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20. Dez. 2012

Gibt es eine Merkel-Doktrin?

Nein. Nur eine etwas überhitzte Rüstungsdiskussion in Deutschland

Die geplanten Panzerlieferungen an Saudi-Arabien haben eine alte Diskussion neu entfacht. Deutschland als „Waffenschmiede der Welt“? Gemach. Alle Bundesregierungen haben Rüstungsexporte aus unterschiedlichen Überlegungen zugelassen. Keine hat dabei je grundsätzlich versucht, die Politik der Zurückhaltung aufzugeben. Dabei bleibt es.

Der Spiegel weiß es mal wieder ganz genau: Es gibt eine „Merkel-Doktrin“, wonach die restriktive Rüstungsexportpolitik der Bundesregierung nun endlich beiseite gelegt werden soll. Und damit das auch jeder versteht, wird auf der ersten Seite des Nachrichtenmagazins (3.12.2012) eine mürrisch dreinblickende Bundeskanzlerin im Tarnanzug gezeigt. Unterzeile: „Deutsche Waffen für die Welt“. Anlass ist mal wieder das Interesse Saudi-Arabiens an deutschen Panzern und gepanzerten Fahrzeugen.

Das ist alles nichts Neues: Vor ziemlich genau 32 Jahren (am 5.1.1981) berichtete der Spiegel, dass der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt dem saudischen Außenminister Saud al-Faisal die Lieferung von Leopard-II-Panzern in Aussicht gestellt habe und dass eine Überprüfung der bisherigen Rüstungsexportpolitik anstehe. Die Folgen sind bekannt: Es kam zu einer leidenschaftlichen Debatte, die insbesondere von Kritikern und Gegnern von Rüstungsexporten dominiert wurde und die letztlich dazu führte, dass die Leopard-Panzer nicht geliefert wurden. Schaut man sich die heutige Debatte an, dann überraschen die Ähnlichkeiten – mit der Ausnahme, dass der mittlerweile pensionierte Bundeskanzler Helmut Schmidt heute gegen Rüstungsexporte wettert. Was hat sich wirklich geändert? Und warum ist es in Deutschland so schwierig, eine sachliche Diskussion zu führen?

Den Ersten Weltkrieg verhindern

Verfolgt man die öffentlichen Debatten in Deutschland zu Rüstungsexporten, so bleibt der merkwürdige Eindruck eines Vulgärpazifismus bestehen, der die Menschen in zwei Lager einteilt: auf der einen Seite die Guten, die generell gegen Rüstungsexporte sind, auf der anderen Seite profitgierige Waffenhändler und Industrielle, die Geld verdienen wollen, und kurzsichtige Politiker, die Arbeits­plätze in der Rüstungsindustrie sichern wollen, ohne sich Gedanken zu machen, was mit ihren Produkten geschieht. Rüstungsexporte (wie Rüstungsproduk­tion generell) werden als verwerflich, kriminell oder unmoralisch verdammt und regelmäßig wird auf eine angeblich bestehende weltweite Rüstungsdynamik hingewiesen, die durch deutsche Rüstungsexporte besonders stark angefacht werde. Das ist Denken von vorgestern, welches immer noch den Ersten Weltkrieg zu verhindern sucht, aber für die heutigen Verhältnisse völlig ungeeignet ist. Bedauerlich ist, dass es nicht nur bei NGOs und Friedensaktivisten, sondern auch in den beiden Kirchen und den Medien große Verbreitung findet.

Diese Argumentationsketten kennt man seit Jahrzehnten, ebenso die abgestandenen Metaphern (Deutschland als „Waffenschmiede der Welt“, „Bombengeschäfte“ oder das Bild des hinterhältigen „Lobbyisten“), die immer wieder suggerieren sollen, dass wir an allem Unglück dieser Welt schuldig sind. So wird in diesem Zusammenhang konstant beklagt, dass die deutschen Rüstungsexporte angestiegen seien, und in der Regel wird dann auf die Statistiken des schwedischen Friedensforschungsinstituts SIPRI hingewiesen, wonach Deutschland wahlweise der dritt- oder viertgrößte Rüs­tungsexporteur der Welt und somit die „Waffenkammer der Welt“ sei.

Fakt ist: Die Datenbasis, die Deutschlands dritten Rang bei Waffen­- oder Rüstungsexporten „begründet“, hält einer gründlichen Prüfung nicht stand. Die Berechnungen von SIPRI sind methodisch fragwürdig und stehen im eklatanten Widerspruch zu den veröffentlichten Zahlen über Waffen- und Rüstungsexporte der europäischen Staaten. Deutschland dürfte bei Waffenexporten eher die Nr. 5 oder 6 hinter Großbritannien und Frankreich sein, wobei auffällt, dass – anders als bei Großbritannien und Frankreich – die meisten Waffen und Rüstungsgüter in NATO-Staaten gehen. Schaut man sich Bilder von heutigen Konflikten an, dann sieht man in der Regel Waffen im Einsatz, die aus russischen / sowjetischen /
­ ukraini­schen, amerikanischen, französischen oder israelischen Beständen kommen. Kriege, bei denen deutsche Waffen eine wichtige Rolle spielen, sucht man vergeblich.

Es gibt 190 Staaten auf der Welt, von denen etwa 30 im nennenswerten Umfang Waffen, Munition und andere Rüstungsgüter herstellen. Solange das Gewaltmonopol ein wichtiges Kennzeichen von Staatlichkeit ist (gerade auch von Staatlichkeit, die den inneren Frieden garantieren soll), solange werden Rüstungsexporte ein völlig legitimes Mittel der zwischenstaatlichen Beziehungen bleiben. Die wirklich entscheidende politische Frage ist immer die: Welche Waffenlieferung an wen ist richtig und an wen ist falsch? Und welche Rolle soll Deutschland im internationalen Waffenhandel spielen?

Kontinuität und Wandel

Lässt man die Rüstungsexportpolitik der Bundesregierungen seit den siebziger Jahren Revue passieren, dann fallen zweierlei Dinge auf: Zum einen haben alle Bundesregierungen angesichts der emotionalen und populärpazifistisch dominierten öffentlichen Debatten weitgehend den Kopf eingezogen und sich in die Defensive drängen lassen. Das galt für Helmut Schmidt genauso wie für Helmut Kohl, für Gerhard Schröder oder heute für Angela Merkel. Diese Defensivhaltung der Regierung macht alles noch schlimmer. Zum zweiten ist erkennbar, dass es allen großen Parteien gelungen ist (und zwar immer dann, wenn sie gerade an der Regierung waren), eine Middle-of-the-road-Politik zu betreiben, die einerseits Zurückhaltung bei Waffenexporten zeigt, andererseits aber auch die Verantwortung reflektiert, die Deutschland in der Allianz, in Europa und als weltpolitischer Akteur aus guten Gründen zu übernehmen bereit ist. Jenseits des öffentlichen Geschreis hat sich durchaus ein parteien­übergreifender Konsens herausgebildet, der aber jedes Mal wieder in Gefahr ist, wenn die Guten dieser Republik sich lauthals über ein anstehendes Vorhaben ereifern.

Kein Paradigmenwechsel

Die offizielle Politik der Bundesregierung gleich welcher Couleur hat sich immer um eine klare Positionierung herumgedrückt. Man gibt sich moralisch und lässt sich von den prinzipiellen Rüstungskritikern die Maßstäbe vorgeben. Ausdruck dafür sind die Richtlinien für den Export von Kriegswaffen und Rüstungsgütern, die seit Mitte der sechziger Jahre mehrfach geändert worden sind. Sie sind vom Bemühen gekennzeichnet, Kriterien zu entwickeln, die den Eindruck einer moralisch untermauerten Politik erwecken und ein Minimum an Handlungsfreiheit belassen.

Tatsächlich gibt es einen breiten Konsens, dass Rüstungsexportpolitik restriktiv sein soll. Aber in der Realität haben alle Bundesregierungen immer wieder Rüstungsexporte und auch Waffenexporte aus unterschiedlichen strategischen Überlegungen zugelassen. Keine hat dabei je versucht, die grundsätzlich durch Grundgesetz und Kriegswaffenkontrollgesetz vorgegebene Politik der Zurückhaltung aufzugeben. Einen Paradigmenwechsel hat es nie gegeben und er steht auch derzeit nicht an. Eine Merkel-Doktrin gibt es nicht.

Was angesichts der derzeitigen Debatte über einen angeblichen Paradigmenwechsel hingegen klarer herausgestellt werden sollte (und das wäre eigentlich Aufgabe der Bundesregierung), sind die unterschiedlichen Gründe, die im Verlauf der vergangenen Jahrzehnte einvernehmlich für die Genehmigung oder Veranlassung von Exporten gefunden worden sind. Diese finden sich nur teilweise oder sehr vorsichtig fomuliert in den politischen Richtlinien wieder, aber sie werden keinesfalls geheim gehalten. Man muss sich nur die Mühe machen, die bisherigen Ausnahmeregelungen zusammenzustellen.

Es lassen sich in diesem Zusammenhang acht verschiedene Bündel von Begründungen ausmachen:

1. Die nationale rüstungswirtschaftliche Begründung: Exporte von Waffen, Waffenkomponenten oder sonstigen Rüstungsgütern sind ein wichtiges Instrument, um aus sicherheits- und verteidigungspolitischen Gründen für erhaltungswürdig erachtete rüs­tungs­industrielle Kapazitäten bereitzuhalten, die durch die deutsche Nachfrage nicht ausgelastet werden. Das gilt schon lange für den Bau von Kriegsschiffen und U-Booten, seit den neunziger Jahren auch für den Bau von gepanzerten Fahrzeugen. Es gibt dabei einen weitgehenden Konsens, dass keine rüstungswirtschaftlichen Kapazitäten nur für Exportzwecke bereitgehalten werden sollen.

2. Die europäische oder allianzweite rüstungswirtschaftliche Begründung: Seit dem Ende des Ost-West-Konflikts haben alle europäischen und amerikanischen Rüstungsproduzenten Probleme mit der Auslastung rüstungswirtschaftlicher Kapazitäten bekommen. Die Folge war die Konsolidierung der rüstungsproduzierenden Industrie (d.h. die Zusammenlegung von Firmen und die stärkere Arbeitsteilung über nationalstaatliche Grenzen hinweg). Dadurch ist ein Raum der grenzüberschreitenden Rüstungsproduktion entstanden (teils im Rahmen offizieller oder privatwirtschaftlicher Kooperationsprogramme, teils als firmeninterne Exporte), der immer weiter an Bedeutung gewinnt und der den Beginn eines europäischen (und vielleicht künftigen transatlantischen) Rüstungsmarkts markiert. Man erkennt die Bedeutung dieses Sektors, wenn man sich den Anstieg der Sammelgenehmigungen für Rüstungsgüter im jüngsten Rüstungsexportbericht der Bundesregierung anschaut. Nur im Rahmen dieses Rüstungsmarkts war die Verkleinerung der deutschen rüstungsproduzierenden Industrie von über 200 000 auf heute knapp 80 000 Beschäftigte möglich.

3. Die allianzpolitische Begründung: Innerhalb einer Allianz muss man sich gegenseitig bei der Beschaffung von Waffen aushelfen, und zwar aus Gründen der Interoperationalität sowie aus wirtschaftlichen Gründen.

4. Die erweiterte allianzpolitische oder friedenspolitische Begründung: Die NATO hat seit 1994 das Partnership-for-Peace-Programm, das 1999 erweitert wurde und über 1400 Möglichkeiten der Kooperation mit den Beitrittskandidaten und Koope­rationspartnern ausweist. Dieses Programm wird heute vor allem im Zuge gemeinsamer Operationen der NATO bei internationalen Kriseneinsätzen genutzt. Es bildet den Rahmen für vielfältige Kooperationen, einschließlich der Lieferung von Waffen, Rüstungstechnik, Ausbildungshilfe etc. Dieses Programm ist eine wichtige Bedingung für den Erfolg internationaler Missionen; es kann auch Waffenhilfe für Länder in Krisenregionen beinhalten. Zielvorgabe ist es, andere Länder zu befähigen, an einem kooperativen Friedens­ansatz mitzuwirken und die Interoperationalität von unterschiedlichen Truppen zu ermöglichen. Seit 2002 hat die NATO dieses Programm ausdrücklich auf die Bekämpfung des internationalen Terrorismus ausgedehnt. Dadurch soll die Kooperation mit außereuropäischen Partnern bei der Terrorbekämpfung ermöglicht werden. Auch dieser Plan ist ein Votum für Exporte von Waffen und für Ausbildungshilfe.

5. Die regionalpolitische Begründung: In dem Maße, in dem NATO (und EU) sich um Sicherheit und Stabilisierung des Mittelmeer-Raums kümmern, gelangt die Kooperation mit Militärapparaten in der Region auf die Tagesordnung. Der 1994 gestartete NATO-Mittelmeer-Dialog soll einen umfassenden Dialog über Sicherheits- und Verteidigungs­politik mit den Staaten des Mittelmeer-Raums ermöglichen. Das bedeutet, dass man dortigen Militärs auch Hilfestellung bei der Modernisierung anbietet, etwa Ausbildungshilfe, Training und auch Waffenlieferungen. Den Nutzen dieser Programme konnte man 2011 in Nordafrika beobachten: Da, wo es derartige Programme gab, hat sich das Militär als ein wichtiger Faktor des friedlichen Übergangs erwiesen, wo sie fehlten (Syrien und Libyen), kam es zu einer kriegerischen Entwicklung.

Die NATO hat diese Kooperation auf die Golf-Region ausgeweitet. Die im Juni 2004 verabschiedete Istanbul Cooperation Initiative (ICI) verfolgt das Ziel, die militärische Kooperation von NATO-Mitgliedern mit Staaten der Golf-Region zu verbessern. ICI enthält ein ganzes Menü von bilateralen Aktivitäten, etwa die Beratung bei der Modernisierung von Streitkräften, die Zusammenarbeit militärischer Stellen bei der Förderung der Interoperationalität sowie die Zusammenarbeit bei der Bekämpfung von Terrorismus und Proliferation von Massenvernichtungswaffen (was auch Lieferung von Militärtechnik bedeuten kann).

Auch die Zusammenarbeit bei der Grenzsicherung zur Unterbindung von Terrorismus, Waffen- und Drogenschmuggel wird ausdrück­lich befürwortet. ICI umfasst heute über 500 individuelle Projekte zwischen Regierungen oder zwischen Regierungen und Firmen. Zusätzlich gibt es Kooperationsprogramme der NATO für Afghanistan, Pakistan und den Irak. In Afghanistan sollen diese Programme dazu beitragen, Streitkräfte in die Lage zu versetzen, Verteidigungsaufgaben durchzuführen (gerade gegen Aufständische, die die Bevölkerung terrorisieren), und sie sollen zu einer Domestizierung der Streitkräfte beitragen. Diese Kooperation beinhaltet natürlich auch die Lieferung von Waffen. Gerade in diesem Bereich wurden in den vergangenen zehn Jahren Maßstäbe gesetzt, die auch für die deutsche Politik verbindlich sind.

6. Die ethische Begründung: Es kann Situationen in einem Krieg geben, in denen die fragwürdigere Option darin besteht, keine Waffen zu liefern. Das konnte man in den neunziger Jahren in Bosnien-Herzegowina und in Kroatien sehen, wo das UN-Waffenem­bargo den Konflikt verlängert, intensiviert und damit Zehntausenden Menschen das Leben gekostet hat. Darüber gibt es aber nur eine sehr verhaltene Diskussion bei uns, die von Gegnern jeglicher Rüstungsexporte gern unterdrückt wird.

7. Der Sonderfall Israel: Die Bundesrepublik hat Israel immer wieder Waffen geliefert, zuletzt die U-Boote der Dolphin-Klasse. Die Dolphin-Boote sind theoretisch in der Lage, nach einem Umbau Marschflugkörper aufzunehmen. Keiner von diesen Marschflugkörpern hat jedoch nach heutigem Kenntnisstand auch nur annähernd die Fähigkeit, eine nukleare Zweitschlagskapazität gegenüber dem Iran herzustellen. Die Aufgeregtheit der öffentlichen deutschen Debatte darüber ist charakteristisch für deren Unreife.

8. Und schließlich gibt es Rüstungslieferungen, die nicht umstritten sind, weil die politische Lage stabil ist oder weil es sich um Waffensysteme handelt, die eindeutig nicht für die Vorbereitung eines Angriffskriegs geeignet sind und die auch nicht Krisenlagen verschärfen. Das sind etwa Küstenschutzboote oder U-Boote zur Kontrolle von Küstengewässern für Länder wie Chile, Argentinien oder Südafrika.

Das deutsche Drama besteht darin, dass die politischen Richtlinien diese Entwicklungen nur partiell reflektieren und dass die jeweilige Bundesregierung immer defensiv argumentiert, während die Opposition umso lautstärker die Politik kritisiert, einen Paradigmenwechsel diagnostiziert und eine stärkere Beteiligung des Parlaments fordert. Tatsächlich besteht eigentlich ein breiter Konsens, der gelegentlich bei der Beurteilung einzelner Vorhaben aufbricht. z.B. bei Panzerlieferungen nach Saudi-Arabien. Solche Fälle bedürfen immer einer Einzelfallentscheidung, und diese muss nach sorgfältiger Abwägung aller Vor- und Nachteile erfolgen.

Egal wie die Entscheidung zu Saudi-Arabien ausfällt: Es wäre ein großer Beitrag zur Versachlichung der Diskussion, wenn die Bundesregierung sich entschließen könnte, die Rüstungsexportrichtlinien so umzuformulieren, dass diese nicht nur Verbeugungen an die Kritiker enthalten, sondern konkret und nachvollziehbar aufzeigen, unter welchen Bedingungen die Bundesregierung es für sinnvoll hält, Waffen und Rüstungsgüter zu exportieren. Diesem Anspruch werden die derzeitigen Richtlinien nur begrenzt gerecht.

Prof. Dr. Joachim Krause ist Direktor des Instituts für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel,wo er Politikwissenschaft lehrt.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar/ Februar 2013, Seite 100-105

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