Ukraine, Kaukasus und Zentralasien
Wie die Europäer das „Great Game“ verschlafen
Strukturdefizite und Uneinigkeit der EU-Staaten überlassen das Feld vom Kaukasus bis nach Zentralasien fast ganz den USA und Russland. Es ist daher nicht verwunderlich, so der Leiter der Körber-Arbeitsstelle Russland/GUS im Forschungsinstitut der DGAP, dass die Stimme Europas in Zentralasien oder bei einem möglicherweise drohenden Iran-Konflikt kaum gehört wird.
In den neunziger Jahren vollzog sich zwischen den Vereinigten Staaten, Russland, Iran, der Türkei, China und den Anrainerstaaten das „Große Spiel“ um die Kontrolle über das kaspische Öl und Gas. Heute zählt auch Afghanistan zu dieser geopolitischen Region, und das „Great Game“ hat mit dem Krieg gegen den internationalen Terrorismus eine zusätzliche sicherheitspolitische Dimension erhalten. Afghanistan und Pakistan werden wahrscheinlich auf Jahre hinaus Brutstätten des internationalen Terrorismus bleiben; im Nordkaukasus tobt seit fast zehn Jahren der Tschetschenien-Krieg, der sich jederzeit auf Georgien ausweiten könnte.
Neben den Gefahren des islamischen Terrorismus und der illegalen Herstellung von Massenvernichtungswaffen birgt die kaspische Region ein gewaltiges energiepolitisches Potenzial. Hier lagern die künftigen Öl- und Gasreserven für Europa, die angesichts der zunehmenden Krisen im Nahen und Mittleren Osten schon heute als Alternativen für die Energieversorgung Europas betrachtet werden müssen. Aus diesem Grund ist ein Land wie die Ukraine als Transitland für Energieträger nach Europa so interessant und muss unbedingt in künftige Strategien eingebunden werden.
Die Vereinigten Staaten bemühen sich um die Stabilisierung der Südflanke der ehemaligen Sowjetunion. Washington betreibt eine Eindämmungspolitik gegenüber Russland und Iran – denjenigen Ländern, die zuvor den kaspischen Raum kontrolliert hatten. Die USA halfen den neuen Staaten, ihre Kommunikations-, Handels- und vor allem Pipelinerouten von Russland zu diversifizieren. Die Regierung von Bill Clinton stand Pate bei der Errichtung der so genannten GUUAM-Organisation, die heute als Alternative zu der von Russland gelenkten Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) besteht. Benannt nach den Anfangsbuchstaben der Mitgliedsländer Georgien, Ukraine, Usbekistan, Aserbaidschan und Moldau soll die GUUAM künftig den neuen Ost-West-Transportkorridor sicherstellen und die frühere Nord-Süd-Achse Moskau-Teheran neutralisieren.
Die Regierung Clinton hatte durch ihre Aktivitäten praktisch schon einen Brückenkopf im kaspischen Raum erobert. Nach den Terrorangriffen vom 11. September 2001 fand die neue Regierung unter George W. Bush in dieser Region offene Türen vor für die Stationierung ihrer Truppen für den Krieg gegen Afghanistan. Heute besteht nirgends mehr ein Zweifel daran, dass der Südkaukasus (mit Ausnahme Armeniens) und Zentralasien (mit Ausnahme Kasachstans) eine Einflusssphäre der Amerikaner darstellen. Die Amerikaner, nicht die Europäer, werden Einfluss auf den bald anstehenden Elitewechsel an der Spitze der kaukasischen und zentralasiatischen Länder haben.
Die Europäer versuchten anfangs, den Amerikanern bei diesem „Great Game“ zu folgen. In der Pariser EU-Charta von 1990 wurde der kaspische Raum als Gebiet „gesamteuropäischer Interessen“ bezeichnet, doch schreckte die EU vor jeglichen „geopolitischen“ Ambitionen im Kaukasus und Zentralasien zurück. Zwar wurde der Aufbau des Ost-West-Transportkorridors, der die kaukasischen und zentralasiatischen Länder aus der geostrategischen Isolation und der Kontrolle Russlands hätte führen sollen, von der EU mittels groß angelegter Projekte gefördert. Doch diese Förderungsprojekte öffneten nicht, wie anfangs erhofft, die Tür zu verstärkten westlichen Firmeninvestitionen in die „moderne Seidenstraße“. Anders als die USA vermied die EU im kaspischen Raum auch jegliche Konflikte mit Russland und Iran. Als sich nach dem Amtsantritt des russischen Präsidenten, Wladimir Putin, die russische Wirtschaft in rasantem Tempo zu erholen begann, verringerten die Europäer sogar ihr Engagement im kaspischen Raum und gaben Russland die Möglichkeit, seine Funktion als Hauptbrücke zwischen der EU und Asien zurück zu erobern.
Anders als im Falle des unmittelbar an die EU grenzenden Balkans empfinden die Europäer, was den kaspischen Raum angeht, noch keinen Handlungsdruck. Kaum jemand in Westeuropa kann sich heute den Kaukasus oder Zentralasien als Mitglieder der EU oder NATO vorstellen. Die europäische Politik folgt im postsowjetischen Raum dem Primat der Menschenrechte und fordert von den kaukasischen und zentralasiatischen Ländern den schnellen Aufbau einer Zivilgesellschaft und die Errichtung eines Rechtsraums. Die USA gehen bei der Verfolgung eigener strategischer Interessen in der Region weniger streng mit den autoritären und korrupten Regimen um, denn sie wünschen sie sich als Verbündete. Die Herrschaftseliten in den betreffenden Ländern belächeln den europäischen Ansatz, den Islam „zivilisieren“ zu wollen.
Bundeskanzler Gerhard Schröder forderte am 8. November 2001 vor dem Deutschen Bundestag ein größeres europäisches Engagement in Zentralasien. Daraufhin entstand ein neues Zentralasien-Konzept der Bundesregierung, welches sich jedoch wieder ausschließlich auf den wirtschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Aufbau in der kaspischen Region konzentrierte. Doch die entscheidenden Schritte müssen von Brüssel aus erfolgen. Tatsächlich rief das Europäische Parlament im Februar 2002 die Europäische Kommission und den Rat dazu auf, eine Strategie für den kaspischen Raum zu entwerfen und anschließend umzusetzen. Der Krieg in Afghanistan war eben zu Ende gegangen, der Irak-Krieg stand kurz vor dem Ausbruch. Die EU befürchtete, dass der Kampf gegen den internationalen Terrorismus auf das „Great Game“ im kaspischen Raum ausgeweitet werden könnte, und suchte nach eigenen Vermittlungsmöglichkeiten und vor allem nach konkreten Maßnahmen zur präventiven Friedenssicherung und Konfliktlösung im Kaukasus und in Zentralasien.
Iran – ein wichtiger Akteur im „Great Game“ – rückt nun immer stärker ins Visier der amerikanischen Antiterrorkampagne. Ein neuer Streit zwischen Amerikanern, Europäern und Russen über das Vorgehen gegen Iran ist nicht ausgeschlossen. Die EU, die immer wieder Anstrengungen unternommen hatte, in der kaspischen Region eine eigene Strategie zu entwickeln, kann heute das „Great Game“ nicht beeinflussen. Für den Kampf um die Kontrolle über das kaspische Öl und Gas fehlen den Europäern die politischen Argumente und die notwendigen Machtinstrumente. Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik sowie die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik, durch innere Strukturdefizite und Uneinigkeit gelähmt, sind nach den amerikanisch-europäischen Auseinandersetzungen im Zusammenhang mit dem Irak-Krieg in den Augen der Vereinigten Staaten diskreditiert.
Internationale Politik 7, Juli 2003, S. 53 - 55
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