaten wird der Fokus auf der Verfolgung derer liegen, die für die Gewalttaten und die Verschwörung vom 8. Januar Verantwortung tragen. Hunderte von Bolsonaro-Unterstützern befinden sich im Gefängnis. Auch einigen Spitzenbeamten des Ex-Präsidenten wird der Prozess gemacht. Es ist unklar, ob dies auch Bolsonaro droht, sollte er aus Florida nach Brasilien zurückkehren. Gleichzeitig ist es von zentraler Bedeutung, dass Lula es schafft, Armee und Militärpolizei als „Staat im Staate“ einzuhegen. Eine Woche nach den Unruhen in Brasília entließ Lula den Armeechef de Arruda, der sich dagegen gewehrt hatte, Bolsonaro-Unterstützer vor dem Militär-Hauptquartier in Brasília in Gewahrsam zu nehmen. Aber das reicht bei Weitem nicht aus, um ein Grundübel der brasilianischen Demokratie anzugehen: dass die Zeit der Militärdiktatur bis auf eine halbherzige Wahrheitskommission in der Amtszeit Dilma Rousseffs nie umfassend aufgearbeitet wurde und dass das Militär nicht gründlich genug unter zivile Kontrolle gebracht wurde.

Schwächere Basis für Außenpolitik

Viele Militärangehörige sehen sich als eigenständiges, unabhängiges Machtzen­trum, das das Land in schwierigen Momenten stabilisieren kann. Dazu ziehen sie oft Artikel 142 der Verfassung heran, der die Befehlsgewalt des Präsidenten betont und gleichzeitig die Rolle des Militärs für die Aufrechterhaltung von „Recht und Ordnung“ betont. Einige Bolsonaro-Anhänger vertreten sogar eine Interpretation, die einen Militärputsch rechtfertigt. Generäle haben sich in den vergangenen Jahren immer wieder politisch eingemischt. 2018 etwa erweckte der damalige Armeechef den Eindruck, die Richter des Obersten Gerichts unter Druck zu setzen am Vortag einer Entscheidung, die Lula dann mit sechs gegen fünf Stimmen ins Gefängnis schickte.

Eine große Mehrheit der Öffentlichkeit verurteilt die Attacken vom 8. Januar, die von Teilen des Militärs unterstützt wurden. Lula hat jetzt die Chance, überfällige Reformen des Militärs voranzutreiben und die zivile Kontrolle zu stärken. Aber selbst wenn Lula in der Lage ist, die Gefahr zu bannen, die von den Generälen und der Militärpolizei für die demokratische Stabilität ausgeht, verfügt der Präsident nun über eine deutlich schwächere Basis für seine außenpolitische Agenda als in seinen ersten beiden Amtszeiten von 2003 bis 2010.

Dass das Zusammenhalten der breiten Koalition von ganz links bis mitte-rechts eine große Herausforderung sein würde, war vorherzusehen. Allerdings ist es erstaunlich, wie schnell es zu Spannungen zwischen den unterschiedlichen Gruppierungen in der Regierung gekommen ist, ohne deren Zusammenarbeit sich Lulas politischer Spielraum stark verengen wird. Dies hat auch außenpolitische Konsequenzen. So ist es wie schon in den ersten Wochen von Lulas dritter Amts­periode zu häufigen Auseinandersetzungen zwischen dem linken Flügel der Arbeiterpartei und zentristischen Elementen gekommen, die auch für die bilaterale Beziehung zu Deutschland relevant sein werden.

Hinzu kommt, dass der Bolsonarismus trotz des vorübergehenden Exils des Ex-Präsidenten in den Vereinigten Staaten politisch einflussreich bleiben wird. So haben Bolsonaristas die Gouverneurswahlen in São Paulo (Tarcisio de Freitas), Minas Gerais (Romeu Zema) und Rio de Janeiro (Claudio Castro) gewonnen – das sind die drei wichtigsten Staaten.

Romeu Zema hat sich entschieden, die Verschwörungstheorie zu verbreiten, wonach Lula absichtlich die Zerstörung auf dem Platz der drei Gewalten in Brasília zugelassen hat, um daraus politisch Kapital zu schlagen. Das zeigt, auf welchem Niveau sich die Opposition des Präsidenten bewegen wird. In diesem extrem polarisierten Kontext wird sich der Präsident schwertun, die Wirtschaft nach Jahren der Stagnation wieder in Schwung zu bringen. Dabei gälte es, die großen Rückschläge wettzumachen, die das Land bei Bildung, Gesundheit und Umweltschutz hat – gerade weil Lulas Gegner besonders gut in jenen Regionen des Regenwalds abgeschnitten haben, in denen die Abholzung am massivsten ist.

Ein realistischer Blick auf Lula

Neben einem Blick auf die innenpolitischen Zwänge setzt auch eine erfolgreiche Wiederbelebung der deutsch-brasilianischen Kooperation einen realistischen Blick auf Lulas außenpolitische Grund­überzeugungen voraus.

Der neue, alte brasilianische Präsident ist in vieler Hinsicht ein klassischer lateinamerikanischer Linker, der aufgrund leidvoller historischer Erfahrungen eine gehörige Portion Skepsis gegenüber der Rolle der USA hat. Lula will sich in den Großmächtekonflikten nicht vereinnahmen lassen. Er sieht funktionierende Beziehungen zu Russland und China als wichtig an, um Brasiliens außenpolitischen Spielraum gegenüber den USA zu wahren. Die NATO und auch Sanktionen betrachtet er als Instrument US-amerikanischer Machtprojektion kritisch.

Lula neigt zu diplomatischem Eigensinn, statt sich an den Präferenzen der USA zu orientieren. Das zeigte sich schon im Jahr 2010, als er mit der Türkei eine Atomübereinkunft mit dem Iran verhandelte, um die US-Sanktionspolitik zu konterkarieren. Wer also die Messlatte in den Beziehungen zu Lula so anlegt, dass nur eine vollumfängliche Unterstützung der europäisch-amerikanischen Agenda ­gegenüber dem Krieg Russlands in der ­Ukraine als Erfolg zählt, hat einen realitätsfernen Blick auf den ­Horizont der Möglichkeiten. Das allerdings war genau mit einigen deutschen Journalisten der Fall, die von einem „Schiffbruch“ des Bundeskanzlers bei Lula sprachen oder sich darüber aufregten, dass der Bundespräsident so viel Nähe gegenüber einem Politiker demonstrierte, der die Agenda des Westens nicht ganz und gar unterstützt.

Lula argumentiert ähnlich wie viele bedeutende Politiker des Globalen Südens. Wenn man das zum Ausschlussgrund enger interessenbasierter Kooperation machen wollte, dann stünde Deutschland in der Welt sehr alleine da.

Jedem regelmäßigen Beobachter Brasiliens hätte klar sein müssen, dass das Land die Lieferung von Munition in die Ukraine, um die Deutschland gebeten hatte, nicht genehmigen würde. Und: Lulas Äußerungen zur angeblichen Mitverantwortung der Ukraine am Krieg im eigenen Land entsprechen genau den bisweilen verqueren Ansichten, die er schon während des Wahlkampfs im Frühjahr in einem Interview mit dem Magazin Time geäußert hatte. Die von Lula in der Pressekonferenz vorgeschlagene Ukraine-Friedensvermittlerinitiative Brasiliens mit China, Indien, Indonesien und Mexiko erinnert an seinen Iran-Vorstoß aus dem Jahr 2010. Lulas Vorschlag eines „Friedensclubs“ scheint ein wenig aus der Hüfte geschossen und nicht besonders realistisch. Denn Peking steht fest an der Seite Moskaus und taugt als Vermittler gegenwärtig genauso wenig wie die USA oder Europa, die fest an der Seite der Ukraine sind.

Man kann versuchen, wie Steinmeier und Scholz es getan haben, Lula in einigen seiner Grundüberzeugungen gegenüber Putin und China durch geduldiges Zureden zu erschüttern. Aber das ist bestenfalls ein langwieriges Bohren dicker Bretter, scheinen sich doch Lulas Ansichten seit 2010 wenig geändert zu haben – ungeachtet der viel stärkeren Aggressivität sowohl Putins als auch der chinesischen Führung unter Xi Jinping. Aber selbst wenn Lula uneinsichtig bleibt, lässt das noch viel Spielraum für die Zusammenarbeit Deutschlands und Brasiliens in zentralen Fragen.

Multilaterale Strukturen

Denn anders als zuvor gibt es jetzt eine breite Kooperationsagenda, die Deutschland und Brasilien voranbringen können. Innerhalb der Vereinten Nationen kann Brasilien ein konstruktiver Partner Deutschlands bei der Stärkung multilateraler Strukturen sein. Dabei sollte Deutschland Brasiliens Ambition unterstützen, ständiges Mitglied in einem reformierten UN-Sicherheitsrat zu werden. In der Vierer-Gruppe mit Brasilien, Indien und Japan zum Voranbringen der Sicherheitsratsreform sollte Deutschland allerdings den aus der Zeit gefallenen Anspruch auf einen eigenen ständigen Sitz im Sicherheitsrat aufgeben und sich stattdessen für die Aufnahme der anderen drei Staaten (plus mindestens eines afrikanischen Landes) einsetzen.

Was den möglichen Beitritt Brasiliens zur OECD betrifft, so wäre dies von ­deutscher Seite sehr zu begrüßen, allerdings steht Lula sehr zurückhaltend zu diesem Ziel.

Eine enge Zusammenarbeit mit Brasilien im Multilateralismus ist auch deshalb wichtig, da das südamerikanische Land in der BRICS-Gruppe seit Jahren ein Gegengewicht zur immer antiwestlicheren Haltung Moskaus darstellt. Trotz seiner Skepsis zur Rolle der USA und NATO scheut Brasilien bei internen Verhandlungen der BRICS-Staaten nicht davor zurück klarzustellen, dass es kein Interesse hat, Teil eines explizit antiwestlichen Klubs zu sein.

Regionalmacht Brasilien

Daneben kann Brasilien als Anker für Deutschlands Lateinamerika-Politik dienen. Das bedeutet nicht, dass Berlin seine Interessensvertretung in der Region an Brasilien auslagern kann, und es ist weiterhin wichtig, auch die bilateralen Beziehungen zu anderen Ländern in der Region zu stärken. Jedoch haben die vergangenen Jahre gezeigt, dass jegliche Versuche, ohne Brasilien die regionale Zusammenarbeit zu fördern, in der Regel nicht erfolgreich sind. Ohne ein politisch und wirtschaftlich stabiles Brasilien hat die gesamte Region deutlich weniger Kraft, um ihre internen Herausforderungen zu bewältigen und international eine konstruktive Rolle zu spielen.

Zur Kooperationsagenda gehört an vorderster Stelle der Schutz des Regenwalds vor weiterer Abholzung. Deutschland hat die Mittel für den dafür 2008 aufgelegten „Amazonienfonds“ nach der Wahl Lulas wieder freigegeben. Diese 200 Millionen Euro sind ein wichtiges Zeichen, ebenso der Besuch des Bundespräsidenten gemeinsam mit Umweltministerin ­Steffi Lemke im Amazonasgebiet. Dabei ist zu beachten, dass es länger als erwartet dauern kann, bis die brasilianische Regierung die Umweltbehörde IBAMA wieder auf den Stand bringt, damit sie der illegalen Abholzung die Stirn bieten kann. So haben nicht nur zahlreiche erfahrene Experten die Behörde verlassen.

Das für die illegale Goldschürfung und Abholzung verantwortliche organisierte Verbrechen ist finanziell und wirtschaftlich in den vergangenen vier Jahren viel mächtiger geworden und hat starken Einfluss auf lokale Eliten und die lokale und nationale Politik. Diese Gruppen werden auch in den nächsten Jahren versuchen, die Kontroll­organe des Staates im Amazonasgebiet zu schwächen.

All das ist umso besorgniserregender, wenn man bedenkt, dass der Amazonas sich laut Experten dem sogenannten Kipp-punkt nähert: wenn also der Niederschlag im Regenwald stark abnimmt und sich weite Gebiete selbst ohne weitere Abholzung langfristig in eine Savanne verwandeln. Anhand dieser massiven internen Hürden und der logistischen Herausforderung, eine Region zu schützen, die halb so groß ist wie ganz Europa, sind Strategien des An-den-Pranger-Stellens kontraproduktiv. Sie stärken lediglich nationalistische Strömungen, für die das internationale Interesse am Amazonas­gebiet rein wirtschaftlich ist und Brasiliens Souveränität bedroht.

Große Chance seltene Erden

Ebenso kann Brasilien eine wichtige Rolle bei der Diversifizierung der Rohstoffbeschaffung Deutschlands weg von China spielen, von seltenen Erden bis hin zu Lithium. Dabei sollte Deutschland im Sinne einer echten Rohstoffpartnerschaft Brasilien anbieten, gemeinsam in die ­Weiterverarbeitung der Rohstoffe und ihre industrielle Nutzung (etwa in Batterie­fabriken) in Brasilien zu investieren.

Lula und Scholz könnten auch neue Impulse für die Verabschiedung des EU-Mercosur-Handelsabkommens setzen. Die Ratifizierung des Abkommens, das seit 1999 verhandelt wurde, würde Europas geopolitische Rolle in Südamerika erheblich stärken, nachdem der europäische Einfluss in der Region jahrelang abgenommen hat. Der brasilianische Präsident äußerte in der gemeinsamen Pressekonferenz mit Scholz Vorbehalte mit Blick auf die Landwirtschaft, Staatsaufträge sowie Fragen der Re-Industrialisierung Brasiliens. Gleichzeitig gab er die Devise aus, bis Mitte des Jahres die Verhandlungen zum Abschluss zu bringen. Das scheint zwar höchst unrealistisch, doch ist Lulas positive Haltung eine willkommene Abkehr von der Praxis während seiner ersten beiden Amtszeiten, in denen die Regierung äußerst protektionistisch agierte.

Zu guter Letzt können Deutschland und Brasilien stärker zusammenarbeiten, um gemeinsam Wege im Kampf gegen die Desinformation zu finden, die eine immer größere Gefahr für die Demokratie weltweit darstellt. Insbesondere in Brasilien, wo etablierte Medien stark an Einfluss verloren haben, ist eine Debatte darüber entbrannt, wie man mit dem Phänomen umgehen kann, ohne die Meinungsfreiheit einzuschränken.

Es ist gut, dass Deutschland und Brasi­lien für die zweite Jahreshälfte Regierungskonsultationen vereinbart haben, die Lulas komplettes Kabinett zu einer Zusammenkunft mit Olaf Scholz und den deutschen Ministerinnen und Ministern nach Berlin bringen wird. Das ist ein wichtiges Zeichen, dass es beide Regierungschefs ernst meinen mit der Wiederankurbelung der Beziehungen. Sie sind alles andere als ein Selbstläufer.    

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, März/April 2023, S. 83-88

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Mehr von den Autoren

Thorsten Benner ist Direktor des Global Public Policy Institute (GPPi) in Berlin. Twitter: @thorstenbenner



Oliver Stuenkel ist Professor an der Fundação Getulio Vargas in São Paulo. Twitter: @oliverstuenkel

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