Internationale Presse

Macht der Medienhäuser

Japans Zeitungen sind sich bei großen Fragen oft grundsätzlich einig, streiten eher über Details. Aktuell zeigt sich das vor allem bei der als historisch zu bezeichnenden Aufrüstung sowie bei der Nachbereitung der Olympischen Spiele von Tokio. Große Uneinigkeit herrscht hingegen beim Thema Atomenergie.

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Am 16. Dezember 2022 verkündete Fumio Kishida etwas beinahe Epochales. „Die Welt befindet sich an einem Scheidepunkt“, erklärte der japanische Premierminister zu Beginn seiner Rede, mit der er die neue Sicherheitsstrategie vorstellte: Fortan wird der Verteidigungsetat auf 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts verdoppelt. Zudem erhalten die nationalen Selbstverteidigungskräfte mehr Ausrüstung, Befugnisse und praktisch auch neue Feinde: Neben Nordkorea und China zählt nun noch Russland offiziell zu den „potenziellen Bedrohungen“ Japans.



Inmitten des Angriffs der russischen Armee auf die Ukraine erlebt nicht nur Deutschland eine Zeitenwende. Die Entwicklungen in Japan sind gewissermaßen ­sogar noch drastischer. Artikel 9 der Verfassung verbietet dem Land das Recht zur Kriegführung – „für immer“, wie es darin heißt. Seit dem Aggressionskrieg im Zweiten Weltkrieg gibt sich Japan als Nation, die mit Krieg nichts zu tun haben will. Indem die Selbstverteidigungskräfte nun aber prinzipiell zu militärischen Gegenschlägen autorisiert sind, ist das Pazifismusparadigma wenn nicht überworfen, dann zumindest geschwächt.



Und ähnlich bemerkenswert wie dieses neue Selbstverständnis des japanischen Staates ist die öffentliche Diskussion darüber. Vor Beginn des Ukraine-Krieges war die wohl wichtigste Trenn­linie im Land die folgende Frage: Sollte Japan seine Verfassung umschreiben, den Pazifismusartikel 9 streichen, um sich der seit Ende des Zweiten Weltkriegs geänderten Weltordnung anzupassen? Rechts der Mitte ist man stets dafür gewesen, forderte ­damit die „Normalisierung“ Japans. Auf der linken Seite aber war man dagegen, warnte vor „Remilitarisierung“.



Doch nach der historischen Rede von Fumio Kishida brach in Japan nicht etwa eine Grundsatzdebatte darüber aus, ob die beschlossene Aufrüstung nun richtig sei oder falsch. Stattdessen wird seit Wochen über diverse Fragen diskutiert, die sich daraus ergeben. Die linksliberale Tageszeitung Asahi Shimbun, die sich in der Vergangenheit eher kritisch über Forderungen nach Aufrüstung geäußert hatte, forderte Ende Januar: „Japan benötigt eine realistische Mittel­ausstattung, um die Verteidigungsausgaben kontinuierlich zu erhöhen.“



Parallel dazu lästerte die konservative Yomiuri Shimbun über Japans Parteien links der Mitte, die den konservativen Premierminister Kishida für dessen Vorhaben kritisierten, die Aufrüstung durch höhere Steuern zu finanzieren. „Einfach nur in der Opposition zu sein, vertieft noch keine Parlamentsdebatten“, titelte die Yomiuri Shimbun in einem Leitartikel. Die Opposition müsste stattdessen konkrete Vorschläge machen, wo das nötige Geld herkommen könne.



Diese Verschiebung des Debattenschwerpunkts über Aufrüstungspolitik – vom „Ob“ aufs „Wie“ – spielt sich nicht nur zwischen ein paar Leitartikeln ab. Tatsächlich korreliert das, was in Japans größten Zeitungen geschrieben steht, auch relativ eng mit dem, was sehr viele Menschen in Japan lesen. Denn der Einfluss der großen Medienhäuser ist beträchtlich. Mit rund neun Millionen verkauften Exem­plaren pro Tag ist Yomiuri Shimbun die größte Tageszeitung der Welt. Auf Platz zwei folgt Asahi Shimbun mit einer Auflage von fast sieben Millionen pro Tag.



Und das ist längst nicht alles, was Japans Zeitungsmarkt zu bieten hat. Als der internationale Verband „World Associa­tion of Newspapers and News Publi­shers“ im Jahr 2016 die weltweit auflagenstärksten Zeitungen listete, landeten unter den Top 10 vier japanische. Neben Yomiuri Shimbun und Asahi Shimbun waren dies die politisch meist in der Mitte positionierte Zeitung Mainichi Shimbun sowie die auf Wirtschaftsnachrichten fokussierende Nihon Keizai Shimbun, besser bekannt als Nikkei, die auch noch auf eine Auflage von 2,7 Millionen Exemplaren pro Tag kam.



Zu den „großen Fünf“ der Medienhäuser gesellt sich noch die rechtsgerichtete Zeitung ­Sankei Shimbun, die 2016 „nur“ auf eine Tagesauflage von 1,6 Millionen kam und damit weltweit auf Platz 32 der größten Tageszeitungen landete. Der Verbreitungsgrad von Tageszeitungen in Japan ist einzigartig, wenngleich auch hier die Abonnentenzahlen inmitten der Digitalisierung abnehmen. Gerade für die größeren Medienunternehmen ist dies aber keine existenzielle Bedrohung: Jede der genannten fünf Tageszeitungen ist zugleich Eignerin eines national sendenden TV-­Kanals und von weiteren Formaten.



Insofern ist die Bedeutung dessen, wie in diesen Medienhäusern über aktuelle politische Themen gedacht wird, kaum zu unterschätzen: Sie setzen Themen, dominieren Debatten. Wobei sich über das vergangene Jahrzehnt aber auch wiederholt gezeigt hat, wie einig sich die größten Organe bei vielen wichtigen Themen doch sind.



Unkritische Berichterstattung

Ein Extrembeispiel hierfür sind die Olympischen Spiele von Tokio, die mit einem Jahr pandemiebedingter Verspätung im Sommer 2021 stattfanden, das Land aber bis heute beschäftigen. Über die vergangenen Monate sind die Schlagzeilen von Empörung bestimmt gewesen. Nachdem zum wiederholten Male herausgekommen war, wie Organisatoren die Spiele auch zur persönlichen Bereicherung genutzt hatten, forderte etwa die Mainichi Shimbun: „Die Blackbox individueller Interessen bei den Olympischen Spielen muss ans Tageslicht.“



Die anderen großen Tageszeitungen berichteten mit ähnlichem Duktus. Asahi Shimbun wünschte eine „unabhängige Untersuchung“ der Frage, wie es kommen konnte, dass Tokioter Offizielle wohl nicht nur im Internationalen Olympischen Komitee bestachen, um das Austragungsrecht nach Japan zu holen, sondern auch noch korrupt handelten, wenn es darum ging, private Sponsoren an Bord zu holen. Yomiuri Shimbun beklagte in dieser Sache die „Überabhängigkeit von Dentsu im Zuge des gesamten Olympiavorhabens“.



Dentsu ist hier ein interessantes Stichwort: Es ist der Name der größten Werbeagentur Japans, die die PR-Strategien diverser Konzerne betreut und bei Medienunternehmen für wichtige Inseratsplatzierungen sorgt. Für die Olympischen Spiele von Tokio wurde Dentsu als führende Agentur im Hintergrund engagiert; und mit Dentsu war die Sponsorenakquise so erfolgreich, dass die olympische Rekordsumme von mehr als drei Milliarden Dollar eingespielt wurde. Zu den offiziellen Partnern von „Tokyo 2020“ gehörten auch die fünf größten privaten Medienhäuser.



Fragen zu Olympia, die einer gründlichen Diskussion würdig gewesen wären, hätte es in Japan über die Jahre viele gegeben: Müssen die Spiele in einer Pandemie stattfinden? Nützen sie wirklich, wie versprochen, dem Wiederaufbau der durch die Natur- und Nuklearkatastrophe 2011 zerstörten Gebiete in Fukushima? Ist es wahr, dass für „Tokyo 2020“ keine Steuergelder verwendet wurden? In den größten Medien blieben solche Themen jedoch unterbelichtet. Auch der öffentliche Rundfunksender NHK (kurz für Nihon Housou Kyoukai), der die olympischen TV-Übertragungsrechte hatte, blieb zahm.



Aber jetzt, da das Großevent in der Vergangenheit liegt und Verantwortliche verhaftet wurden, nachdem die angesichts der Strukturen kaum überraschenden Machenschaften Stück für Stück ans Licht gekommen sind, üben sich die führenden Medien im Naserümpfen. Haben sie sich vielleicht irgendwie selbst schuldig gemacht, weil kritische Bericht­erstattung ausblieb? In Leitartikeln der Yomiuri Shimbun, die eine allgemeine Abhängigkeit von der PR-Agentur Dentsu beklagt, findet sich kein Wort der Selbstkritik.



Rückgang der Pressefreiheit

Der Blick von außen sieht anders aus, nicht nur in Bezug auf den Umgang mit den Olympischen Spielen. In der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen ist Japan über die vergangene Dekade von Platz 22 im Jahr 2012 auf derzeit Platz 71 abgerutscht. Die NGO kommentierte: „Japan, eine parlamentarische Demokratie, respektiert im Allgemeinen die Prinzipien von Pressefreiheit und Pluralismus, wenngleich Tradition und Geschäftsinteressen oft Journalisten davon abhalten, ihre Wäch­terrolle zu erfüllen.“



Ein typisches Beispiel für Tradition ist das im Land gängige System der „kisha kurabu“ (Autorenklubs), wie sie von diversen Behörden, Verbänden und Großunternehmen für akkreditierte Medienschaffende betrieben werden. Wichtige und exklusive Informationen geben größere Institutionen meist in ihren „kisha kurabu“ heraus – über den Zugang und Ausschluss von Journalisten zu diesen Klubs entscheiden die Institutionen selbst. Dass auf diese Weise eine allzu kritische Berichterstattung nicht gerade gefördert wird, liegt auf der Hand.



Wobei die jüngste Verschlechterung des Niveaus der Pressefreiheit auch im Zusammenhang mit Shinzo Abe steht, der Japan von 2012 bis 2020 regierte und mehrmals damit aufgefallen war, Medien zu wohlwollender Berichterstattung zu ermahnen. 2014 trat das Staatssicherheitsgesetz in Kraft, mit dem die Regierung ganze Themenbereiche für Jahrzehnte zum Geheimnis erklären kann. Whistleblowern sowie den Personen, die die betreffende Information veröffentlichen, drohen seither jahrelange Gefängnisstrafen. Reporter ohne Grenzen nennt das Gesetz „­drakonisch“.



Dass sich in Japan seither jegliche Debatten auf Detailfragen beschränken, lässt sich jedoch nicht sagen. Dies zeigt ein Thema, das die Nation weiterhin spaltet: die Atomenergie. Nach der Atomkatastrophe in Fuku­shima im März 2011 hatte die Regierung zunächst alle 54 Reaktoren im Land heruntergefahren und sogar einen Atomausstieg angekündigt. Kurz darauf aber distanzierte sie sich davon wieder. Und als Ende 2012 die seither regierende Liberalkonservative Partei (LDP) die Wahl gewann, bemühte sich der Staat um den Wiedereinstieg.



Umdenken in der Atompolitik

Nur ist das Thema eben umstritten. „Die grimmige Realität ist, dass es in absehbarer Zukunft keine Aussicht auf einen Kreislauf zum Recycling von Atomabfall oder eine permanente Lagerstätte gibt“, schrieb kürzlich die Asahi Shimbun, die in Bezug auf die Katastrophe von Fukushima sehr wohl für eine kritische Berichterstattung bekannt ist. So zeigt sich das Blatt äußerst skeptisch, was den Entschluss der Regierung angeht, fortan wieder verstärkt auf die Atomenergie zu setzen.



Vor dem Atomdesaster lag Japans Atomanteil im Strommix bei rund 30 Prozent. Nun soll er von derzeit rund 7 Prozent schnellstmöglich wieder auf über ein Fünftel steigen. Erreichen will die Regierung dies durch drastische Laufzeitverlängerungen, den Bau neuer Kraftwerke sowie die Inbetriebnahme möglichst vieler älterer Reaktoren, die nach dem Reaktor-GAU abgeschaltet wurden und unter den strenger gewordenen Sicherheitsregeln zunächst nicht wieder hochfahren konnten.



Die öffentliche Meinung ist geteilt. Vor dem GAU – durch den aufgrund der hohen radio­aktiven Strahlung bis heute die Rücksiedlung in ganze Ortschaften unmöglich bleibt – war eine Mehrheit der Bevölkerung positiv eingestellt. Die Katastrophe veränderte dies, machte die Atomkraft unbeliebt. Aber Mitte vergangenen Jahres, als aufgrund des Ukraine-Krieges die gestiegenen Energiepreise auch in Japan spürbar wurden, stieg die Unterstützung wieder. Eine Umfrage des Rundfunksenders NHK ergab Ende Dezember eine knappe Mehrheit, die für die ­verstärkte Nutzung von Atomkraft ist.



Vor diesem Hintergrund kritisierte die mittig eingestellte Mainichi Shimbun die Regierung für einen Mangel an Dialog: „Japans großer Schwenk in Richtung Atomkraft ist inakzeptabel ohne eine Debatte darüber.“ Immerhin vollziehe die Regierung einen Wandel von großer Bedeutung. Das Post-Fukushima-Mantra, die Abhängigkeit von Atomkraft zu reduzieren, werde mit dem Wiedereinstieg überholt, was bedauerlich sei: „Die Atomkatastrophe von Fukushima hat die Werte der Gesellschaft verändert. Die Menschen denken mehr über die ­Risiken nach, die damit verbunden sind, einen Atomreaktor in ihrem Ort zu haben. Und die Anstrengungen, Strom zu sparen, haben stark zugenommen.“



Wobei das nicht jeden überzeugt. „Es ergibt Sinn, alle Energiequellen anzuzapfen, inklusive Atomkraft, die praktisch keinen Kohlenstoffdioxid ausstößt“, kommentierte die industrienahe Nihon Keizai Shimbun. Die Sankei Shimbun wiederum berichtete auch aus geopolitischer Per­spektive mit Zustimmung: „Die USA und Japan einigen sich auf eine Zusammenarbeit bei der Entwicklung von Kernreaktoren der nächsten Generation. Und die USA begrüßen Japans Umdenken in der Atompolitik.“



Zumindest bis zum Frühjahr dürften sowohl die Energie- als auch die Verteidigungspolitik weiterhin im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses in Japan stehen. Im Mai lädt Premierminister Kishida die Regierungschefs der USA, Deutschlands, Großbritanniens, Frankreichs, Kanadas und Italiens zum G7-Gipfel ein. Und der Ort wird einer sein, der wie kaum ein anderer für Krieg, Frieden und das Atom zugleich steht: Hiroshima, die Stadt, die 1945 durch eine Atombombe zerstört wurde. Auf Leitartikel voller historischer Referenzen kann man dann gefasst sein.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, März/April 2023, S. 116-119

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Felix Lill

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Dr. Felix Lill ist Journalist und Autor. Er berichtet aus vielen Ländern, vor allem mit Fokus auf Ostasien.

 

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