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01. Juli 2003

Droht ein globaler Rüstungswettlauf?

Perspektiven der Rüstungsindustrie im Vergleich

Die Autoren, Wissenschaftler der Universität Kiel, untersuchen die Frage eines globalen Rüstungswettlaufs an Hand von Kriterien wie Wirtschaft, Technologie, strategische Ambitionen. Sie kommen zu dem Schluss, dass der Vorsprung der USA mittelfristig uneinholbar ist, weil es den Staaten der EU, Russland, Japan, Indien und China sowohl an den wirtschaftlichen Grundlagen wie auch am politischen Willen fehlt, hieran Entscheidendes zu ändern.

Die Vereinigten Staaten sind heute mit Abstand die stärkste Militärmacht der Welt. Sie können in fast jedem Winkel der Erde militärische Macht projizieren und Überlegenheiten zu ihren Gunsten herstellen. Sie können mit ihren strategischen Waffen theoretisch jeden Aggressor bestrafen und haben Fähigkeiten zur Aufklärung, Führung und Kommunikation, um die sie jeder Militärführer der Welt beneidet. Dieses Potenzial sollte eigentlich als ein Faktor verstanden werden, der international gesehen zur Herstellung von Ordnung beiträgt.

Angesichts der jüngsten Irak-Krise wird diese Überlegenheit jedoch in vielen Ländern als Problem angesehen. Auch in Deutschland überwiegt eine kritische Sichtweise, und hier wie in anderen Ländern wird der Ruf nach Multipolarität laut. Selbst in den USA kommt Kritik auf, bei manchen Waffensystemen befürchten Politiker und Rüstungskritiker, dass neue Rüstungswettläufe ausbrechen. Auch in der theoretischen Debatte wird diese Frage aufgegriffen; Vertreter der strukturalistischen realistischen Schule befürchten die Entstehung von Gegenmacht und einen globalen Aufbau von Machtressourcen gegen die USA. Einige von ihnen sehen gar die USA auf dem absteigenden Ast und die Europäer und Asiaten als die vorherrschenden Mächte der Zukunft.1

Wird die Zukunft der internationalen Politik dadurch gekennzeichnet sein, dass der Rest der Welt gegen das Vormachtstreben der USA aufsteht und eine politisch-militärische und auch ökonomische Gegenmacht bildet? Und wird dies dazu führen, dass die USA eingehegt werden, wie weiland die Sowjetunion?

Wenn sich ein Trend in diese Richtung entwickeln sollte, so muss er absehbar auf der Ebene der Militärkapazitäten realisierbar sein. Zu diesem Zweck werden die existierenden Potenziale an Rüstungsindustrie im Vergleich dargestellt und die Frage gestellt, ob sich aus diesen Trends oder aus Kombinationen ein globaler Rüstungswettlauf ableiten ließe. Dabei wird davon ausgegangen, dass rüstungswirtschaftliche Potenziale dann am ehesten genutzt werden können, wenn a) bei Vorliegen von entsprechenden strategischen Ambitionen die dafür notwendigen finanziellen Spielräume (d.h. hohe Verteidigungsetats mit hohem Anteil an Investitionen) bestehen und wenn b) die technologischen Fähigkeiten existieren oder entwickelt werden können, um mit den USA mitzuhalten.2 Dabei muss die Entwicklung der rüstungsindustriellen Kapazitäten auch unter den Bedingungen der Globalisierung betrachtet werden, denn diese unterwirft den industriellen Verteidigungsbereich neuen Voraussetzungen.3

Ausgangspunkt aller diesbezüglichen Überlegungen ist, dass die internationale Verteidigungsindustrie seit dem Ende des Kalten Krieges weltweit vor großen Schwierigkeiten steht. Hierzu gehören nicht nur der massive Rückgang der Verteidigungshaushalte – zwischen  1987 und 1994 sanken die weltweiten Verteidigungsausgaben um über 35%4 –, auch die enormen Kostensteigerungen bei Entwicklung und Produktion moderner Waffensysteme sowie die zunehmende Konkurrenz durch die zivile Industrie und deren Technologien sind hier zu nennen. Auf diesen Wandel wurde in den USA und Europa unterschiedlich reagiert, noch anders in Ländern wie Russland, China oder Indien. Diese Unterschiede in den Konsolidierungsstrategien haben heute eine neue rüstungswirtschaftliche „Landkarte“ entstehen lassen, die eine Konstante besitzt: die rüstungsindustrielle Übermacht der USA. Von daher ist davon auszugehen, dass der globale Rüstungswettlauf nicht kommen wird, da die rüstungsindustrielle – und technologische – Vormacht der USA auf absehbare Zeit nicht einzuholen ist und weil auch nicht abzusehen ist, wo der entsprechende politische Wille herkommen sollte, die USA grundsätzlich herauszufordern. Theoretisch hatte Europa die Chance, zumindest zu einem gleichwertigen Partner der USA zu werden, aber diese Chance hat es in den neunziger Jahren vertan.

Amerikanische Vormachtstellung

Diese rüstungsindustrielle Vormachtstellung beruht heute auf mehreren Fundamenten:

–Einer mehr oder weniger klaren Entschlossenheit der politischen Elite (das umfasst sowohl Republikaner als auch Demokraten), die Stärke der USA zu nutzen, um auf regionaler Ebene wie auch global ordnungspolitische Ziele zu verfolgen, die sie für die Sicherheit der USA wie der westlichen Welt insgesamt für wichtig hält, sowie die Umsetzung dieser politischen Strategie in ein entsprechend ambitioniertes militärstrategisches Programm.

–Einem Verteidigungshaushalt, der 2004 bei 380 Milliarden Dollar liegen wird, und der mit einem investiven Anteil von über 30% die Grundlage für einen weitgehend nach außen abgeschotteten Rüstungsmarkt in der Größenordnung von jährlich 100 Milliarden Dollar schafft, der weltweit seinesgleichen sucht.

–Einer industriellen Basis für die Herstellung von Waffensystemen  und Rüstungsgütern nahezu aller Art, die technologisch weitgehend die Spitzenpositionen einnimmt und in einem, für den Bereich der Rüstungsindustrie gesehen, relativ hohen Maße international vernetzt ist im Wege von Kooperationsvorhaben, Produktauslagerung sowie Waffenexporten.

Wie ist es dazu gekommen, dass die USA diese herausragende Rolle einnehmen? Entscheidend war, dass eine politisch-industrielle Konsolidierungsstrategie entwickelt wurde, die es erlaubte, den Einbruch bei den Verteidigungsausgaben aufzufangen. Zwischen 1990 und 1996 sank das Budget für Beschaffung, Forschung und Entwicklung von 99 auf 48 Milliarden Dollar, der Streitkräfteumfang wurde zwischen 1990 und 1999 von 2,1 auf 1,4 Millionen Soldaten verringert.5 In dieser Lage wurde eine Konsolidierungsstrategie eingeschlagen, bei der sich die Regierung zu einer Lenkung des Prozesses entschloss. Der Industrie wurde nahe gelegt, sich durch Zusammenlegung und Gesundschrumpfen zu konsolidieren, und dieser Prozess wurde mit über 1,5 Milliarden Dollar subventioniert.6 Das entsprach der Hälfte der anfallenden Restrukturierungskosten und diente so als Fusionsanreiz.7

Bei dieser Konsolidierung achtete die Regierung auf den Erhalt technologischer Kernfähigkeiten. Dies erreichte sie durch eine ab 1997 wieder verstärkt einsetzende Förderung von Forschung und Entwicklung (F&E). Auch sollte angesichts rapide ansteigender F&E-Kosten die Wirtschaftlichkeit produktionsreifer Waffensysteme durch den Export von Wehrmaterial sichergestellt werden. Besonders die Regierung von Bill Clinton schuf Strukturen der politischen Unterstützung des forcierten Rüstungsexports.8 Neben dem Abbau von Überkapazitäten und der Steigerung von Produktivität wurde das Entstehen großer integrierter Technologiekonzerne das Markenzeichen der amerikanischen Rüstungsindustrie. Diese „Systemhäuser“ sind in der Lage, hochkomplexe militärische wie zivile Systeme auf Grund ihrer Größe und Finanzkraft eigenständig zu entwickeln. Vorreiter dieser Entwicklung war die Luft- und Raumfahrtindustrie, die 1997 ihre Konzentration abschließen konnte und heute aus vier großen Systemhäusern gebildet wird: Northrop Grumman, Lockheed Martin, Raytheon Systems und Boeing. Durch ihre schiere Größe dominieren diese Konzerne den internationalen Markt; der „kleinste“ dieses Quartetts ist immer noch größer als die gesamte deutsche Luft- und Raumfahrtindustrie zusammen.9 In der amerikanischen Heeres- und Marinesystemindustrie läuft eine Konzentration nach ähnlichem Muster, ist aber noch nicht abgeschlossen.

Doch nicht nur die strategische Anlage ihrer Rüstungspolitik hat zu der dominierenden Stellung der amerikanischen Industrie beigetragen. Vor allem die seit 1999 ansteigenden Verteidigungsausgaben haben die Industrie enorm gestärkt und mit Aufträgen versehen: So stieg das Budget von 2002 (329 Milliarden Dollar)10 über 2003 (364,6 Milliarden Dollar) bis zum Entwurf 2004 auf 379,9 Milliarden an.11 Diese Ausgabenpolitik markiert die Wende in der amerikanischen Sicherheitspolitik und illustriert die Bereitschaft, auf neue Bedrohungen zu reagieren (Krieg gegen den Terror, Heimatschutz, Raketenabwehr). Dabei stiegen die investiven Ausgaben des Haushalts (F&E/Beschaffungen) überproportional an und erlaubten umfangreiche Neubeschaffungen. Seit 1997 liegen die investiven Anteile im Haushalt der USA durchweg über der zur Modernisierung notwendigen 30-Prozent-Marke. Das Motiv für diese hohe Investition in Technologie ist auch darin zu sehen, dass vor dem Hintergrund der negativen Erfahrungen mit dem Vietnam-Krieg nach Möglichkeiten gesucht wurde, internationale Interventionsfähigkeiten zu entwickeln, die erfolgreiche Interventionen bei geringen eigenen Verlusten und ebenso geringen zivilen Kollateralschäden erwarten lassen. Dahinter steht eine politisch-militärische Philosophie, wonach militärischer Erfolg nicht mehr durch den massiven Einsatz von Feuer und Zerstörung gesichert werden soll, sondern durch intelligente und vernetzte Kriegführung.

Was diese Strategie erleichterte,  war die Tatsache, dass der amerikanische Rüstungsmarkt weiterhin für ausländische Produkte nahezu gänzlich abgeschottet ist. Die Vereinigten Staaten wollen sich in Krisenzeiten nicht von ausländischen Entscheidungsprozessen abhängig machen. Diese Bevorzugung nationaler Produkte schwächt die internationale Konkurrenz ungemein, da der Rüstungsmarkt der USA der größte und lukrativste der Welt ist. Gleichwohl exportiert das Land selbst als global größter Exporteur große Mengen an Wehrmaterial in offenere Rüstungsmärkte.12

Entscheidende Voraussetzung der amerikanischen Konsolidierung in den neunziger Jahren war aber, dass diese politische initiierte Strategie innenpolitisch nicht umstritten war: Beide Lager, Demokraten wie Republikaner, sehen die Notwendigkeit einer starken Verteidigungsindustrie für die nationale Sicherheitsfürsorge und stimmen darin überein, die hierfür nötigen Rahmenbedingungen sicherzustellen.

Die europäische Basis

Während auf europäischer Ebene in der politischen Rhetorik viel davon die Rede ist, ein Gegengewicht zu den Vereinigten Staaten herzustellen und in Richtung Multipolarität zu gehen, sind die entsprechenden rüstungsindustriellen Grundlagen theoretisch zumindest gegeben, in der Realität findet diese Umsetzung jedoch nicht statt:

–Es gibt kein europäisches ordnungspolitisches Gegenkonzept zu dem der USA geschweige denn einen eigenen, koordinierten außen- und verteidigungspolitischen Ansatz. Die entsprechenden Bemühungen der Europäer, eine Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) zu schaffen, verfolgen bescheidene Ziele. Ansonsten betreiben die EU-Staaten nationale Verteidigungspolitik, was angesichts der heutigen politischen Rahmenbedingungen und des allgemeinen Standes der europäischen Integration einen Anachronismus darstellt.

–Die EU-Staaten haben zusammengenommen Verteidigungshaushalte in der Größenordnung von 150 bis 170 Milliarden Dollar. Massive Erhöhungen sind wegen der teilweise desolaten Finanzlage der größeren Länder (Frankreich, Deutschland, Italien sowie Großbritannien) nicht möglich. Das bereits in dieser Summe liegende Potenzial können sie jedoch nicht nutzen, weil wegen des Fortbestehens nationaler Verteidigungspolitik eine unendliche Duplizierung von militärischen Fähigkeiten und Kapazitäten stattfindet und weil die investiven Anteile an den Verteidigungsetats deutlich geringer ausfallen als bei den USA. Der europäische Rüstungsmarkt liegt bei einem Umfang von jährlich 35 bis 40 Milliarden Euro, davon werden über 40% von Anbietern aus den USA abgedeckt.

–Die rüstungsindustriellen Fähigkeiten in Europa sind beachtlich, angesichts des im Vergleich zu den USA begrenzten Marktes sind die Möglichkeiten der Entfaltung jedoch begrenzt. Die Beengtheit nationaler Märkte wird mehr und mehr als Problem empfunden.

Die europäischen Verteidigungsindustrien gerieten genau wie die amerikanische Industrie in den neunziger Jahren unter Restrukturierungsdruck. Dieser Druck wurde durch die erfolgreiche Konsolidierung in den USA verstärkt. Im Gegensatz zu den USA existieren in Europa aber bis heute Schwierigkeiten auf der Angebots- und der Nachfrageseite. Das maßgebliche Problem der Angebotsseite ist in der geringen Unternehmensgröße im Vergleich zu den amerikanischen Konkurrenten und den daraus resultierenden Nachteilen in der globalen Wettbewerbsfähigkeit zu sehen.13 Entscheidender sind aber die Probleme auf der Nachfrageseite. Es gibt kein einheitliches europäisches außen- bzw. sicherheitspolitisches Konzept, auf dem eine europäische Rüstungsstrategie fußen könnte. Nach wie vor sind die die nationale Sicherheit betreffenden Politikfelder intergouvernemental organisiert. Somit sind die unterschiedlichen sicherheitspolitischen Konzeptionen der europäischen Nationalstaaten für die jeweilige Verteidigungsindustrie ausschlaggebend. Auch unterschiedliche wirtschaftspolitische Ordnungsphilosophien behindern eine vertiefte europäische Integration auf diesem Gebiet. Immer noch gibt es Präferenzgegensätze zwischen privatwirtschaftlich ausgerichteten Staaten wie Großbritannien und Deutschland  und Staaten mit größerem Staatsanteil in der Verteidigungsindustrie (Frankreich, Italien, Spanien).

Die Folgen der nationalstaatlichen Heterogenität werden deutlich, wenn man sich die konkreten Zahlen anschaut. Während 2001 die USA 296,3 Milliarden Dollar für Verteidigung ausgaben, lag die vergleichbare Zahl für alle EU-Staaten zusammen bei etwa 150 Milliarden Dollar.14 Diese Lücke ist seit 2001 noch größer geworden, den 380 Milliarden Dollar in den USA stehen 165 bis 170 Milliarden auf europäischer Seite gegenüber, wobei der Zuwachs gegenüber 1999 weitgehend auf den Anstieg des Euros gegenüber dem Dollar zurückzuführen ist. Zwar sind das nicht unbedeutende Beträge, die die Europäer ausgeben, nur ist der Ertrag so gering wegen der vielen Duplizitäten. Dies wird sichtbar, wenn man die für die Verteidigungsindustrie wichtigen investiven Ausgaben miteinander vergleicht. Wendeten die USA 2001 für F&E über 40 Milliarden Dollar auf, lag diese Zahl für Großbritannien, Frankreich und Deutschland gemeinsam bei nur sieben Milliarden Dollar. Ein ähnliches Bild herrscht bei den Beschaffungsausgaben: Während die USA 60 Milliarden Dollar ausgaben, waren es in Deutschland, Frankreich und Großbritannien zusammen 16 Milliarden Dollar.15

Marktfragmentierung

Ursache ist die Fragmentierung des europäischen Rüstungsmarkts, insbesondere die duplizierten Strukturen zur Bedarfsbestimmung und Beschaffung. Trotz der knappen Ressourcen werden immer noch doppelte Entwicklungen16 und Kapazitäten vorgehalten. Obwohl die jeweiligen nationalen Märkte zur Stützung der eigenen wehrtechnischen Industrie nicht mehr ausreichen, hat es bis jetzt keine durchgreifenden europäischen Regelungen auf staatlicher Seite gegeben. Zwar sind verschiedenen Initiativen zur Verbesserung der Situation beschlossen worden, jedoch hat jede dieser Initiativen nur begrenzte Möglichkeiten.

Auch die unterschiedlichen Positionen zu Fragen des Rüstungsexports erschweren die Konsolidierung der europäischen Rüstungsindustrie. Während Rüstungsexporte in Großbritannien und Frankreich als strategisch wichtig angesehen werden, lehnt Deutschland Rüstungsexporte aus prinzipiellen Erwägungen ab. Auf Grund dieser inhaltlichen Differenzen ist nicht damit zu rechnen, dass es hier bald eine europäische Lösung geben wird. Diese Heterogenität der europäischen Situation auf vielerlei Ebenen führt zu einer permanenten Schwächung der Industrien.

Als positiv einzuschätzen ist, dass es auf der Angebotsseite 1999 eine Konsolidierung in Europa gegeben hat. Wie in den USA auch übernahm die Luft- und Raumfahrtindustrie dabei eine Schrittmacherfunktion. Durch die Gründung der European Aeronautic Defence and Space Company (EADS) gelang eine Konsolidierung, die ein global konkurrenzfähiges Unternehmen hervorbrachte.17 Dies darf jedoch nicht über eines hinwegtäuschen: Europa verfügt nicht über die notwendigen Strukturen und nicht über den politischen Willen, den USA auf rüstungsindustriellem Feld Konkurrenz zu machen. Solange Außen- und Verteidigungspolitik in Europa intergouvernemental betrieben wird, wird sich daran nur wenig ändern.

Rüstungskonkurrenten?

Mit Ausnahme Japans pflegen alle hier zu nennenden Staaten gewöhnlich am stärksten eine Rhetorik, die den Eindruck erweckt, sie wollten die USA herausfordern. Schaut man sich die finanziellen und industriellen Spielräume sowie deren rüstungsindustrielle Strategien an, ergibt sich jedoch ein anderes Bild.

Russland

Russland besitzt zwar noch aus den Zeiten der früheren Sowjetunion einen großen Rüstungssektor, dieser ist aber in den Jahren seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion entweder zerfallen oder aber infolge ausbleibender Aufträge (oder ausbleibender Bezahlung) weitgehend in seiner Leistungsfähigkeit eingeschränkt. Im Vergleich zu den USA und selbst zu den Europäern sind die russischen Bemühungen um Konsolidierung der Rüstungsindustrie weit zurück geblieben. Das ursprüngliche Ziel, die mehr als 2000 Unternehmen in weniger als 600 Unternehmen zusammenzufassen, ist nicht erreicht worden. Während einige wenige Firmen noch Spitzenprodukte anbieten, ist gerade bei den Zukunftstechnologien erkennbar, dass russische Unternehmen nicht mehr mithalten können.

Der russische Verteidigungsetat erlaubt überhaupt keine großen Sprünge mehr. Der offizielle Haushaltsansatz liegt bei 10 bis 12 Milliarden Dollar, laut Schätzungen des Londoner International Institute for Strategic Studies ist der reale Etat (nach Anrechnung aller verdeckten Subventionen und Nebenhaushalte) eher bei 50 bis 60 Milliarden Dollar anzusetzen. Dies ist – selbst angesichts eines investiven Anteils von etwa 30% – zu wenig, um damit ambitionierte Rüstungspläne zu verfolgen, die mit dem Stand der USA mithalten können. Die russische Verteidigungsindustrie hält sich deshalb heute hauptsächlich damit über Wasser, dass sie Waffen ins Ausland exportiert und dadurch etwa 3 bis 5 Milliarden Dollar pro Jahr erwirtschaftet und dass sie zivile Aufträge ausführt. Eine Studie des Bonner International Center for Conversion kam dann auch zu dem nüchternen Ergebnis, dass die russische Regierung die Idee einer allumfassenden Rüstungsindustrie mit einer Kapazität vergleichbar ihrem amerikanischen Gegenüber aufgegeben habe.18

Zwar kann sie seit dem Amtsantritt von Präsident Wladimir Putin auf großzügigere Konzepte und in begrenztem Maße auf mehr Mittelzuweisungen zählen. Eine nachhaltige Reform hat jedoch auch unter Putin nicht stattgefunden, da die dazu notwendigen tiefen Einschnitte in die bestehende Industrie aus übergeordneten politischen Gründen nicht möglich waren.19 Außerdem gibt es innerhalb des russischen Militärs keinesfalls eine einheitliche Meinung darüber, nach welchen Prioritäten die Verteidigungsausgaben bestritten werden. Ein Streit zwischen denjenigen, die eine stärkere Ausrichtung auf strategische Kernwaffen befürworten und solchen, die – wie der Chef des Generalstabs – eine Verbesserung der konventionellen Fähigkeiten fordern, ist bislang nur aufgeschoben worden. Weder für das eine noch für das andere Ziel sind jedoch genügend Mittel vorhanden, um eine wirkliche Herausforderung für die Vereinigten Staaten darzustellen.

China

China hat im Gegensatz zu Russland seit nahezu drei Jahrzehnten einen konstanten Wirtschaftsaufschwung (zumeist mit zweistelligen Zuwachsraten) vorzuweisen, der sich in entsprechend hohe Wachstumsraten bei den Verteidigungsausgaben umgesetzt hat. Zudem gewinnt man immer mehr den Eindruck, dass sich die chinesische Führung einer nationalistischen Rhetorik bedient, die amerikakritische und -feindliche Töne enthält. Die Einschätzungen zur langfristigen Strategie der chinesischen Führung variieren allerdings. So gibt es viele, die die Meinung vertreten, dass China seine wachsende Wirtschaftskraft zum Aufbau entsprechender Militärkapazitäten verwenden wird, um sich einen angemessenen Platz in der Weltpolitik zu sichern. Andere hingegen meinen, dass sich China die damit verbundene Konfrontation mit den USA und seinen Nachbarstaaten nicht wird leisten können, da es dann den Erfolg seiner wirtschaftlichen Reformpolitik gefährden würde. Der anhaltende Erfolg der chinesischen Modernisierung sei nur dann gegeben, wenn sich das Land der Weltwirtschaft öffnet und vor allem die engen Handelsbeziehungen mit den USA nicht gefährdet.

Selbst wenn man davon ausgeht, dass sich China in Richtung auf eine Konfrontation mit den USA entwickeln wird, wären die rüstungsindustriellen Voraussetzungen dazu in absehbarer Zeit nicht gegeben. Die meisten Beobachter stimmen darin überein, dass der Spielraum für derartige Ambitionen beschränkt ist. Offiziell gibt China pro Jahr umgerechnet etwa 20 Milliarden Dollar für Verteidigungszwecke aus, unabhängige Experten schätzen die realen Ausgaben höher ein, bei 50 bis 60 Milliarden Dollar. Bei einem investiven Anteil von deutlich unter 30% verbleibt kein so hoher Betrag, vor allem weil viele Mittel aufgewandt werden müssen, um die Umstrukturierung der Streitkräfte noch auf viele Jahre hin zu finanzieren.

Zudem ist die Fähigkeit der chinesischen Rüstungsindustrie, den technologischen Anschluss an die USA zu halten, begrenzt. Erfahrungen der vergangenen Jahre haben gezeigt, dass die chinesische Rüstungsindustrie in starkem Maße vom Import westlicher und russischer Rüstungstechnologie abhängig ist. Sowohl in den USA als auch in Russland haben die intensiven chinesischen Importbestrebungen der neunziger Jahre dazu geführt, dass Hindernisse gegen weitere chinesische Importe aufgebaut wurden. Auch die Fähigkeiten der chinesischen Soldaten zum Umgang mit moderner Rüstungstechnologie sind begrenzt.20

Es ist allerdings davon auszugehen, dass China Modernisierungsschwerpunkte im Bereich der strategischen Waffen (Kernwaffen, Interkontinentalraketen) sowie bei solchen Waffensystemen legen wird, die die Handlungsfähigkeit amerikanischer Streitkräfte in den Nachbarregionen Chinas einschränken könnten (wie zum Beispiel Raketen mittlerer Reichweite, U-Boote, Kampfflugzeuge).

Japan

Technologisch viel fortgeschrittener und mit ungleich größeren finanziellen Kapazitäten versehen ist hingegen Japan. Seine Industrie befindet sich in vielen, auch für die Verteidigungsindustrie relevanten Technologien vorn, und das Land hat das technologische Know-how und die dazu nötigen Ausgangsstoffe, um eine strategische Kernwaffenstreitmacht aufzubauen, die die USA herausfordern könnte. Allerdings ist nicht zu ersehen, woher die entsprechende Motivation auf japanischer Seite kommen soll. Dort herrscht eher die Sorge vor, dass China zu mächtig und Nordkorea zu einer nuklearen Bedrohung  wird – beides Argumente, die für eine Vertiefung der amerikanisch-japanische Sicherheitsbeziehungen sprechen, nicht jedoch für eine Herausforderung der USA.

Indien

Noch anders sieht es mit Indien aus. Das Land hat ähnlich große Zuwachsraten in der Wirtschaft zu verzeichnen wie China, seitdem es sich von seinen staatszentrierten Wirtschaftskonzepten gelöst hat. Indiens Rüstungspolitik ist traditionell an drei Zielen orientiert: der Balance gegen China, der Erhaltung einer Überlegenheit gegenüber Pakistan und dem Freihalten des indischen Ozeans von westlicher Marinepräsenz. Von allen drei Zielen ist das letztgenannte dasjenige, welches in Indien am wenigsten drängend empfunden wird. Die Herausforderung der USA wäre für Indien zu ambitioniert, vor allem da das Land intern mit schweren Problemen (Rassismus, Terrorismus) zu kämpfen hat.

Indien teilt zudem mit anderen Rüstungsproduzenten der zweiten Reihe (second tier arms producer) ein Dilemma, welches unter den Bedingungen der Globalisierung und der militärtechnologischen Entwicklung immer dramatischer wird: die zum Erwerb neuester technologischen Fähigkeiten notwendige Kooperation mit Rüstungsproduzenten aus den USA und anderen fortgeschrittenen Ländern führt dazu, dass einseitige Abhängigkeitsverhältnisse entstehen. Diese stehen im Widerspruch zu dem Ziel rüstungspolitischer Autarkie. Letztere kann nur zum Preis der Hinnahme eines zunehmenden rüstungstechnologischen Abstands zu den USA und anderen westlichen Staaten erfolgen. Technologietransfers durch Spionage oder systematischen Ankauf sowie durch Einwerben ehemals sowjetischer Rüstungsexperten können dabei vorübergehend Abhilfe bieten, die mittel- und langfristigen Konsequenzen sind dadurch nicht abzufangen.21

Problemstaaten

Große Aufmerksamkeit genießen diejenigen Staaten, die von den Regierungen Clinton und Bush als Problem- oder als „Schurkenstaaten“ identifiziert worden sind. Bei ihnen handelt es sich um Länder, bei denen autoritär-totalitäre Herrschaftsstrukturen und außenpolitisches Abenteurertum mit dem Streben nach Massenvernichtungswaffen und  Raketen einhergehen. Bilden sie die Speerspitze einer globalen Herausforderung der USA? Werden von ihnen jene Impulse ausgehen, die zu einer Gegenmachtbildung gegen die USA führen?

Schaut man sich diese Staaten – Nordkorea, Syrien, Iran – an, so wird erkennbar, dass sie alle ein Potenzial haben, die Handlungsfähigkeit der USA in der Region des Mittleren Ostens und in Nordostasien zu behindern; als ernst zu nehmende strategische Rivalen kommen sie jedoch nicht in Frage. Schlimmstenfalls haben sie das Potenzial, das Territorium der USA durch einzelne Raketenschläge oder durch terroristische Anschläge zu bedrohen. Was es dort an rüstungsindustriellen Kapazitäten gab und gibt, ist nicht unbedeutend. Aber in der Regel handelt es sich um ältere Technologien, die durch den Zufluss ehemals sowjetischer Technik und Experten eine gewisse Aufwertung erhalten hat, aber mittel- und langfristig ist nicht zu erkennen, wie daraus eine strategische Herausforderung grundsätzlicher Natur entstehen soll. Der größte Herausforderer im Mittleren Osten –  Irak – ist inzwischen in dieser Rolle ausgeschaltet, Nordkorea ist in seiner Region ein Ärgernis wegen seines Potenzials, großen Schaden in Südkorea und der weiteren Region auszurichten. Es handelt sich um einen Staat mit einem Potenzial für asymmetrische Bedrohungen, aber nicht um einen Staat, der die USA mittel- und langfristig strategisch herausfordern könnte.

Fazit

Der immer wieder beschworene globale Rüstungswettlauf, verursacht durch die angebliche Machtanmaßung der Regierung Bush oder ihrer Rüstungsprojekte, wird nicht stattfinden. Hierzu gibt es keine reale Basis, weder was die politischen Strategien der potenziell wichtigsten „Herausforderer“ der USA betrifft, noch was die rüstungsindustriellen und finanziellen Voraussetzungen angeht.

Die Vereinigten Staaten haben nach 1990 einen Weg der sicherheitspolitischen Orientierung und der entsprechenden rüstungsindustriellen Konsolidierung und Neuorientierung eingeschlagen, der auf internationale ordnungspolitische Aufgaben bezogen ist und bei dem sie im Sinne ihrer politischen und strategischen  Logik konsequent vorgegangen sind. Europa hätte die Chance gehabt, an diesem Prozess in gleichberechtigter Weise mitzuwirken, wenn es nach 1990 neben der Vergemeinschaftung der Währungspolitik auch den Weg der Vergemeinschaftung der Außen- und Verteidigungspolitik gegangen wäre.

Die tatsächliche oder die „gefühlte“ Ohnmacht Europas angesichts der Übermacht Amerikas ist mehr den Versäumnissen derjenigen geschuldet, die diese Option ausgeschlossen haben als denjenigen, die in den USA einen Weg der strategischen Neuorientierung eingeschlagen haben, der konsequent und stets transparent gewesen ist.

Anmerkungen

1  Vgl. Emmanuel Todd, Weltmacht USA – ein Nachruf, München 2003; vgl. auch Charles Kupchan, The End of the American Ära: U.S. Foreign Policy and the Geopolitics of the Twenty-First Century, New York 2002.

2  Vgl. für einen Überblick Keith Krause, Arms and the State: Patterns of Military Production and Trade, Cambridge 1992.

3 Vgl. Richard A. Bitzinger, Globalization in the Post-Cold-War Defense Industry. Challenges and Opportunities, in: Ann R. Markusen und Sean S. Costigan (Hrsg.), Arming the Future. A Defense Industry for the 21st Century, New York (Council on Foreign Relations) 1999, S. 305–333; Keith Hayward, The Globalization of Defense Industries, in: Survival, Nr. 2, Sommer 2001, S. 115–132.

4 Vgl. John Dowdy,Winners and Losers in the Arms Industry Downturn, in: Foreign Policy, Nr. 107/1997, S. 88–101, hier S. 88.

5 Vgl. CSIS (Hrsg.): Defense Restructuring and the Future of the U.S. Industrial Base, unter: <http://www.csis.org/polmil/dibrep ort.html> (20.12.1999), S. 14.

6  Ebd., S. 16.

7   Vgl. Burkard Schmitt, From Cooperation to Integration: Defence and Aerospace Industries in Europe, Chaillot Papers, Nr. 40, Juli 2000, S. 23 f.

8  Diese Stützung erfolgte z.B. durch die Einrichtung des „Trade Promotion Coordinating Committee“ im amerikanischen Außenministerium, das unter seinem Dach alle am Export beteiligten Behörden zusammenfasst und so die reibungslose Abwicklung garantieren soll. Vgl. Jens van Scherpenberg, Transatlantic Competition: The Trade-Defence Link, in: International Affairs, Nr. 1/1997, S.99–122, hier S. 102 ff.

9 Dies betrifft Beschäftigtenzahl wie Umsatz des Jahres 2001; vgl. die Angaben unter: <http://www.raytheon.com/finace/2000/ra y_annual_2001.pdf> sowie die Angaben unter <http://www.bdli.de/bdli/presse/pr esse_volltext.cfm?id_nr=15> (4.6.2002).

10Vgl. die Haushaltszahlen für 2002 unter <http://www.defenselink.mil/Jun2001/b06272001_bt287-01.html&gt; (16.5.2002).

11Vgl. Haushaltszahlen für 2003/04 unter <http://www.defenselink.mil/Feb2003/b02032003_bt044-03.html&gt; (29.4.2003).

12 Im Jahr 2001 exportierten die USA für 9,702 Milliarden Dollar Wehrmaterial, was einem Weltmarktanteil von 45,5% entsprach; vgl. IISS (Hrsg.), The Military Balance 2002–2003, Table 30: Value of Global Arms Deliveries and Market Share, 1994–2001, Oxford 2003, S. 341.

13Vgl. Terrence Guay/Robert Callum, The Transformation and Future Prospects of Europe’s Defence Industry, in: International Affairs, Nr. 4/2002, S. 757–776, hier S. 757 f.

14Vgl. Daniel Keohane, The EU and Armaments Co-operation, Working Paper, Centre for European Reform, Dezember 2002, S. 2.

15Ebenda, S. 7.

16So verfügen die Europäer beispielsweise im Kampfflugzeugbereich über drei Alternativen: Rafale, Gripen und Eurofighter.

17Vgl. Ein großer Schritt voran, in: Wehrtechnik, Nr. 1/2000, S. 2.

18    Ksenia Gonchar, Russia’s Defense Industry at the Turn of the Century, Bonn (Bonn International Center for Conversion – BICC) November 2000.

19Vgl. Hannes Adomeit, Sicherheitskonzepte und Militärpolitik, in: Hans-Hermann Höhmann und Hans-Henning Schneider (Hrsg.), Russland unter neuer Führung. Politik, Wirtschaft und Gesellschaft am Beginn des 21. Jahrhunderts, Bonn 2001, S.106–118; vgl. dazu ebenfalls Provina Lyubov, Putin Takes Industry’s Reins, in: Defense News, 28.4.2003, S. 12; siehe auch Jim O’Halloran, Russian Air-Defence Group Dogged by Old Rivalries, in: Jane’s Defence Weekly, 21.5.2003, S. 14.

20Vgl. Frank Umbach, „Der Drache schärft die Klauen“ – China modernisiert seine Streitkräfte und ist zum weltgrößten Rüstungsimporteur aufgestiegen, in: Der Überblick, Nr. 2/2002, S. 76–82.

21Vgl. Richard A. Bitzinger, Towards a Brave New Arms Industry?, London (International Institute for Strategic Studies, Adelphi Paper 356) Mai 2003.