Weltspiegel

24. Febr. 2023

Stresstest-Ergebnis: ungenügend

Die deutsche Sicherheitspolitik der vergangenen Jahrzehnte hat sich als strategisch falsch erwiesen. Scholz’ Zeitenwende-Rede versprach einen neuen Kurs. Doch dieser steckt in Ansätzen fest.

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German Chancellor Olaf Scholz poses in front of a German self-propelled anti-aircraft gun Flakpanzer Gepard during a visit of the training program for Ukrainian soldiers on the Gepard anti-aircraft tank in Putlos near Oldenburg, Germany August 25, 2022.
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Deutschland hat in den vergangenen Jahrzehnten Russland ins europäische Sicherheitssystem einbinden und von den bilateralen Wirtschaftsbeziehungen profitieren wollen. Bis zum 24. Februar 2022 hat Berlin weitgehend übersehen, dass beides aufgrund der innenpolitischen Entwicklungen in Russland und des russischen Strebens nach der Wiederherstellung von Einflusssphären in Europa nicht möglich ist.



Vor allem in der Energiepolitik setzte Berlin auf enge Kooperation mit Russland. In den Jahren vor 2022 wurde Deutschlands Abhängigkeit von billigen russischen Energieimporten immer größer. Die Nord Stream 2-Pipeline sollte Europa zusätzlich mit russischem Gas versorgen. Der Bau der Pipeline wurde 2015 – nach der russischen Annexion der Krim – vereinbart. Dass Berlin so die Ukraine und Ostmitteleuropa russischen Erpressungsversuchen ausliefern könnte, wollte man nicht zur Kenntnis nehmen. Derweil konnten russische Unternehmen weiter Gasspeicher und Raffinerien in Deutschland übernehmen, obwohl Russland bekanntermaßen energiepolitische Instrumente für eigene Zwecke ausnutzt. Politische Korruption, die Russland in Deutschland lange betrieb, wurde ausgeblendet – seien es Aufsichtsratsposten in russischen Konzernen für deutsche Politiker oder die von Gazprom gesponsorte Stiftung Klima- und Umweltschutz in Mecklenburg-Vorpommern.



Von nachrangigem Interesse

Weil die Beziehungen zu Russland als Priorität behandelt wurden, war die Ukraine-Politik für Berlin nachrangig. Aus der Rücksichtnahme auf russische Interessen hat Deutschland die Ukraine in der Pufferzone zwischen Russland und Europa gesehen, wenn auch diese Lage – wegen des russischen Bestrebens nach der Unterordnung des Landes – für Kiew unhaltbar war. Berlin sprach sich 2008 gegen die ukrainische Mitgliedschaft in der NATO aus und war gegenüber der möglichen langfristigen EU-Mitgliedschaft des Landes äußerst skeptisch. Die Minsker Abkommen, die Bundeskanzlerin Angela Merkel 2015 mitverhandelte, um die russische Offensive im Donbass zu stoppen, waren für Kiew in der russischen Auslegung nicht tragbar. Ihre Umsetzung im Sinne Moskaus hätte einen Souveränitätsverlust der Ukraine an Russland bedeutet. Wohlwissend – wie die Bundeskanzlerin a.D. im Herbst 2022 zugegeben hat –, dass „Minsk“ nur eine Pause im Konflikt war, hat sich Deutschland noch bis zum Februar 2022 gegen Waffenlieferungen an die Ukraine gestemmt.



Zugleich wurde im Rahmen der Umstellung der Streitkräfte auf die Krisenmanagement-Operationen seit 2011 kräftig gespart. Erst nach der Annexion der Krim stimmte die Bundesregierung einer eingeschränkten militärischen NATO-Präsenz an der Ostflanke zu und beteiligte sich in Litauen daran. Sie bestand aber weiterhin darauf, dass das Bündnis an der ­NATO-Russland-Grundakte einseitig festhalten sollte. Seit 2014 wurde die Teilnahme an der kollektiven Verteidigung der NATO für die Bundeswehr wichtiger, allerdings waren die dafür eingeleiteten Reformen ungenügend. Die Rüstungskontrolle, die Moskau seit Jahren unterminierte, schien Berlin immer noch ein mindestens genauso wichtiges Instrument, um europäische Sicherheit zu fördern.



Am 24. Februar 2022 stand also nicht nur die Bundeswehr mehr oder weniger blank da, sondern auch die bisherige deutsche Sicherheitspolitik. Strategisch, politisch und mental war man auf die Rückkehr des Krieges in Europa und auf die Notwendigkeit der Einhegung eines aggressiven Russlands nicht vorbereitet.



Ängstliche Russland-Politik

Die Zeitenwende-Rede von Bundeskanzler Scholz weckte im In- und Ausland Erwartungen auf einen strategischen Wandel Deutschlands. Ein Jahr später fällt die erste Bilanz durchwachsen aus. Die Zeitenwende wurde vor allem in der Energiepolitik vollzogen: Deutschland ist es gelungen, vollständig auf russisches Erdgas, Kohle und Rohöl zu verzichten. Die enge deutsch-russische Zusammenarbeit im Gassektor ist somit Geschichte. Die Bundesregierung diversifizierte deutsche Gasimporte, baute die LNG-Infrastruktur schnell aus und nahm russische Firmen im deutschen Energiesektor in Treuhänderschaft – wie im Falle von Gazprom Germania und Uniper. Sollte Berlin, hypothetisch gesprochen, nach einem Ende des russischen Krieges wieder Erdgas aus Russland beziehen, wäre dies in nur einem viel kleineren Ausmaß politisch möglich und energiepolitisch tragbar.



Die erste Bilanz der Zeitenwende in der deutschen Politik gegenüber Russland und der Ukraine ist dagegen zweideutig. Einerseits hat Berlin nach dem 24. Februar für die Sanktionen gegen Russland gestimmt, auch wenn die Bundesregierung manches Mal nur für eine verzögerte Einführung oder sonstige Einschränkungen plädierte. Zudem unterstützt Deutschland die Ukraine mit humanitären und finanziellen Mitteln und auch mit Waffenlieferungen im Wert von bislang rund zwei Milliarden Euro. Wenn man aber genauer auf „die Liste der militärischen Unterstützungsleistungen“ schaut, finden sich darauf nur wenige schwere Waffensysteme. Nur 14 Panzerhaubitzen 2000 und fünf MARS-II-Mehrfachraketenwerfer wurden bislang geliefert. Auch wenn bald 14 Leopard-Panzer 2A6 und 40 Schützenpanzer Marder dazukommen, gefolgt von Leopard-1A5-Panzern und weiteren Panzerhaubitzen, ist dies im Vergleich zu den Lieferungen schwerer Waffensysteme der Verbündeten an der Ostflanke wenig. Berlin hat bis vor Kurzem vor allem auf Lieferung von Logistik, Ausstattung und Luftverteidigungssystemen gesetzt, darunter eine Patriot-Batterie und vier IRIS-T- SLM-Batterien, von denen noch nicht alle in der Ukraine angekommen sind. Natürlich sind diese Lieferungen für den Schutz der Zivilbevölkerung wichtig; aber sie werden den ukrainischen Streitkräften nicht zum Sieg über Russland verhelfen.



Die zögerliche Haltung des Bundeskanzlers bei der Frage nach der Lieferung schwerer Waffen wirft Fragen auf – umso mehr, wenn man genauer auf die Formulierung schaut, die Scholz benutzt. Laut dem Bundeskanzler darf Russland den Krieg nicht gewinnen, und die Ukraine ihn nicht verlieren. Im Laufe der vergangenen Monate hat man immer stärker den Eindruck gewonnen, dass der Bundeskanzler auf ein „Einfrieren“ des Konflikts setzt, aus Angst vor einer Eskalation des Krieges seitens Russland, die vor allem im linken Flügel von Scholz’ SPD und Teilen der deutschen Öffentlichkeit gehegt wird.



Der Bundeskanzler scheint zu glauben, dass eine wesentliche Schwächung Russlands unvorhersehbare negative Konsequenzen mit sich bringen könnte: Das Ende des Putin-Regimes könnte den Zusammenbruch des ganzen Landes bedeuten. Für die Ukraine wäre ein solches Szenario allerdings nur eine Pause im Krieg. Das Fortbestehen eines autoritären Russlands bedeutet, dass die Versuche des Kremls, Einflusssphären in seiner Nachbarschaft zu schaffen, weitergehen werden.



Alles beim Alten?

Die Zeitenwende-Rede wurde im Kontext der Ereignisse Ende Februar gehalten. Die Bundesregierung, aber auch weite Teile des Westens, waren sich fast sicher, dass die Ukraine den russischen Angriff als Staat nicht überleben würde. Trotz der unmittelbar erteilten Genehmigung von Waffenlieferungen an Kiew ging Berlin davon aus, dass man bald in einer anderen Realität leben werde, also mit einer Russland untergeordneten Ukraine an den Grenzen der NATO. Die Zeitenwende in der deutschen Politik hat sich anfangs kaum auf die Ukraine bezogen, und auch deswegen leben die alten Dogmen der deutschen Ukraine-Politik fort.



Aus strategischen Gründen brauchen Deutschland und Europa heutzutage eine andere Politik gegenüber Kiew. Um langfristig den Frieden in der Region und in Europa zu garantieren, ist eine erfolgreiche, wiederaufgebaute Ukraine notwendig, die ein Teil des Westens ist. Die Mitgliedschaft in der EU und in der NATO ist dafür entscheidend. Einerseits ist die Integration für die Ukraine ein Ansporn, ernsthaft die dafür notwendigen Reformen umzusetzen. Andererseits durchkreuzt sie die russischen neoimperialen Pläne und ist das beste Instrument, um von außen auf einen innenpolitischen Wandel in Russland hinzuwirken. Der Kreml wird auf seine Hegemonialansprüche nicht verzichten, falls die Ukraine in einer Pufferzone bleibt. Dies bedeutet mittel- und langfristig Krieg in Osteuropa und möglicherweise darüber hinaus.



Trotz umfassender deutscher Hilfeleistungen an die Ukraine scheint die Bundesregierung diese strategischen Fragen nicht zu verstehen. Berlin hat sich zwar gegenüber der ukrainischen EU-Mitgliedschaft geöffnet, blickt aber weiterhin skeptisch auf den Integrationsprozess und bleibt in der EU eher eine hemmende Kraft. Die ukrainische NATO-Mitgliedschaft oder auch eine abgestufte Annäherung der Ukraine ans transatlantische Bündnis ist in Berlin weiterhin ein Tabu.



Von der Zeitenwende hat man sich vor allem in Sachen deutscher Sicherheitspolitik viel versprochen – in einer neuen Realität, in der ein brutaler Krieg in Europa herrscht. Seit Jahren ist eine umfassende Modernisierung der Bundeswehr notwendig, mehr deutsches militärisches Engagement für die Abschreckung und Verteidigung in der NATO und an deren Ostflanke ebenso. Trotz des „Sondervermögens“ ist davon ein Jahr nach Kriegsbeginn nicht viel zu sehen. Es scheint auch, dass es die Bundesregierung mit dem 2-Prozent-Ziel doch nicht so ernst meint.



Man freut sich zwar an der Ostflanke über die zusätzlichen deutschen militärischen Beiträge vor allem bei der Luftverteidigung – in Litauen, in der Slowakei und jüngst auch in Polen. Aber alles in allem werden in Osteuropa die alten Fragen gestellt: Wie steht es um die militärischen Fähigkeiten Deutschlands, sich kurz-, mittel- und langfristig stärker bei der kollektiven Verteidigung in der NATO zu engagieren? Und wie steht es um den politischen Willen und das strategische Denken, die notwendig sind, um Europa verteidigungsfähiger zu machen, falls die USA in der Zukunft die eigene Präsenz in Europa verringern?



Die vom Bundeskanzler angesprochene Angst vor der Eskalation des Krieges, vor einem „Dritten Weltkrieg“, in den Deutschland hineingezogen würde, zeigt, dass Berlin weder die strategische Kommunikation noch die strategischen Ziele Russlands verstanden hat. Aus der Perspektive der Ostflanke ist das Ergebnis von Deutschlands sicherheitspolitischem Stresstest bislang ungenügend.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, März/April 2023, S. 74-77

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Justyna Gotkowska ist stellvertretende Direktorin von OSW, dem Zentrum für Oststudien in Warschau.

 

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