Problem-Panorama Nahost
So vielfältig die Region zwischen Marokko und dem Iran ist, in manchem ähneln sich die Länder. Das gilt auch für die Herausforderungen, vor denen sie stehen.
Zum Nahen Osten und Nordafrika gehören kleine und große, reiche und arme, homogene und heterogene Staaten, Monarchien und Republiken – es ist eine ausgesprochen vielfältige Region. Manche Länder sind von Kriegen geplagt, andere wiederum erleben kaum Gewalt.
Zugleich sind sich die Staaten der Region aber auch in vielem ähnlich. Mit Ausnahme von Israel ist der Islam überall Mehrheitsreligion, wenngleich in verschiedenen Ausformungen. Arabisch ist für die meisten Muttersprache. Und bis ins 20. Jahrhundert hinein traten europäische Staaten als Kolonialmächte auf. Auch die politischen, ökologischen, sozialen und wirtschaftlichen Herausforderungen, vor denen die Staaten stehen, ähneln sich: ein Überblick.
Bevölkerungsstruktur
Im Jahr 2021 wuchs die Bevölkerung in den arabischen Staaten nach Angaben der Weltbank um 1,6 Prozent – nur Sub-Sahara-Afrika hatte eine höhere Rate. Überdurchschnittliche Zuwächse verzeichneten dabei Länder mit hoher Armutsquote wie Ägypten, Irak, Jemen, Jordanien und Syrien. Auch Israels Bevölkerung wächst stark. Zwar sind die regionalen Zuwachsraten im Vergleich zu früheren Jahrzehnten deutlich zurückgegangen, dennoch bleiben die Folgen gravierend. In zahlreichen Staaten liegt der Anteil der Unter-25-Jährigen bei über 50 Prozent, der resultierende Druck auf Bildungs- und Gesundheitssysteme sowie Arbeits- und Wohnungsmarkt ist kaum zu bewältigen. Dies erhöht das Armutsrisiko und damit das Frustrationspotenzial, das sich immer wieder bei regierungskritischen Protesten entlädt. Zwar thematisieren manche Regierungen diese Problematik; so rief die ägyptische Regierung 2017 die Kampagne „Zwei (Kinder) sind genug“ ins Leben. Dennoch wächst die ägyptische Gesellschaft weiterhin pro Jahr um rund zwei Millionen Menschen. Insgesamt stieg die Bevölkerungszahl Ägyptens seit 1980 um 250 Prozent, von 44 auf 109 Millionen.
In anderen Ländern sind die Geburtenraten wiederum stark gesunken, sodass nun zu wenige Kinder nachkommen; alternde Gesellschaften mit den bekannten Problemen werden das dominierende Zukunftsschema sein, insbesondere in den reichen Golfmonarchien, aber auch im Iran, Libanon, in Tunesien und der Türkei.
Gesundheit, Bildung und Wissenschaft
Das Gesundheitswesen ist in vielen Ländern der Region unterentwickelt und nur den privilegierten Schichten zugänglich. Krankenversicherungen haben üblicherweise nur Menschen in offiziellen Anstellungsverhältnissen, große Teile der Bevölkerungen arbeiten jedoch im informellen Sektor. Ärztliche Leistungen sind meist vor der Behandlung privat zu bezahlen, sodass selbst kleinere Behandlungen für viele Menschen unerschwinglich sind. Medizinisches Personal in den ärmeren Ländern ist überdies häufig unterbezahlt; sie gehören deshalb zu den Berufsgruppen, die häufig nach besseren Arbeitsmöglichkeiten im Ausland suchen.
Auch Bildung und Wissenschaft sind in vielen Ländern unterfinanziert. Nur die Eliten können sich qualitativ hochwertige – und oft private – Bildung leisten. Die meisten jungen Menschen leiden im öffentlichen Schulsystem unter überfüllten Klassen, mangelnder Infrastruktur, unterbezahlten und schlecht ausgebildeten Lehrkräften, veralteten und auf Frontalunterricht ausgerichteten Lehrplänen. Somit fehlen gut ausgebildete Fachkräfte, und soziale Ungleichheit wird permanent reproduziert.
Mangelnde Forschungserfolge bestätigen die große Abhängigkeit von auswärtigem Wissen; ein Problem, das sich während der Covid-19-Pandemie dramatisch zeigte: Kein einziger Impfstoff wurde genuin in der Region entwickelt, lediglich im Iran, in Israel und der Türkei fanden Entwicklungsprozesse statt. Stattdessen wurden je nach politischer Orientierung und Verfügbarkeit chinesische, russische, europäische oder amerikanische Vakzine verimpft.
Ernährung und Landwirtschaft
83 Prozent der jemenitischen und 65 Prozent der syrischen Bevölkerung leiden gemäß UN-Angaben aktuell unter Ernährungsunsicherheit. Aber auch in Ländern, die nicht von jahrelangen Kriegen geplagt sind, ist Mangelernährung verbreitet, zum Beispiel in Ägypten, Iran, Libanon, Marokko und Palästina. Rund 12 Prozent der Menschen in der Region sind unterernährt. Hinzu kommt oftmals unausgewogene Ernährung: Im Durchschnitt stammt ein Drittel der aufgenommenen Kalorien aus preiswerten, da subventionierten Getreideprodukten. Unausgewogene Ernährung führt bei etwa jedem dritten Erwachsenen zu teils starkem Übergewicht und zu Krankheiten wie Diabetes oder Bluthochdruck.
Zudem sind wegen der klimatischen Bedingungen fast alle Staaten auf die Einfuhr von Nahrungsmitteln angewiesen. Selbst Länder mit großem Agrarsektor wie Ägypten produzieren nur knapp die Hälfte des benötigten Getreides. Unerwartete Schocks wie der aktuelle Krieg Russlands gegen die Ukraine verschärfen die Situation; 70 Prozent der ägyptischen und 50 Prozent der emiratischen Weizenimporte stammten bis 2022 aus diesen beiden Ländern. Zuvor hatten die durch die Covid-19-Pandemie unterbrochenen Lieferketten zu Knappheiten in vielen Ländern geführt. Dürren oder Fluten erschweren den landwirtschaftlichen Anbau oder zerstören gar ganze Ernten. All dies führt zu stark ansteigenden Lebensmittelpreisen.
Wassermangel
Der Nahe Osten und Nordafrika ist die wasserärmste Region der Welt: Sie besitzt weniger als 2 Prozent der weltweiten Frischwasserquellen. Der UN-Weltwasserbericht von 2022 stellt fest, dass 86 Prozent der Bevölkerung in arabischen Ländern unter Wassermangel leiden. Die Landwirtschaft, größter Wasserverbraucher, ist von steigendem Bedarf bei gleichzeitigem Klimawandel mit immer längeren Dürrephasen besonders betroffen.
14 der 22 arabischen Staaten nutzen mehr Frischwasser, als ihnen auf natürliche Weise zur Verfügung steht. In vielen Ländern sinken aufgrund ständiger Überentnahme die ohnehin geringen Grundwasservorkommen bedrohlich. Seit einigen Jahren gibt es Bemühungen, diese durch behandeltes Abwasser zu regenerieren, zum Beispiel in Katar und Saudi-Arabien. Zudem finden sich mehr als die Hälfte aller Entsalzungsanlagen weltweit in der Region, vor allem in den Golfstaaten. Afrikas größte Entsalzungsanlage entsteht derzeit in Marokko.
Trotz aller Mühen: Wasser wird immer mehr zu einer Sicherheitsfrage. Zusammenarbeit zwischen Staaten bei grenzüberschreitenden Gewässern ist meist mangelhaft. Das prominenteste Beispiel hierfür ist der Konflikt zwischen Ägypten und Äthiopien um Nutzungsrechte des Nilwassers; aber auch zwischen der Türkei und Syrien sowie Irak gibt es Streit über die Wasserentnahmequoten bei Euphrat und Tigris. Traurige Symbolkraft erhielt das Tote Meer, das aufgrund der übermäßigen Wasserentnahme des zufließenden Jordans dramatisch austrocknet.
Klimawandel
Die Region wird mit am stärksten unter globalen Klimaveränderungen leiden. Schon heute sind deutliche Folgen zu spüren: Wüstengebiete breiten sich aus, Flussmündungen versalzen, der steigende Meeresspiegel bedroht die oftmals dicht besiedelten Küstengebiete. Drastische Ernterückgänge wie zuletzt bei Mangos und Oliven in Ägypten sprechen eine deutliche Sprache. Anhaltende Trockenphasen wirken sich selbst im vergleichsweise entwickelten Marokko unmittelbar auf das Bruttoinlandsprodukt aus, da die Landwirtschaft einen bedeutenden Anteil an der gesamten nationalen Wertschöpfung hat.
Energieversorgung
Nachhaltige Energieversorgung, über Jahrzehnte kaum ein Thema in den meisten Ländern, wird immer mehr als Herausforderung, aber auch als Chance begriffen. Seit der Jahrtausendwende ist die Nachfrage aus Wirtschaft und Bevölkerung im regionalen Durchschnitt jährlich um fast 5 Prozent gestiegen. Seit einigen Jahren haben zahlreiche Länder Schwierigkeiten, ausreichend Energie bereitzustellen; vor allem die Stromversorgung ist häufig nicht stabil. Besonders deutlich zeigt sich dies aktuell im Libanon, aber auch in Ägypten, Irak, Palästina und Sudan stellen Unterbrechungen der Energieversorgung sowohl Privathaushalte als auch die Industrie vor enorme Probleme.
Dabei werden Solar- und Windkraft mit Milliardenbeträgen ausgebaut, vor allem in den Golfstaaten, aber auch in Marokko. Atomkraft spielt ebenfalls eine Rolle in den Diversifizierungsplänen einiger Staaten, zuweilen auch aus geostrategisch-militärischen Überlegungen heraus. Im Iran und in den Vereinigten Arabischen Emiraten sind in den vergangenen Jahren erste Atomkraftwerke ans Netz gegangen, weitere befinden sich im Bau. In Ägypten haben Arbeiten am ersten Atomreaktor des Landes begonnen, in Jordanien und Saudi-Arabien gibt es fortgeschrittene Überlegungen.
Trotz aller Bemühungen um eine Energiewende: In Algerien, Bahrain, Libyen und Irak werden noch immer fast 100 Prozent der Energie fossil produziert, in Ägypten und Jordanien rund 90 Prozent.
Demokratie und Menschenrechte
Der Arabische Frühling von 2011 wie auch die jüngsten Demonstrationen in Algerien, im Iran und Sudan haben deutlich gezeigt, wie groß die Sehnsucht nach mehr politischer, sozialer und wirtschaftlicher Teilhabe ist. Zugleich haben es die meisten Herrschaftseliten verstanden, dem Druck zu widerstehen.
Internationale Rankings wie der Bertelsmann Transformationsindex zeigen eindrucksvoll, wie gering die vorhandenen Demokratieniveaus insgesamt sind und wie sie sich, trotz aller Proteste, im Langzeitvergleich weiter verschlechtert haben. So regieren die meist korrupten Regime weiter mit einer Mischung aus harter Hand und willkürlichen Wohltaten, um Widerstand zu ersticken und die notwendige Unterstützung zu erkaufen. Wahlen sollen lediglich Parteien- und Meinungsvielfalt vortäuschen.
Exzessive Sicherheitsapparate sichern die Machthabenden ab, Bürger- und Menschenrechte sind massiv eingeschränkt, politische Gefangene werden gefoltert und ihre Familienangehörigen oftmals ebenfalls verfolgt.
Migration
Migration betrifft alle Länder der Region. Bestimmend in der Wahrnehmung in Europa sind häufig Flüchtlingsströme aus Kriegsregionen; dabei bleiben die allermeisten in den direkten Nachbarstaaten und leben dort unter teils menschenunwürdigen Bedingungen. Riesige Flüchtlingslager im Libanon, in Jordanien oder der Türkei sind eindringliche Beispiele.
Katastrophal ist auch die Situation für Flüchtlinge aus Subsahara-Afrika, die – zumeist kriminellen Schlepperbanden ausgeliefert – den Weg durch die Sahara Richtung Europa riskieren, dabei aber oft bereits in Nordafrika jahrelange Martyrien ertragen müssen. Falls sie überhaupt ein Boot an der Küste erreichen, sind sie dann den bekannten Gefahren der Mittelmeerüberquerung ausgesetzt.
Millionen von Arbeitssuchenden haben sich, sowohl aus den ärmeren Ländern der Region heraus als auch aus Südasien und Afrika in die Golfregion aufgemacht, um dort Jobs in der Bauwirtschaft oder im Servicesektor zu finden. Das dort in manchen Staaten aufrechterhaltene Kafala-System diskriminiert insbesondere Menschen aus ärmeren Ländern, die willkürliche Ausnutzung bis hin zu körperlicher Ausbeutung erfahren. Fachkräfte, die im Golf oder außerhalb der Region eine Anstellung finden, fehlen oftmals spürbar in ihren Herkunftsländern, darunter Ärzte, Lehrerinnen, Ingenieure, Wissenschaftlerinnen bis hin zu Piloten.
Beunruhigende Perspektiven
Wenngleich alle Länder von diesen Herausforderungen betroffen sind, unterscheiden sich die Möglichkeiten zu Gegen- und Anpassungsmaßnahmen sehr. Die Golfstaaten investieren bereits massiv, zum Beispiel in Forschung und Agrartechnik, Nahrungsmittelproduktion, erneuerbare Energien und Entsalzungsanlagen. Ländern mit niedrigem oder mittlerem Einkommen ist dies nur bedingt möglich. Deren Staatsbudgets sind stark unter Druck und Prioritäten werden anders gesetzt, sodass die finanziellen Mittel fehlen, um mittel- und langfristige Herausforderungen anzugehen. Am meisten leiden Menschen in den verarmten und konfliktreichen Ländern. Sozioökonomische Ungleichheit, Diskriminierung und Perspektivlosigkeit werden dort weiter wachsen.
Viele der skizzierten Herausforderungen sind grenzüberschreitend. Intraregionale Kooperation ist jedoch nur gering ausgeprägt. Die Liga der Arabischen Staaten, 1945 gegründet mit dem Ziel, die Einheit unter den arabischen Ländern zu stärken, ist schwach, und die Beziehungen vieler regionaler Staaten sind eher konfliktreich. Dies gilt sowohl für das Verhältnis vieler arabischer Staaten mit Israel oder dem Iran als auch für die arabischen Staaten untereinander. Beispiele hierfür gibt es zahlreiche, wie die saudische Militärintervention im Jemen oder das anhaltend schlechte Verhältnis zwischen den Nachbarländern Algerien und Marokko.
Für Deutschland und Europa sind dies beunruhigende Perspektiven. Um weitere Instabilität in dieser ohnehin äußerst fragilen Region abzumildern, müssen vor allem die am stärksten betroffenen Gesellschaften und Gruppen unterstützt werden. Beispielsweise wären Maßnahmen zur Geburtenkontrolle sowie Bildungs- und Gesundheitsprogramme, ressourcenschonende Technologien in der Land-, Wasser- und Energiewirtschaft, Förderung von Wissensaufbau und -kooperation sowie faire Handelsbedingungen wünschenswert. Vor allem sollte sich Deutschland weiterhin für Demokratie und Menschenrechte einsetzen. Nur in inklusiven Gesellschaften, in denen politische und ökonomische Teilhabe für alle Bürgerinnen und Bürger möglich ist, können nachhaltige Lösungen erarbeitet werden, die die Bedürfnisse aller berücksichtigen.
Internationale Politik 2, März/April 2023, S. 25-29
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