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01. Aug. 2003

Tod durch Überforderung?

Über die Zukunft der repräsentativen Demokratie

Alle Prognosen waren falsch, argumentiert der Autor Eberhard Sandschneider: Weder die Abgesänge auf die Staatsform Demokratie noch die diskutierten Visionen vom „Ende der Geschichte“ haben sich bestätigt. Obwohl die Anzahl demokratischer Systeme seit 1985 um fast 100 Prozent zugenommen hat, stehen Demokratien heute vor allem vor der Herausforderung, ihren „Effizienzpol“ zu stärken – gelingt ihnen das nicht, drohen sie an Selbstüberforderung zu scheitern.

Alle Prognosen über die Zukunft der Demokratie waren falsch – die optimistischen ebenso wie die pessimistischen. Kaum ein Thema hat ähnlich viele Kontroversen ausgelöst. Das Potpourri der Meinungen und Positionen ist durchaus beeindruckend. Und immer ging und geht es um zwei zentrale Fragen: Um Bedrohung von außen und um Leistungsfähigkeit im Inneren.

Im Sommer des Jahres 1986 veröffentlichte der französische Publizist Jean-François Revel den vermeintlichen Abgesang auf die Demokratie. In seinem Buch „So enden die Demokratien“1 begründet er durchaus überzeugend, warum westliche Demokratien an ihrer Unfähigkeit zugrunde zu gehen drohen, sich aggressiven außenpolitischen Gegnern – damals noch in Gestalt kommunistischer Systeme – entgegenzustellen. Ein Jahr später widersprach der deutsche Staatsrechtler Martin Kriele, für den die „demokratische Weltrevolution“ längst im Gange war.2 1989 schien es so, als habe Kriele diese Debatte der späten achtziger Jahre gewonnen: Der Siegeszug der Demokratie war in den letzten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts in der Tat überzeugend. „Die Welt wird demokratischer“ postulierte der im Jahr 2002 veröffentlichte Bericht des UN-Entwicklungsprogramms3 und verwies darauf, dass seit 1985 die Zahl der Autokratien von 67 auf 26 zurückgegangen sei, die Demokratien sich dagegen im gleichen Zeitraum von 44 auf 82 fast verdoppelt hätten. Gleichzeitig seien Schritte in Richtung Demokratie von 26 weiteren Staaten unternommen worden. Der Anteil der Weltbevölkerung, der in demokratischen Systemen lebt, sei von 38% auf 57% gestiegen, während „nur noch“ 30% autoritär regiert würden. Das ist eine quantitativ beeindruckende Bilanz, aber dennoch kein Anlass zu demokratischer Selbstzufriedenheit oder dafür, die Debatte über die Zukunft der Demokratie zu beenden.

An Angeboten zur Erklärung der Welt hat es gerade nach dem Ende des Kalten Krieges nicht gefehlt. Nach den Umbrüchen des Jahres 1989 war es zunächst Francis Fukuyama, der mit seiner These vom „Ende der Geschichte“ Furore machte.4 Der Großmeister politikwissenschaftlicher Begriffsetzung, Harvard-Professor Samuel Huntington, bewies einmal mehr sicheren Instinkt, indem er eigentlich Selbstverständliches als „Dritte Welle der Demokratisierung“5 bezeichnete und sich erneut seinen angestammten Platz im Olymp der Zitierrekorde sicherte.

Eben dieser Huntington hatte bereits 1975 an einem Buch mitgeschrieben, das unter dem Titel „Die Krise der Demokratie“ Probleme demokratischer Leistungsfähigkeit im Inneren kritisch beleuchtete.6 Damals wie heute ging es um stagnierendes Wirtschaftswachstum, Arbeitslosigkeit, Inflationsgefahren, Schwankungen in der Weltwirtschaft und innenpolitische Destabilisierung durch Terrorismus und politisches Fehlverhalten einzelner Politiker („Nixon-Schock“).

Wo also liegen die eigentlichen Gefahren für die Zukunft? Hat der internationale Terrorismus die Rolle der zugrunde gegangenen kommunistischen Staaten als zentrales Feindbild übernommen? Brauchen demokratisch verfasste Gemeinwesen überhaupt solche Feindbilder, um sich in ihren Entscheidungen legitimieren und in ihrem Versagen rechtfertigen zu können? Kann es Antidemokraten gelingen, Demokratien so unter Druck zu setzen, dass sie an ihren eigenen Unzulänglichkeiten zugrunde gehen?

Auch 14 Jahre nach der Zeitenwende von 1989 überwiegt Pessimismus. Während Übereinstimmung herrscht, dass mit dem Ende des Kommunismus die wesentliche externe Bedrohung weggefallen ist, bleiben die Sorgen um die inneren Entwicklungspotenziale der Demokratien. Lord Dahrendorf stellte unlängst die fast bange Frage: „Can European Democracy Survive Globalization”?7 Er formulierte damit eine Sorge, die für ihn im Wesentlichen mit Phänomenen eines „wachsenden Autoritarismus“ zu tun hat. Selbst wenn man Dahrendorfs Sorge so nicht teilt, lassen sich aus den Debatten der letzten Jahre zunächst zwei zentrale Aussagen gewinnen: Demokratien funktionieren nur mit marktwirtschaftlicher Basis und Demokratien fördern Demokratie.

Marktwirtschaft als Voraussetzung

Bis in die Mitte der achtziger Jahre tobte unter westlichen Sozialwissenschaftlern ein Streit über die Voraussetzungen erfolgreicher Demokratisierung und wirtschaftlicher Prosperität. Modernisierungstheoretiker empfahlen den Entwicklungsländern die Einbindung in das kapitalistische Weltsystem, Dependenztheoretiker das genaue Gegenteil. Bibliotheken füllten sich mit Texten, die die Frage nach Henne und Ei zu beantworten suchten: Braucht man zuerst ökonomische Entwicklung, um dann irgendwann demokratische Strukturen etablieren zu können? Sollte beides gleichzeitig geschehen? Oder ist Demokratisierung die unabdingbare Voraussetzung für wirtschaftlichen Aufschwung?

Diese Fragen sind durch den gelungenen Entwicklungsweg insbesondere ostasiatischer Systeme beantwortet: Grundlage für nachhaltig erfolgreiche Demokratisierung sind wirtschaftlicher Erfolg, die daraus erwachsende Herausbildung von partizipationswilligen Mittelschichten und die Bereitschaft autoritärer Regime, ihr Machtmonopol friedlich in Strukturen demokratischer Konkurrenz zu überführen.

Für geraume Zeit lenkte die Erfindung „asiatischer Werte“ von diesen Einsichten ab: Eine neuerliche Debattenwut erfasste die Zunft, als ausgewiesene Autokraten – zu deren Wortführern der malaysische Ministerpräsident Mohammed Dato Seri Mahathir und Tokios Oberbürgermeister Shintaro Ishihara gehörten8 – behaupteten, westliche Demokratien und asiatische Werte seien unvereinbar. Dabei ging es nicht um die Wirklichkeit, denn Entwicklungen in Taiwan und Südkorea hatten längst den praktischen Beweis des Gegenteils erbracht. Es ging auch nicht um den interkulturellen Dialog, sondern nur um den verzweifelten Versuch einiger asiatischer Politiker, die demokratischen Geister, die man durch den Zauber marktwirtschaftlicher Erfolge gerufen hatte, wieder loszuwerden. Die Debatte verstummte schlagartig mit dem Einsetzen der Asien-Krise.

Für alle Fälle erfolgreicher Transformation zur Demokratie in unterschiedlichen Weltregionen gilt: Der Zugang zur Kontrolle von politischer Herrschaft, der Modus der Festlegung von politischen Agenden, Gewaltenteilung und Freiheitsrechte sind Kernbestandteile repräsentativer Demokratie, die, im euroatlantischen Kontext entwickelt, auch in anderen Kulturen erfolgreich zur Anwendung kommen können. Umgekehrt gilt: Die Chancen auf nachhaltige Durchsetzung von Demokratie sind um so schlechter, je fragmentierter eine Gesellschaft ist, je geringer ihr sozio-ökonomisches Entwicklungsniveau und je stärker soziale Machtressourcen auf exklusive Entscheidungsträger konzentriert sind.

Mittlerweile hat sich aber gerade in Anbetracht der Erfahrungen in den Transformationsgesellschaften Mittel- und Osteuropas die Erkenntnis durchgesetzt, dass es deswegen noch lange keinen geschichtsnotwendigen Determinismus hin zur westlichen Demokratie gibt. Wenn sich Demokratien nicht langfristig als fähig erweisen, interne Problemlösungskapazitäten aufzubringen, können sie scheitern. Im Vergleich mit kommunistischen Systemen haben sie dieser Herausforderung zwar über fast ein halbes Jahrhundert standgehalten. Sie werden es jedoch auch weiterhin – nach innen wie nach außen – tun müssen, wenn sie stabil bleiben wollen. Das vermeintliche Ende der Geschichte ist wohl eher eine unendliche Geschichte. Und die zentrale Einsicht lautet: Demokratisierung ist ein reflexives Phänomen.

Demokratien fördern Demokratie

Alle Formen externer Demokratieförderung, wie sie derzeit zum Teil mit hohem Aufwand praktiziert werden, werden auf Dauer ohne Erfolg bleiben, wenn sie übersehen, dass die erfolgreiche Verbreitung und Konsolidierung von Demokratie weniger an direkte und indirekte Einflussnahme, sondern an die Diffusion überzeugender demokratischer Ideen gebunden ist. Anders formuliert: Ideen politischer Ordnung lassen sich nur dann über den zeitlichen, kulturellen und geographischen Raum ihrer Entstehung hinaus verbreiten, wenn sie aus sich heraus Attraktivität aufweisen. Es ist schwer, solche Ideen rein imperialistisch zu transplantieren, weil der Versuch, von außen politische Ordnung zu schaffen, zwangsläufig Widerstand weckt. Nur wenn es gelingt, die Attraktivität demokratischer Strukturen bei der Bevölkerung solcher Systeme zu steigern, kann Hilfe von außen sinnvoll zum Aufbau von Demokratie beitragen. Der „Kampf um die Köpfe“ ist wichtiger als materielle Hilfeleistung. Wie entscheidend diese Form des Legitimitätsglaubens ist, zeigte sich sehr exemplarisch am Niedergang des Sowjetimperiums, der schon längst vor der praktischen Erosion von Politik und Wirtschaft in den Köpfen der Menschen begonnen hatte.

Demokratieförderung von außen kann also nur flankierend funktionieren. Dauerhafte Demokratisierung muss „von innen“ kommen. Hilfe ist wichtig, aber nicht entscheidend für den dauerhaften Erfolg einer demokratischen Transformation. Wo diese Voraussetzungen nicht gegeben sind, stellen sich sehr schnell Verwerfungen ein. Längst haben wir begonnen, die Fehlentwicklungen einer ganzen Bandbreite von Demokratisierungsprozessen mit Begriffen wie „defekte“ oder „illiberale“ Demokratie zu belegen. Russlands „delegative Demokratie“ und die totalitären Tendenzen in Weißrussland und der Ukraine sind nur drei von vielen, lebhaft diskutierten Beispielen. Die meisten Debatten greifen aber zu kurz, wenn es um die eigentlichen demokratischen Herausforderungen zu Beginn des 21.Jahrhunderts geht.

Legitimität und Effizienz

Legitimität und Effizienz bilden die Spannungspole jedes funktionierenden demokratischen Systems. Der Legitimitätspol ist an der Frage sozialer Geltung als rechtens ausgerichtet: Auch unpopuläre Entscheidungen werden von Bürgern akzeptiert, wenn ihre Notwendigkeit einleuchtet. Legitimität ist der Maßstab für die Akzeptanz demokratischer Politik in der jeweiligen Bevölkerung. Der Effizienzpol zielt auf die Leistung demokratischer Politik im Sinne ihrer Fähigkeit, adäquate Problemlösungen zu präsentieren. Im Spannungsfeld dieser beiden Pole war die demokratische Entwicklung seit 1789 auf die Stabilisierung der Demokratie durch Steigerung von Partizipation, also auf eine Stärkung des Legitimitätspols ausgerichtet.

Stehen wir insofern auch vor einem neuen demokratietheoretischen Einschnitt? Immerhin sind alle wesentlichen Beiträge zur Weiterentwicklung unserer demokratietheoretischen Konzeptionen über die letzten zwei Jahrtausende nie in Zeiten normaler, sondern fast ausschließlich in Zeiten von Krisen der jeweiligen Gemeinwesen erbracht worden. Muss also auf die seit rund 200 Jahren anhaltende Entwicklung der Stabilisierung von Demokratie durch Steigerung von Legitimität jetzt eine ganz neue Phase der Stabilisierung der Demokratie durch Steigerung von Effizienz folgen?

Dass Demokratien bei der Lösung von gesellschaftspolitisch relevanten Problemen versagen und in der Konsequenz sogar untergehen können, ist historisch vielfach belegt. Der Militärputsch von General Pervez Musharraf in Pakistan, der eine völlig marode, korrupte, aber demokratisch gewählte Regierung ablöste, ist nur eines der jüngeren Beispiele. Letztlich gilt hier die Einsicht, dass kein politischer Systemtyp auf Dauer per se stabil ist.

Droht also die Gefahr, dass auch etablierte Demokratien versagen können, wenn sie sich als unfähig erweisen, auf neue Herausforderungen flexibel zu reagieren? Und was genau charakterisiert dann eine solche nicht mehr nur akzeptanz-, sondern jetzt verstärkt effizienzorientierte Problemlösungskapazität demokratischer Systeme?

Probleme demokratischer Legitimität erweisen sich in aller Regel als temporär und damit vergleichsweise leicht behebbar. Die immer wieder aufflammende „Nichtwähler-Debatte“ zeigt, dass sich Wähler in bestimmten Situationen durchaus gegen aktive Partizipation an Wahlen, dem wesentlichen Legitimitätsinstrument, entscheiden. Doch sie lassen sich ohne weiteres auch wieder für eine Beteiligung zurückgewinnen, wenn Situationen, Themen oder Personen sie entsprechend motivieren.

Ganz anders sieht es bei Effizienzproblemen aus. Unabhängig von tagtäglichen Entscheidungsvorgaben, die jedes demokratische System bewältigen muss, sind es für die künftige Entwicklung von Demokratien im Wesentlichen vier Problemkreise, denen besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden sollte.

Demokratische Selbstüberforderung

Eine der größten Herausforderungen für repräsentative Demokratien dürfte aus wachsenden Phänomenen demokratischer Selbstüberforderung entstehen: Schuldzuweisungen an die Fehlleistungen von Politikern – ohne hier im Einzelfall beschönigen zu wollen – sind häufig vorschnell und vor allem zu einfach. Zu den zentralen Entwicklungsmustern gerade demokratischer Systeme gehört jedoch der Trend, die Erwartung an die Regelungskapazität von Politik kontinuierlich zu steigern. Die Aufgaben des Staates und die Erwartungen der Bürger nehmen ständig zu – aber die Problemlösungsfähigkeit des demokratischen Staates hat sich nicht nennenswert geändert. Wen wundert es also, dass sich die Schere zwischen Ansprüchen an und Leistung von demokratischer Politik ständig weiter öffnet und der Unmut enttäuschter Bürger wächst?

Diese Überlastung demokratischer Systeme lädt geradezu dazu ein, von populistischen Politikern missbraucht zu werden. Mit medienwirksamen Anklagen, unerfüllbaren Versprechen und dem Vorgaukeln leichter Lösungen streben sie nach Teilhabe an Macht, ohne sich wirklich die Mühe gemacht zu haben, Lösungsansätze für die immer komplexer werdenden Probleme moderner Gesellschaften zu erarbeiten. Die Grundfragen des Spannungsverhältnisses von Legitimität und Effizienz sind evident.

Je mehr Probleme der Daseinsvorsorge des Einzelnen dem Staat aufgebürdet werden, um so mehr werden Politiker zu den Adressaten steigender Erwartungen ihrer Wähler. Hier vor allem tut Umdenken Not: viel stärker als bisher müssen die Bürger zu Adressaten von Politikern (und Experten) werden, die Wahrheiten sagen, unbequeme Problemlösungen vermitteln und für Unpopuläres werben, anstatt die Selbstüberforderung der Politik bis zur drohenden Destabilisierung des demokratischen Systems voranzutreiben.

In wachsendem Maße werden Demokratien zudem vor das Problem gestellt, auf parlamentarischem Wege nicht schnell genug entscheiden zu können, um mit dem rasanten Entwicklungstempo neuer Technologien Schritt zu halten. Diese Entscheidungslücke führt dazu, dass der ohnehin zeitaufwendige Entscheidungsprozess in Demokratien immer inadäquater wirkt, wenn es darum geht, auf neue Forschungsergebnisse angemessen zu reagieren.

So finden Debatten über gentechnologische Gesetzgebung im Deutschen Bundestag üblicherweise auf einem Stand der Gentechnik statt, der mehrere Jahre vor der Parlamentsdebatte gültig war. Die entstehenden Regelungen sind daher zwangsläufig schon veraltet, wenn sie vom Parlament verabschiedet werden. Die Forschung arbeitet indessen weiterhin im Freiraum ungeregelter Normen und Kompetenzen.

Zusätzlich bedrohen strukturkonservative Entscheidungsblockaden die Handlungsfähigkeit demokratischer Systeme. Wenn notwendige Reformen im Unterholz besitzstandswahrender Lobbygruppen stecken bleiben, werden auch Demokratien auf Dauer nicht in der Lage sein, Zukunftsprobleme zu lösen.

Eigenverantwortung und Staat

Zur wesentlichen Herausforderung künftiger Politik in demokratischen Systemen wird das Spannungsverhältnis zwischen Eigenverantwortung und Staat, anders formuliert zwischen individueller Freiheit, Anspruchsdenken und der Entzauberung der Politik werden.

Individuelle Freiheit ist für uns längst ein Gut an sich. Wir wissen vielleicht noch in groben Zügen, dass es seit der französischen Revolution rund 200 Jahre gedauert hat, um sie zumindest in den Ländern, die wir als westliche Industriegesellschaften zu bezeichnen pflegen, politisch durchzusetzen und verfassungsrechtlich zu verankern. Wir wissen das, aber „Freiheit“ ist für uns längst zur selbstverständlichen Rahmenbedingung unseres Daseins geworden.

Dabei scheinen wir eines zu vergessen: Die Erlangung individueller Freiheit ist gleichbedeutend mit der ersehnten Loslösung normativer Fesseln, welche wiederum nur zum Preis des Verlustes von Sicherheit und der Übernahme von Verantwortung für das eigene Tun zu haben ist. So einfach ist das: Wer frei ist oder es sein will, ist auch verantwortlich für das, was er tut.

Doch genau hier setzt der Verdrängungsmechanismus ein: Statt sich der eigenen Verantwortung zu stellen, tendiert das moderne Individuum dazu, zwar die Vorzüge der Freiheit in vollen Zügen zu genießen, die Kehrseite aber, die Verantwortung, abzuschieben auf ein Kollektiv, das wir üblicherweise Staat nennen. Dessen Vertreter haben es sogar jahrzehntelang als ihr Privileg angesehen, Individuen genau in dieser Haltung zu bestärken. Hier liegt eine der entscheidenden Fallgruben für Demokratien.

Auch hier finden wir wieder eine Medaille mit zwei Seiten: Die in die Demokratie eingebaute, natürlich gewollte Gleichheit schlägt allzu leicht um in Konformismus oder Neid. Das von seinen Fesseln erlöste Individuum sucht nach Halt und findet ihn zunächst in einer ständig steigenden Erwartung an die Leistungsfähigkeit des Staates. Die theoretischen Werte der Demokratie – die Gewährung von Freiheit und Gleichheit etwa – werden als selbstverständlich betrachtet, solange sie ganz banal ihre materielle Leistungsfähigkeit aufrecht erhalten kann, die ihren Siegeszug in Europa und ihre Attraktivität für noch nicht demokratisch regierte Völker erklärt.

Und wenn Demokratien hierbei Schwierigkeiten haben, wenn die Basare des ökonomischen Überflusses nicht mehr ganz so überquellen wie gewohnt, dann gerät auch diese „am wenigsten schlechte aller schlechten Staatsformen“ (Winston Churchill) in die Gefahr, entzaubert zu werden. Nur allzu schnell ist dann vergessen, unter welchen Opfern Demokratien erkämpft und verteidigt wurden und erst recht, was sie geleistet haben für das Wohlergehen ihrer Bürger. Wenn sie deren Ansprüche nicht mehr erfüllen, drohen sie zu einem der vielen Wegwerfprodukte zu werden, die wir aus unserem täglichen Leben kennen. Wir sehen nur noch, was wir sehen wollen: und das sind eben nicht die Leistungen demokratischer Ordnungen, sondern nun hauptsächlich ihre Schwächen.

Medien und Demokratie

Der dritte Gesichtspunkt unterstreicht diesen Wahrnehmungseffekt mit Nachdruck: Es geht um die Rolle von Medien und unkontrollierbaren neuen Entscheidungszentren, die mit den demokratisch legitimierten Institutionen in Konkurrenz treten.

Demokratien, wie sie zunächst im europäischen Kontext entstanden sind, waren eng gebunden an das Phänomen eines aufkommenden Mittelstands. Wer nicht mehr vom Aufwachen bis zum Einschlafen mit der Jagd nach der Befriedigung von Primärbedürfnissen beschäftigt war, wer darüber hinaus auch noch in wachsendem Maße über Bildung verfügte und gelernt hatte, sich mit Traditionen und Visionen kritisch auseinander zu setzen, der konnte auch beginnen, seine gewonnenen zeitlichen Spielräume und ideellen Erwartungen in politisches Engagement umzusetzen.

Dies war so in der Geschichte europäischer Demokratien. Und es lässt sich auch in den jungen konsolidierten Demokratien, etwa in Ostasien, belegen. Ob es aber auf Dauer so bleiben wird, mag mit Fug und Recht bezweifelt werden. Denn das Überangebot an moderner Unterhaltung hat durchaus das Potenzial, aus freien Bürgern abhängige Junkies der Entertainmentindustrie machen. Mediale Massenverdummung bietet gelangweilten Wohlstandskindern ein Maximum an Fluchtmöglichkeiten mit einem Minimum an Aufwand – die elektronische Variante von „panem et circenses“.

Statt Probleme zu lösen, fliehen wir in Scheinwelten. Ein Knopfdruck genügt und die jeweils gewünschte Mischung aus Abenteuer, Sex, Gewaltfantasien und „schöner neuer Welt“ (Aldous Huxley) verbreitet sich wohlig in unseren Wohnzimmern. Die steigende Komplexität unseres Daseins verlangt eigentlich immer schnellere und schwierigere Entscheidungen von uns. Statt diese jedoch zu treffen, verzichten wir auf unseren Status als mündige Bürger und versuchen dem Zwang durch Eskapismus zu entkommen. Das Leben außerhalb von Konsumtempeln und nach dem Abschalten des Fernsehers ist zu unangenehm geworden, um sich ihm noch wirklich zu stellen. Der Kreis zwischen Legitimität, individueller Verantwortung und kollektivem Handeln schließt sich.

Sicherheit

Viertens schließlich werden demokratische Repräsentativsysteme herausgefordert durch steigende Erwartungen ihrer Bürger an Sicherheit. Es ist eine Binsenweisheit, dass der Mensch nach Sicherheit strebt. Längst aber steht er nicht mehr vor dem Problem, natürliche Unsicherheiten zu reduzieren, sondern er muss heute umgehen mit den Bedrohungen, die er durch menschliches Zusammenleben selbst geschaffen hat – also „mit zivilisatorisch erzeugten Gefahren, die sich weder räumlich noch zeitlich noch sozial eingrenzen lassen.“9 Dieses Streben nach umfassender Sicherheit verändert Politik. Politisches Handeln wird gemessen an der Fähigkeit, Unsicherheiten zu beseitigen. Die Verantwortung für Sicherheit wird in wachsendem Maße vom Individuum auf die Politik verlagert und sie droht, Politik, gerade auch demokratische Politik, nachhaltig zu überfordern.

Denn das goldene Zeitalter der Sicherheit geht offensichtlich zu Ende. Sicherheitsdenken, also das Streben nach Absicherung persönlicher Risiken durch staatliche Fürsorge, war eines der zentralen Denkmuster, die demokratische Politik der letzten Jahrzehnte begleitet haben. Das Phänomen als solches ist weder verwunderlich noch neu. Schon Stefan Zweig hat es in seinen Lebenserinnerungen mit folgenden Worten beschrieben: „Dieses Gefühl der Sicherheit war der erstrebenswerteste Besitz von Millionen, das gemeinsame Lebensideal. Nur mit dieser Sicherheit galt das Leben als lebenswert, und immer weitere Kreise begehrten ihren Teil an diesem kostbaren Gut.“10

Bei allen mittlerweile längst globalisierten Gefahrenherden lässt sich ein Teufelskreis beobachten, den Ulrich Beck wie folgt umreißt: „Denn Gefahren werden industriell erzeugt, ökonomisch externalisiert, juristisch individualisiert, naturwissenschaftlich legitimiert und politisch verharmlost. Dass dadurch Macht und Glaubwürdigkeit von Institutionen zerfällt, tritt erst dann hervor, wenn das System auf die Probe gestellt wird …“11 In der Tat: Ein automatisierter Glaube an die selbstverständliche Überlebensfähigkeit demokratischer Systeme erscheint mehr als zweifelhaft.

Demokratie und Terror

Diese Einsicht darf nicht dazu verleiten, die Bedrohungen durch internationalen Terrorismus zu verharmlosen. Aber überbewerten sollte man sie auch nicht. Terroristen bedrohen Demokratien nicht wirklich von außen. Sie können einzelne Entscheidungsträger treffen. Sie können sogar – wie am 11. September 2001 geschehen – ein ganzes Land durch Massenmord in den Zustand einer kollektiven Psychose versetzen. Aber Demokratien in ihrem Bestand bedrohen können sie nicht wirklich. Das können nur Demokratien selbst. Die Debatten um das deutsche Kontaktsperregesetz nach den Terroranschlägen in der Bundesrepublik der späten siebziger Jahre, vor allem aber auch um die Einschränkung von Bürgerrechten in den USA nach dem 11. September 2001 belegen dies in großer Deutlichkeit.

Denn wer bestehende Ordnungen wirklich herausfordern will, braucht neue Botschaften und attraktive Gegenmodelle. Nichts davon hatten die Attentäter des 11. September 2001 zu bieten. Ihre Botschaft hieß simpel Angst, Vernichtung, Rache und Zerstörung. Und Terror allein begründet keinen faszinierenden Gegenentwurf zum Projekt Demokratie. Dies unterscheidet Terroristen fundamental von den „alten“ autoritären und totalitären Gegnern der Demokratie.

Die Zukunft der Demokratie ist also weder so rosig, wie sie Theoretiker ersinnen, noch so düster, wie Skeptiker sie ausmalen. Das Überleben der repräsentativen Demokratie verlangt als dauerhaftes Projekt die stetige flexible Anpassung an äußere und vor allem innere Herausforderungen. Im Wandel, nicht in der Stabilität liegen die eigentlichen Chancen der Zukunft.

Anmerkungen

1  Vgl. Jean-François Revel, So enden die Demokratien, München 1986.

2  Vgl. Martin Kriele, Die demokratische Weltrevolution. Warum sich die Freiheit durchsetzen wird, München 1987.

3  UNDP 2002, Human Development Report 2002. Deepening Democracy in a Fragmented World, New York, S. 15.

4  Francis Fukuyama, Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir?, München 1992.

5  Samuel P. Huntington, The Third Wave: Democratization in the Late Twentieth Century, New York, 1993.

6  Michel Crozier, Samuel P. Huntington, Joji Watanuki, The Crisis of Democracy. Report on the Governability of Democracies to the Trilateral Commission, New York 1975.

7  Ralf Dahrendorf, Can European Democracy Survive Globalization?, in: The National Interest, Nr. 65, Herbst 2001, S. 17–22.

8  Mohamad Mahathir, Shintaro Ishihara, The Voice of Asia. Two Leaders Discuss the Coming Century, Tokio 1995.

9  Ulrich Beck, Weltrisikogesellschaft, Weltöffentlichkeit und globale Subpolitik, Wien 1997, S. 12.

10 Stefan Zweig, Die Welt von gestern, Stockholm 1992, S. 15.

11 Beck, a.a.O. (Anm. 9), S. 47 f.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 8, August 2003, S. 1 - 10

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