Gegen den Strich

27. Febr. 2023

Gegen den Strich: Erdoğan und die Türkei

Auch einige Wochen nach der Erdbebenkatastrophe im Südosten des Landes kommt die Türkei nicht zur Ruhe. Angesichts der für Mitte Mai geplanten Wahlen ist es an der Zeit, eine Bilanz der 20-jährigen Amtszeit Recep Tayyip Erdoğans als Präsident und Ministerpräsident zu ziehen. Wie fällt sie aus, innen- wie auch außenpolitisch? Vier Thesen auf dem Prüfstand.

Bild
Bild: Handshake zwischen Erdogan und Putin
Lizenz
Alle Rechte vorbehalten

„,Dank’ Erdoğan steht die Türkei an der Schwelle zur Diktatur“

Ja, leider. Und es wird auch nicht dadurch besser, dass man heute lieber den scheinbar leichter verdaulichen Begriff der Autokratie verwendet. Beides bezeichnet die Herrschaft eines Einzelnen oder einer kleinen Gruppe, und beides steht im Gegensatz zum Rechts- und zum Verfassungsstaat und zur liberalen Deemokratie.



Doch die türkische Regierung gerät ganz außer sich, wenn westliche Medien, wie kürzlich der Economist, von einer „heraufziehenden Diktatur“ in der Türkei sprechen. Denn Recep Tayyip Erdoğan versteht sich selbst nicht als Autokrat oder Diktator, sondern als Musterdemokrat. Er behauptet, den Willen und das Wesen des Volkes vollkommen und im wahrsten Sinne des Wortes zu verkörpern.

2017 gelang es dem türkischen Staatspräsidenten, ein Präsidialsystem einzuführen. Das dafür notwendige Verfassungsreferendum fand unter den Bedingungen des Ausnahmezustands statt, die Opposition wurde benachteiligt und eingeschüchtert.

Erdoğan nannte die neue Ordnung ein Präsidialsystem „türkischer Art“. Denn die bestehende Verfassungsordnung, so Erdoğan seinerzeit, sei nicht „türkisch“, sondern aus dem Westen importiert und dem – gläubigen – Volk von verwestlichten Militärs und Intellektuellen aufgezwungen worden. Es gelte deshalb, eine neue Ordnung zu etablieren, die nicht nur der Identität des Volkes entspreche, sondern auch, so Erdoğan, auf „unserer altbewährten Herrschaftstradition“ (lies: dem Osmanenreich) aufbaue.

Wie der Verfassung, so mangele es auch den Gesetzen an kultureller Authentizität, weshalb ihnen nur eine relative Gültigkeit zukomme. Ähnlich stehe es um die Gewaltenteilung. Sie reproduziere nur immerfort den Streit um Identität und um Kultur. Frieden kehre erst ein, wenn alle Gewalten, Exekutive, Judikative und Legislative, vom selben kulturellen Geist durchdrungen seien.

Was Erdoğan sicher nicht weiß: Für den konservativen Staatsrechtler der Weimarer Republik, Carl Schmitt, war ein solches Politikverständnis Merkmal einer „souveränen Diktatur“. Schmitts souveräner Diktator verteidigt nicht die bestehende Ordnung, sondern hebt sie mit dem Ziel, Besseres zu schaffen, aus den Angeln. „Die souveräne Diktatur“, so Schmitt, „suspendiert nicht eine bestehende Verfassung kraft eines in dieser begründeten, also verfassungsmäßigen Rechts, sondern sucht einen Zustand zu schaffen, um eine Verfassung zu ermöglichen, die sie als wahre Verfassung ansieht.“ Sie berufe sich nicht „auf eine bestehende, sondern auf eine herbeizuführende Verfassung“.

Schmitt glaubte, es brauche einen „souveränen Diktator“, um die Weimarer Republik vor der drohenden Diktatur des Proletariats zu schützen. Erdoğan trat 2017 mit seiner Vision von Demokratie an, die aus seiner Sicht darin besteht, den gläubigen Teil der türkischen Bevölkerung vor der Dominanz säkularer Kräfte zu schützen. Schmitt schreibt, bei der Verfolgung seines hehren Zieles setze der souveräne Diktator sich über bestehende normative Beschränkungen hinweg. Er berufe sich dabei auf eine höhere Instanz – auf Gott, das Volk oder die Geschichte.

Erdoğan tut das ebenso, und aus diesem Grund sagt der türkische Präsident, mit seiner Politik habe die Türkei einen bis dato nicht erreichten Fortschritt in Richtung Demokratie gemacht. Mit dieser Definition von Demokratie steht er keineswegs allein da. Auch andere Autokraten behaupten, ihre Herrschaft sei auf einer höheren Ebene ganz demokratisch. Schließlich entspreche sie dem Wesen, der Kultur und der Identität des Volkes und sie erfülle die historische Mission ihrer Nation.

Schreitet man bei der Frage „Diktatur ja oder nein“ von der Betrachtung der Ideologie zur Bewertung der politischen Praxis, kann man sich an dem deutsch-amerikanischen Politikwissenschaftler Ernst Fraenkel orientieren. Fraenkel hat die Frage mit Blick auf vier Dimensionen beantwortet. In einer Diktatur bestimme ausschließlich die Regierung, was als Gemeinwohl gelte. Die Diktatur strebe gesellschaftliche Homogenität an, ihr Regierungssystem sei monistisch, und in Diktaturen stellten Grundrechte und Gerichtsentscheidungen keine wirksame Begrenzung für das Regierungshandeln dar.

In der heutigen Türkei bestimmt der Staatspräsident, was das Gemeinwohl ist. Für Erdoğan gehören zum Gemeinwohl: das Hervorbringen einer gläubigen Generation und die Einschränkung säkularer Lebensformen, eine hohe Geburtenrate der ethnischen Türken und eine niedrige der ethnischen Kurden, die Erhaltung traditioneller Geschlechterrollen und der Kampf gegen sexuelle Selbstbestimmung.

Unter Erdoğan strebt die Politik nicht nur – wie fast immer in der Geschichte der Türkischen Republik – eine ethnische (türkische) und religiöse (sunnitisch-muslimische) Homogenität der Bevölkerung an; sie will auch noch neotraditionelle Lebensformen für die gesamte Gesellschaft verpflichtend machen.

In der Türkei von Erdoğan gibt es kein Kabinett mehr. Die Exekutive besteht aus einer Person, die ihre Minister ohne Zustimmung des Parlaments ernennt und in allen Bereichen der Bürokratie das letzte Wort hat. Das Parlament hat sein Gesetzgebungsmonopol verloren, sein Budgetrecht und seine Möglichkeiten zur Kontrolle der Regierung sind arg beschnitten. Den Abgeordneten kann fast nach Belieben die Immunität entzogen werden.

Seit dem gescheiterten Putschversuch vom Juli 2016 stehen die Grundrechte und mehr noch die politischen Rechte zur Disposition der Exekutive. Die Verwaltung setzt sich über Gerichtsentscheidungen hinweg. Und wenn es im Sinne der Regierung ist, steht es den niederen Gerichten frei, Entscheidungen höherer Gerichte und selbst die des Verfassungsgerichts zu ignorieren. So folgt das Handeln Erdoğans unter dem Präsidialsystem exakt seiner Vision von „mehr Demokratie“.



„Erdoğan hat die Türkei als Regionalmacht etabliert“

Zweifellos. Während die Nachbarn im Norden, Osten und Süden von Krieg, Invasion, Bürgerkrieg und Staatszerfall geschwächt sind, hat Ankara in den vergangenen beiden Jahrzehnten seine militärischen Fähigkeiten deutlich ausgebaut. Wenn es allerdings um langfristige außenpolitische Erfolge geht – das muss man dazusagen –, dann ist die Bilanz durchwachsen. Die Türkei hat erhebliches Stör- und Verhinderungspotenzial, kann aber nur begrenzt gestalten.

Atemberaubend ist die Feuerkraft des türkischen Militärs, und groß ist die Bereitschaft der Regierung, mit seinem Einsatz Fakten zu schaffen. Das gilt besonders für Syrien, wo die Türkei drei große Abschnitte im Norden direkt kontrolliert, die zusammen etwa die Hälfte der türkisch-syrischen Grenzregion ausmachen. Dazu kommt die faktische Kon­trolle über die Provinz Idlib, in der das islamistische Milizenbündnis HTS nur formal das Sagen hat. Im benachbarten Irak hat das türkische Militär eine Vielzahl kleinerer Basen aufgebaut. Sie dienen der Bekämpfung der türkisch-kurdischen PKK, die die Gebirge Nordiraks seit Langem als Rückzugsgebiet nutzt.

Geradezu spektakulär war die Wirkung türkischer Drohnenangriffe 2020 in Libyen sowie im selben Jahr im Krieg zwischen Aserbaidschan und Armenien. Im östlichen Mittelmeer hat die Türkei 2019 ihre Marine dazu benutzt, Forschungsschiffe, die im Auftrag Zyperns unterwegs waren, an der Weiterfahrt zu hindern. 2020 stand die türkische Marine in zwei Fällen kurz davor, das Feuer auf ein französisches und ein griechisches Kriegsschiff zu eröffnen. In Nordzypern, Ka­tar und Somalia unterhält die Türkei Stützpunkte, in Libyen gleich zwei. Im Sudan hat der Sturz von Präsident Omar al-Baschir verhindert, dass die Türkei sich militärisch festsetzen konnte. In Afrika hat die Türkei mit 28 Staaten Abkommen über militärische Zusammenarbeit geschlossen.

In seiner näheren Umgebung hat Ankara jedoch nicht allzu viele Freunde. Im Arabischen Frühling hat man darauf gesetzt, dass in Ägypten und Syrien die Muslimbrüder an die Macht gelangen und danach Erdoğans Türkei als Primum inter pares anerkennen würden. Der Plan misslang, und Ankaras Einsatz für die Muslimbrüder führte zu einer Eiszeit mit Riad, mit Abu Dhabi, Kairo und auch mit Israel, wo Ankara sich zugunsten der Hamas weit aus dem Fenster gelehnt hatte.

Athen und Nikosia, die mit Ankara im Streit um maritime Grenzen liegen, nutzen den Zwist dazu, die Türkei in der Region weiter zu isolieren. Bilaterale Abkommen der beiden regelten die gegenseitige Abgrenzung Ausschließlicher Wirtschaftszonen von Israel, Zypern und Ägypten sowie von Kairo und Athen. 2019 schlossen sich Ägypten, Frankreich, Griechenland, Israel, Italien, Jordanien, der Staat Palästina und die Republik Zypern zur Gründung des East Med Gas Forum zusammen. Die neue Organisation versteht sich als Bollwerk gegen türkische ­Großmachtpolitik.

Seit fast zwei Jahren müht sich Ankara, Breschen in diese Front zu schlagen. Erdoğan ließ die Muslimbrüder fallen und pilgerte nach Riad und nach Abu Dhabi. Tatsächlich gelang es ihm, die Eiszeit zu beenden, und es fließt wieder Kapital vom Golf in die Türkei. Doch überall sitzt das Misstrauen tief. Weder Tel Aviv noch Kairo waren bislang bereit, mit der Türkei über Seegrenzen zu verhandeln.

Nachhaltige Erfolge in der Außenpolitik konnte Erdoğan weniger im Nahen Osten als in Zentralasien, im Kaukasus und in Afrika verbuchen. In Zentralasien gelang es ihm, den Turkischen Rat zur Organisation der Turkstaaten aufzuwerten, der heute Aserbaidschan, Kasachstan, Kirgisistan und die Türkei angehören und die ihren Sitz in Istanbul hat. Im Kaukasus, traditionell das Einflussgebiet Russlands, hat die Türkei nicht nur ihre Stellung gefestigt, sondern auch, zusammen mit Moskau, den Einfluss des Westens zurückgedrängt. Auch in Nordafrika erfolgt die Verstärkung der wirtschaftlichen und militärischen Präsenz der Türkei primär auf Kosten einer westlichen Macht, Frankreich. Das Spoilerpotenzial Erdoğans betrifft primär den Westen.



„In der Ukraine-Krise hat Erdoğan außerordentlich erfolgreich taktiert“

Das ist uneingeschränkt richtig, und es wird in der Türkei selbst von den schärfsten Kritikern des Präsidenten anerkannt. Wie souverän Erdoğan die Krise zum eigenen Vorteil nutzen und alle Seiten gegeneinander ausspielen würde, zeigte sich gleich nach dem russischen Einmarsch. Wenn es nichts kostet, unterstützt Erdoğan Kiew: Ankara verurteilte die russische Invasion und sprach sich dafür aus, die Ukraine in die NATO aufzunehmen. Doch die türkische Regierung gab auch umgehend bekannt, dass sie sich nicht an den Sanktionen der anderen ­NATO-Staaten und der EU beteiligen werde, und vermied es so, dass der Krieg ihr Unkosten bereitet.

Bereits nach vier Tagen schloss die Türkei die türkischen Meerengen, die das Schwarze Meer mit der Ägäis und dem Mittelmeer verbinden. Dazu berechtigt sie seit 1936 der Vertrag von Montreux. Doch der Vertrag erlaubt es Ankara im Grunde nur, den Kriegsschiffen der jeweils kriegführenden Staaten die Durchfahrt zu verweigern. Indem die Türkei die Meerengen für alle Kriegsschiffe blockierte, erschwerte sie zwar Russland die Nutzung seiner Flotte, verhinderte aber auch, dass Kriegsschiffe der USA, Großbritanniens oder Frankreichs ins Schwarze Meer einlaufen und dort Russland unter Druck setzen konnten. In den darauffolgenden Monaten entwickelte Erdoğan seine Politik des Sowohl-als-auch zur Meisterschaft und profitierte dreifach davon: ökonomisch, geostrategisch und politisch.

Während das Russland-Geschäft der übrigen NATO-Staaten einbrach, lag das Handelsvolumen der Türkei mit Russland nur wenig mehr als sieben Monate nach Beginn des Krieges um 198 Prozent über dem des Vorjahrs. Besonders stiegen die Importe russischen Erdöls und russischer Kohle. Ende Oktober 2022 hatten russische Staatsbürger in der Türkei rund vier Mal mehr Immobilien erworben als im Vorjahr. Zudem waren vier Mal mehr Firmen mit russischer Beteiligung gegründet worden. Ende 2022 hatten sich 800 Firmen mit russischem Kapital bei den türkischen Handelskammern registrieren lassen.

Das geschah nicht von ungefähr. Ausgerechnet auf seinem Rückflug vom NATO-Gipfel in Brüssel rief Erdoğan im März 2022 russische Unternehmer dazu auf, ihre Firmen in die Türkei zu verlagern. Im August desselben Jahres wurde ein Gesetz mit dem schönen Namen „Frieden mit dem Reichtum“ (Varlık Barışı) neu aufgelegt und auf nichttürkische Staatsbürger ausgedehnt. Es ermöglicht den Transfer aller beweglichen Vermögenswerte (Devisen, Gold etc.) und aller Finanzinstrumente ohne nennenswerte Steuern und ohne jegliche Prüfung darüber, wie dieser Reichtum generiert und in die Hände seiner Besitzer gelangt ist. Der Transfer muss nur bis Ende März 2023 abgeschlossen sein.

Doch Ankara profitierte nicht nur von den Angehörigen der russischen Mittel- und Oberschicht. Erdoğan erfreute sich auch der direkten Unterstützung Putins. Im Dezember 2022 verschob Moskau die Begleichung einer rund 20 Milliarden Dollar schweren Erdgasrechnung des türkischen Energiekonzerns BOTAS auf die Zeit nach den türkischen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im Mai.

Weil BOTAS sich zu 100 Prozent im Staatsbesitz befindet und Erdoğans Zustimmungswerte wegen der sich seit Jahren hinziehenden Finanzkrise und einer massiven Entwertung der Türkischen Lira im Sinkflug begriffen waren, kann dieser Schritt nur als Wahlkampfunterstützung Putins für Erdoğan verstanden werden. Bereits zuvor hatte der russische Staatspräsident mit einer 15-Milliarden-Dollar-Spritze dem Bau des ersten türkischen Kernkraftwerks wieder Leben eingehaucht. Das Projekt läuft unter Federführung der staatlichen russischen Energiefirma Rosatom und war wegen finanzieller Streitigkeiten ins Stocken geraten. Zudem versprach Putin, die Türkei zu günstigen Preisen mit Dünger zu versorgen und bot an, sie mit zusätzlichen Erdgaslieferungen zum Gas-Hub der Region zu machen, ein lang gehegter Traum der Türken.

Putin setzt auf Erdoğan, denn die Funktion der Türkei als Tor zum Westen ist für seine Regierung überlebenswichtig. Hier machen russische Bürger Urlaub, die Türkei ist Transitland für russisches Öl und Gas nach Europa, und in der Gegenrichtung gelangen westliche Produkte über Anatolien in Putins Reich. Zwar unterlaufen die Türken westliche Sanktionen. Doch können sie das in diesem Umfang nur deshalb, weil Waren aus Europa über den Umschlagplatz Türkei auf den russischen Markt gelangen. 

So wichtig ist Ankara für Moskau, dass Putin beide Augen zudrückt, wenn Ankara gleichzeitig Kiew unterstützt. Schon vor dem Einmarsch Russlands hatte die Türkei der Ukraine ihre berühmt-berüchtigten bewaffneten Drohnen verkauft und aus der Ukraine gepanzerte Fahrzeuge und anderes militärisches Gerät bezogen. Jetzt liefert Kiew Motoren für türkische Drohnen und eine modernisierte Version des russischen Flugabwehrsystems S 125.

Die Türken ihrerseits statten Kiew mit einem hochmodernen militärischen Kommunikationssystem aus und hoffen darauf, der Ukraine künftig auch Kriegsschiffe mittlerer Größe verkaufen zu können. Daneben produziert man gemeinsam: Der türkische Drohnenhersteller Baykar und der ukrainische Rüstungskonzern Ukroboronprom gründeten ein Joint Venture, die Black Sea Shield, die Flugmotoren und Lenkraketen produzieren wird. All das macht die Türkei weniger abhängig von westlichem Kriegsgerät und weniger verletzbar durch neue Waffenembargos und andere Sanktionen.

Mit diesem Doppelspiel hat Erdoğan sich clever als Vermittler zwischen Kiew und Moskau in Stellung gebracht und aller Welt gezeigt, wie eine konsequent an den eigenen nationalen Interessen ausgerichtete Politik nicht nur klingende Münze einbringen, sondern auch noch das eigene diplomatische Standing erhöhen kann. Die Welt dankte Erdoğan für seine Rolle beim Austausch von Gefangenen der Kriegsparteien und dafür, dass die Ausfuhr ukrainischen Getreides zumindest in begrenztem Umfang möglich wurde. Dasselbe war der Fall, als die Außenminister der beiden Kriegsparteien in der Türkei zusammenkamen.

Es ist deshalb kein Wunder, dass auf die Entrüstung in der EU und in den USA darüber, dass Erdoğan den Krieg kaltblütig für die eigenen Interessen nutzt, keine Taten gefolgt sind. Passiert ist bisher nur, dass eine europäisch-türkische Arbeitsgruppe in einem „konstruktiven Dialog“ einen Kompromiss finden und sicherstellen soll, dass die gegenseitigen Wirtschaftsbeziehungen keinen allzu großen Schaden nehmen. Die frühere spanische Außenministerin Ana de Palacio bezeichnet Erdoğan trotz aller Kritik an ihm denn auch als einen großen Diplomaten, von dem die Europäer das eine oder andere lernen könnten.



„Langfristig wird die Türkei an der Seite des Westens stehen“

Das ist alles andere als sicher. Wer fest dieser Meinung ist, der geht von den gegebenen Strukturen aus und hofft, dass sie die Politik auch weiterhin bestimmen werden. So hängt die Türkei wirtschaftlich gewaltig von Europa ab. 2021 gingen mehr als 41 Prozent der türkischen Exporte in EU-Staaten. Aus Europa (inklusive Großbritannien) kamen im selben Jahr um die 60 Prozent aller ausländischen Direktinvestitionen. Auch sicherheitspolitisch ist die Türkei fest im Westen verankert, seit sie 1952, drei Jahre vor der Bundesrepublik, der NATO beitrat. Im Kalten Krieg sicherte sie die Südostflanke des Bündnisses, und in den darauffolgenden Jahrzehnten beteiligte sie sich an zahlreichen Auslandseinsätzen, prominent in Afghanistan und auf dem Balkan.

Umgekehrt sehen in Washington alle Zweige der Regierung, das Weiße Haus, das State Department, das Pentagon und die Geheimdienste Ankara noch immer ausschließlich als Verbündeten. Zwar herrscht im Kongress zurzeit ein anderes Klima. Doch gibt es keine Anzeichen dafür, dass die Türkei in Planspielen der USA als möglicher Gegenspieler auftritt. Ein solcher Perspektivwechsel hätte für die US-Strategen erschreckend weitreichende, wenn nicht globale Konsequenzen.

Doch so tief und fest die Strukturen scheinen, die Ankara im Westen halten, so stark sind die Dynamiken, die es von ihm entfernen. Da ist die Neudefinition der Türkei durch Ahmet Davutoğlu als zentrale Macht in der Region und nicht als Anhängsel Europas. Da ist – durch die Niederschlagung der Gezi-Proteste 2013 dokumentiert – das Ende von Erdoğans Nimbus als proeuropäischer Reformer. Da ist der Stillstand im Beitrittsprozess der Türkei zur Europäischen Union. Da ist die Tatsache, dass Wa­shington und Ankara sich schon seit Jahren schwer tun, im Nahen Osten, im Kaukasus sowie im Östlichen Mittelmeer gemeinsame Interessen festzumachen.

Und da ist die Annäherung zwischen Erdoğan und Putin. Sie begann gleich nach dem fehlgeschlagenen Putschversuch von 2016, intensivierte sich durch den Erwerb des russischen Raketenabwehrsystem S-400, verstetigte sich über die so konflikthafte wie effektive Kooperation Russlands und der Türkei in Syrien und Aserbaidschan und hat im aktuellen Krieg in der Ukraine dazu geführt, dass Erdoğan auf internationalem Parkett eine zentrale Rolle spielen kann.

Putins und Erdoğans Zusammenspiel ist keineswegs nur punktuell. Es reflektiert gemeinsame Interessen, und es ist strategisch angelegt. Wie Putin begrüßt Erdoğan das Ende der globalen westlichen Dominanz, das Mittelmächten mehr Spielraum und mehr Einfluss ermöglicht. In Russland und in der Türkei bewerten die Regierungen die Politik des Westens als primäre Gefahr für die nationale Sicherheit ihrer Staaten, westlichen Lebensstil als Ausdruck kultureller Dekadenz und westliches Drängen auf Einhaltung der Menschenrechte als ein Untergraben ihrer Herrschaft.

Trotz alledem bleibt Russland für die Türkei der maßgebliche Konkurrent in der Region, im Kaukasus, Zentralasien und Syrien, und darf deshalb nicht allzu mächtig werden. Um Russland auf gleicher Augenhöhe zu begegnen, braucht Ankara die NATO. Gleichzeitig jedoch ist Moskau für Ankara auch unverzichtbar, als geopolitischer Gegenpol zum Westen, der Freiräume für die Türkei erschließt.

Ankaras Politik kann deshalb in jede Richtung kippen. Ob die Türkei im Westen bleibt, hängt einmal davon ab, ob sich die türkische Gesellschaft langfristig einem autoritären Regime unterwirft und sich von ihm gegen Europa in Stellung bringen lässt. Und zum anderen davon, wie sich das Kräftespiel zwischen freien und unfreien Staaten entwickeln wird.

Für Vollzugriff bitte einloggen.
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, März/April 2023, S. 106-111

Teilen

Themen und Regionen

Mehr von den Autoren

Dr. Günter Seufert ist Senior Fellow und Leiter des Centrums für angewandte Türkeistudien (CATS) in der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP).

0

Artikel können Sie noch kostenlos lesen.

Die Internationale Politik steht für sorgfältig recherchierte, fundierte Analysen und Artikel. Wir freuen uns, dass Sie sich für unser Angebot interessieren. Drei Texte können Sie kostenlos lesen. Danach empfehlen wir Ihnen ein Abo der IP, im Print, per App und/oder Online, denn unabhängigen Qualitätsjournalismus kann es nicht umsonst geben.