Weltspiegel

24. Febr. 2023

Zeitenwende im Kopf

Deutschlands Traumata sitzen tief und erschweren das Hinterfragen alter außenpolitischer Mantras. Sich auch gedanklich an die neue ­instabile Welt anzupassen, wird die größte Herausforderung sein.

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German Chancellor Olaf Scholz looks on as he delivers a speech during a budget session of Germany's lower house of parliament, the Bundestag, in Berlin, Germany, March 23, 2022.
Der russische Überfall auf die Ukraine war auch deshalb so ein Schock, weil er ein Angriff auf das deutsche Selbstverständnis war: Bundeskanzler Olaf Scholz bei seiner Rede im Bundestag am 27. Februar 2022.
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Was unseren Wortschatz angeht, haben der amtierende Bundeskanzler und seine Vorgängerin die Welt bereits bereichert. So war Angela Merkels ruhiger und vorsichtiger Stil so unverwechselbar, dass er sich kurzerhand in einem Verb manifestierte. „Merkeln“, das stand in der besten Zeit der Kanzlerin für die Fähigkeit, Veränderungen unter dem Deckmantel der Kontinuität zu verkaufen und die Entwicklung der Bundesrepublik so zu steuern, dass andere Deutschland und die Deutschen sich selbst vertrauten.



Merkels Vizekanzler und Nachfolger, Olaf Scholz, bewarb sich erfolgreich als die nächste ruhige Hand am Steuerrad – und auch er hat nun nach etwas mehr als einem Jahr im Amt bereits einen höchst abgewogenen und unaufdringlichen Stil entwickelt, der sich seinerseits anschickt, ins Wörterbuch aufgenommen zu werden – obwohl die Definition von „scholzen“ („scholzing“) noch nicht abschließend geklärt ist. Ob der Begriff am Ende für Entschlossenheit oder für ewiges Zaudern steht, ist für ein Land, dessen Weltanschauung in der jüngsten Vergangenheit komplett auf den Kopf gestellt wurde, eine Frage von zentraler Bedeutung.



Mantras und tiefere Wahrheiten

Vorsicht und Zurückhaltung haben sich für deutsche Regierungschefs in der Vergangenheit durchaus bewährt, waren sie sich doch stets des relativen Gewichts ihres Landes, seiner turbulenten Geschichte und seiner mitteleuropäischen Geografie bewusst. Während des Kalten Krieges entwickelten die westdeutschen Staats- und Regierungschefs einige Schlüsselprinzipien, die dem traumatisierten Deutschland die bemerkenswerte Entwicklung von einer zerstörten und geteilten Nation zu einem wohlhabenden und vereinten Land ermöglichten. „Nie wieder Krieg“, lautete einer dieser Grundsätze, und „Nie wieder Auschwitz“. „Keine Alleingänge“, besagte ein anderer. Und auch: keine exponierte Führung, keine Isolierung, keine Singularisierung.



Die Westbindung wurde durch die Ostpolitik ergänzt. „Macht“ wurde zum Schimpfwort. Nationale Interessen wurden in der Sprache der Wirtschaft, im Namen „Europas“ oder des Multilateralismus verfolgt. Scheckbuchdiplomatie, so schien es, konnte militärische Zurückhaltung kompensieren, denn militärische Stärke war von immer geringerer Bedeutung. Die Zukunft gehörte den „zivilen“ Mächten, so lautete die Überzeugung.



Mit dem Ende des Kalten Krieges und der Wiedervereinigung Deutschlands wurden diese Grundsätze auf die Probe gestellt, mehrfach angepasst und doch weitgehend bekräftigt. Westbindung bedeutete nun, sich – zum ersten Mal in der deutschen Geschichte – mit demokratischen Verbündeten zu umgeben. Das ­daraus resultierende Sicherheitsgefühl legte nahe, dass man es sich leisten konnte, den Militärapparat zu verkleinern und sich im Ausland auf das Krisenmanagement und humanitäre Einsätze statt auf die kollektive Verteidigung zu konzentrieren.



Die Ostpolitik schrumpfte derweil immer weiter und wurde zur Russland-Politik: Eine „Modernisierungspartnerschaft“ mit Moskau wurde engeren Beziehungen zu osteuropäischen Verbündeten vorgezogen – und deutsche Schuldgefühle, resultierend aus den Verbrechen des Nationalsozialismus an der Sowjetunion, übertrugen sich weitgehend auf Russland. In Vergessenheit geriet dabei fast, dass Millionen von Ukrainern, Belarussen und anderen im ehemaligen sowjetischen Raum ebenfalls Opfer des Nationalsozialismus waren. „Wandel durch Annäherung“ wurde zu „Wandel durch Handel“, sowohl gegenüber Russland als auch China. Die Idee: Deutsche Unternehmen könnten sich die enormen Ressourcen dieser Länder zunutze machen. Und in dem Maße, in dem sie zu einem Teil der internationalen Rechtsordnung würden, würde sich auch ihr autoritärer Charakter abschleifen. Putins Überfall auf die Ukraine 2022, dem die Krim-Annexion und der Einmarsch in der Ostukraine 2014 vorausgingen, war auch deshalb ein solcher Schock, weil er ein Angriff auf dieses deutsche Selbstverständnis war.



Eine bemerkenswerte Rede

Auch deshalb war Scholz’ Rede vor dem Deutschen Bundestag, drei Tage nach der russischen Invasion der Ukraine, so bemerkenswert. Der Angriff Russlands, so Scholz, habe eine epochale tektonische Verschiebung, eine Zeitenwende „in der Geschichte unseres Kontinents“ ausgelöst.



Der Bundeskanzler kündigte an, dass Berlin sich neu orientieren werde. Erstens werde sich Deutschland in Sachen Energie von Russland lösen und sich den beispiellosen internationalen Sanktionen gegen Moskau anschließen. Zweitens würde Deutschland der Ukraine Waffen zur Selbstverteidigung zur Verfügung stellen, und drittens würde Berlin sein Militär mit einem Sonderfonds in Höhe von 100 Milliarden Euro wiederbeleben – eine Investitionssumme doppelt so hoch wie der jährliche Verteidigungshaushalt. Fortan würde die Bundesrepublik jährlich „mehr als 2 Prozent“ ihres BIP in die Verteidigung investieren und dazu beitragen, „jeden Quadratmeter des NATO-Gebiets“ zu verteidigen.



Mit einem Schlag richtete Scholz die heimische Debatte über die Rolle Deutschlands in Europa und der Welt neu aus. Das jahrzehntelange deutsche Prinzip, keine Waffen an eine Kriegspartei in einem zwischenstaatlichen Konflikt zu liefern, war Geschichte, und auch die strategische Zurückhaltung, die Geringschätzung von Hard Power und das Wandel-durch-Handel-Prinzip wurden infrage gestellt – wenn auch nicht gegenüber ­China. Scholz rechtfertigte diesen Kurswechsel als logische Konsequenz aus Deutschlands Westbindung, seinem Bekenntnis zur internationalen Rechtsordnung und seinem langjährigen Mantra, sich nicht zu isolieren und keine Alleingänge zu unternehmen.



Im Land und auch bei Deutschlands Partnern und Verbündeten wurde Scholz’ Rede mit Begeisterung aufgenommen. Gleichzeitig fragten sich wohl nicht nur einige Bundestagsabgeordnete, sondern auch Scholz selbst, ob seine Regierung die soeben formulierten Ziele auch tatsächlich verwirklichen können würde.



Wo steht Deutschland heute?

Einige bemerkenswerte Fortschritte hat die Bundesregierung seitdem erreicht: Die Sanktionen gegen Russland werden weiterhin aufrechterhalten und noch ausgeweitet. Ihre starke Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen aus Russland hat die Bundesrepublik derweil abgelegt, ohne dabei ihre eigene Wirtschaft zu ruinieren oder die Energiewende umzukehren. Außerdem ist Deutschland heute der drittgrößte Lieferant von Militärausrüstung für die Ukraine und der drittgrößte Unterstützer Kiews mit Blick auf humanitäre, wirtschaftliche und finanzielle Hilfe. Die Bundesrepublik hat rund eine Million ukrainische Flüchtlinge aufgenommen, bildet derzeit an die 5000 ukrainische Soldaten auf deutschem Territorium aus und wird diese Zahl noch weiter erhöhen. Gemeinsam mit anderen Partnern hat Berlin zudem eine Geberplattform aufgebaut, um den langfristigen Wiederaufbau der Ukraine zu koordinieren. Die EU-Entscheidung, die Ukraine und die Republik Moldau zu Beitrittskandidaten zu machen und Georgien eine europäische Perspektive zu bieten, wurde gerade auch vom Bundeskanzler entschieden unterstützt.



Im internationalen Vergleich wirkt die deutsche Bilanz derweil weniger beeindruckend. Misst man die deutsche Militärhilfe etwa an den Leistungen, die das wirtschaftlich weitaus weniger starke Großbritannien vollbringt, dann hinkt Deutschland hier deutlich ­hinterher. ­Tatsächlich stellt Berlin der Ukraine nämlich nur weniger als halb so viel Ausrüstung zur Verfügung wie London und leistet nur ein Zehntel der Unterstützung, die aus den USA kommt. Rechnet man die Einwohnerzahl mit den Hilfeleistungen gegen, dann schneidet Deutschland nicht nur schlechter ab als die USA und das Vereinigte Königreich, sondern auch schlechter als Länder wie Polen, die Tschechische Republik, die Slowakei, die baltischen Staaten, Portugal und Kanada.



Am schwersten wiegt derweil, dass die deutschen Waffenlieferungen das ganze Jahr über nur stotternd und zögerlich erfolgten. Egal ob Helme, Luftabwehrsysteme, Panzerhaubitzen, Mehrfachraketenwerfer, Marder-Schützenpanzer oder Leopard-Kampfpanzer, es ist immer das gleiche Spiel: Erst weigert sich Berlin, Kiews Wünsche zu erfüllen oder hält andere davon ab. Dann werden rote Linien gezogen, die nicht überschritten werden dürfen – und erst, wenn diese dann eben doch überschritten werden, handelt die Bundesregierung.



Allein ist Deutschland mit dieser vorsichtigen Herangehensweise nicht. Im Gegenteil: Die meisten NATO-Mitgliedstaaten wollen die Ukraine unterstützen, aber gleichzeitig verhindern, dass die NATO und Russland in einen direkten Konflikt verwickelt werden. Viele befürchten, dass Putin zu Atomwaffen greifen könnte. Doch nichtsdestotrotz hat Berlins Zögern und das Ziehen immer neuer roten Linien mindestens genauso viel mit Deutschland selbst zu tun wie mit der Ukraine.



Unterdessen gerät Scholz’ Versprechen, die Bundeswehr zu stärken, ins Wanken, und seine Zusagen an die NATO klingen hohl. Berlin bekräftigte mit der Beschaffung von F-35-Kampfjets zwar seine Rolle bei der nuklearen Teilhabe, aber bislang ist kaum mehr als ein Zehntel des 100-Milliarden-Euro-Sonderfonds investiert worden. Zudem gehen Militärexpertinnen und -experten davon aus, dass tatsächlich bis zu 300 Milliarden Euro benötigt werden, um Deutschland frei nach Scholz wirklich zu „dem Garanten europäischer Sicherheit“ zu machen, „so wie es unsere Verbündeten von uns erwarten“.



Von einer solchen Investitionssumme fehlt jedoch bislang jede Spur. Statt mehr als 2 Prozent des BIP für die Verteidigung auszugeben, wie Scholz angekündigt hat, gibt Deutschland derzeit nur 1,44 Prozent aus. Derweil hat die Regierung den jährlichen Verteidigungshaushalt auf 50,1 Milliarden Euro gedeckelt, also auf einen Betrag, der weit unter den 85 Milliarden Euro liegt, die nötig wären, um das 2-Prozent-Ziel bis Ende 2026 zu erreichen.



Ein epochaler Umschwung

Misst man Scholz’ Versprechen an Deutschlands althergebrachten und stets streng befolgten Grundsätzen, dann ist klar, dass seine Regierung in den vergangenen Monaten viele mutige, wenn auch oft zögerliche Schritte unternommen hat. Eine Zeitenwende erfordert jedoch mehr.



Denn die akuten Herausforderungen häufen sich. Berlin muss erst noch verdauen, dass der Nordatlantik und der Indo­pazifik immer enger miteinander verbunden sind und dass die deutsche Energiewende im Wesentlichen bedeutet, die Abhängigkeit von russischer Energie gegen eine Abhängigkeit von chinesischen kritischen Rohstoffen einzutauschen. „Wandel-durch-Handel“-Mentalität dominiert weiterhin die ­China-Politik, obwohl Peking das deutsche Industriemodell ebenso herausfordert wie die internationale Rechtsordnung, die für Berlin von so großer Bedeutung ist.



Seitdem er die Zeitenwende beschworen hat, bleibt Scholz mit Blick auf die Frage, was es mit diesem epochalen Umschwung letztlich auf sich habe, vage. Im Großen und Ganzen ist sein Verständnis der Zeitenwende wohl im Wettbewerb der Großmächte verankert. Die Erklärung, welche weitaus größeren Trends und Verschiebungen auf der Welt im Gange sind, bleiben Scholz und seine Regierung den Deutschen bislang schuldig.



Tatsächlich erlebt die Menschheit derzeit eine Zeitenwende von „les trente glorieuses“ nach dem Mauerfall hin zu einem „Age of Disruption“, einem gefährlicheren und unbeständigeren Zeitalter, zu dem auch, aber nicht nur, zwischenstaatliche Rivalitäten gehören. Macht und Einfluss gehen von Staaten auf nichtstaatliche Akteure über, neue Technologien verändern Kooperation und Konkurrenz grundlegend, und der digitale Wandel stellt Grundsätze der Diplomatie und Verteidigungspolitik infrage.



Derweil werfen der Klimawandel und die Energiewende neue Sicherheitsfragen auf, schaffen unvorhergesehene Abhängigkeiten und verstärken globale Krisen. Regierungen, die sich daran gewöhnt haben, ihr Territorium zu beschützen, müssen auch Verflechtungen verteidigen, auf denen ihr Wohlstand beruht, also die vielen wirtschaftlichen, ökologischen, technologischen und menschlichen Ströme, die ihre Gesellschaften am Laufen halten.



Für ein Land, dessen Schlüsselbegriffe bislang Vorsicht, Stabilität und „Keine Experimente!“ lauteten, bedeutet die ­Bewältigung dieser radikalen Veränderungen eine große Herausforderung. Gleichzeitig ist Deutschland so gut aufgestellt wie kein anderes Land, um in diesem neuen Umfeld nicht nur zu überleben, sondern aufzublühen – immer unter der Voraussetzung, dass man bereit ist, alte Mantras zu hinterfragen und an neue Realitäten anzupassen. In diesem Szenario würde sich Deutschland weniger geografisch als europäisches „Land in der Mitte“ und mehr als kritischer Knotenpunkt globaler Verflechtungen verstehen.



Und so wird Deutschlands Antwort auf die Zeitenwende am Ende wohl nicht in Panzerlieferungen oder Energieströmen gemessen, sondern mit der Zukunftsfähigkeit seiner nationalen Psyche. Ein undurchsichtiges Feld, keine Frage, denn auch Jahre, nachdem die physischen Mauern zwischen Ost- und Westdeutschen gefallen waren, blieben die mentalen Mauern – die Mauern in den Köpfen – bestehen. Mediziner nannten es Wendekrankheit: geistige Verwirrung, verursacht durch einen abrupten gesellschaftlichen Wandel.



Ähnliche Herausforderungen erwarten uns heute. Anpassungen werden Zeit brauchen – und die kulturgeschichtlichen Traumata Deutschlands sitzen tief. In vielerlei Hinsicht definiert sich das Land weiterhin über die Vergangenheit, anstatt sich für die Zukunft zu wappnen. Nicht zuletzt deshalb wird die Zeitenwende im Kopf die härteste Prüfung Deutschlands sein.



Aus dem Amerikanischen von Kai Schnier

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, März/April 2023, S. 65-69

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Daniel S. Hamilton ist Senior non-resident Fellow bei der Brookings Institution und Senior Fellow des Foreign Policy Institute der Johns Hopkins University School of Advanced International Studies (SAIS).

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