Kein Europa ohne Russland
Im Verhältnis zur EU verlangt Moskau Ebenbürtigkeit
Die EU muss endlich eine einheitliche politische Linie gegenüber dem immer selbstbewusster auftretenden Russland finden. Neben der Ausarbeitung eines neuen Partnerschafts- und Kooperationsabkommens sollte die EU mit Russland bei der Reform internationaler Organisation kooperieren und gemeinsame Räume wie Freihandelszonen ausbauen.
Beinahe 20 Jahre sind seit dem Ende des Ost-West-Konflikts vergangen. In den USA, der EU und Russland gibt es kaum noch aktive Politiker, die die Auseinandersetzung der beiden Blöcke in Führungspositionen erlebt haben. Doch nach einer kurzen Phase der Annäherung, die durchaus zu einer Integration Russlands in den Westen hätte führen können, haben sich Amerikaner und Europäer mit Russland wieder zerstritten. In beiden Lagern ist von einer Rückkehr in den Kalten Krieg die Rede. Der Westen steht vor der Wahl, Russland entweder wie einen weltpolitischen Störenfried zu behandeln und mit den bekannten Mitteln aus dem Arsenal des Kalten Krieges einzudämmen, oder aber die fehlende Kompatibilität der Wertesysteme zwischen dem Westen und Russland zu akzeptieren und Moskau über eine strategische Partnerschaft in ein gemeinsames Bündnis einzuschließen.
Die Regierung von George W. Bush entschied sich in den letzten Jahren auch unter dem Einfluss einer immer autoritäreren russischen Innenpolitik für eine Politik der Eindämmung. Dazu gehörten der Aufbau der Raketenabwehr in Mittelosteuropa, der Versuch, die NATO auf die Ukraine und Georgien zu erweitern sowie das russische Pipelinemonopol für den Transport von Öl und Gas in den Westen um jeden Preis aufzubrechen. Der neue US-Präsident Barack Obama, der offensichtlich keinen triftigen Grund für einen neuen Kalten Krieg mit Russland sieht, könnte konkrete, positive Kooperationsangebote an Russland machen. Sollte Russland aber dennoch für die USA weiterhin nicht als potenzieller Bündnispartner auf globaler Ebene in Frage kommen, müsste die EU auf europäischer Ebene eine eigenständige Politik der Annäherung an Russland betreiben. Wenn schon nicht nicht für die Weltordnung, so ist Russland doch ein essentieller Faktor für die europäische Friedensordnung.
Zweifellos wird Russland ein äußerst komplizierter Partner für die EU bleiben. Den Zusammenbruch des Sowjetimperiums vor fast 20 Jahren haben die russischen Eliten offensichtlich noch nicht überwunden. Sie werfen dem Westen heute offen vor, die Schwächeperiode Russlands Anfang der neunziger Jahre schamlos ausgenutzt zu haben, um es in eine wirtschaftliche Abhängigkeit zu treiben und seiner traditionellen Einflusssphären zu berauben. Russland versteht sich als führende Großmacht in Europa, die am Aufbau der künftigen Wirtschafts- und Sicherheitsarchitektur des Kontinents beteiligt werden möchte. Es will sich nicht von der EU nach Asien „abdrängen“ lassen. Dem westlichen Einwand, Russland sei wirtschaftlich noch zu schwach, um ernst genommen zu werden, kontert Moskau, indem es die Europäer an ihre Abhängigkeiten von russischen Energielieferungen erinnert. Die faktische Annexion Abchasiens und Südossetiens im Georgien-Konflikt vom August 2008 hat im Westen Ängste vor einem russischen Neoimperialismus aufkommen lassen.
Die EU könnte sich nun durchaus auf den Standpunkt stellen, Russland sei aufgrund seiner anders gearteten europäischen Werte, seiner unterentwickelten Demokratie und Marktwirtschaft sowie seines fragilen Rechtssystems kein verlässlicher Partner für den Aufbau einer gemeinsamen europäischen Zivilisation. Zur Verhinderung einer Abhängigkeit müssten die Energieimporte aus Russland radikal diversifiziert werden und die EU müsste alternative Projekte für Gas- und Ölpipelines und Flüssiggastransporte entwickeln und realisieren, um eine energiepolitische Erpressbarkeit zu vermeiden.
Bei seinem Treffen im September 2008 mit internationalen Experten des Waldai-Klubs bemerkte der russische Präsident Dmitri Medwedew, der Westen hätte Russland in den neunziger Jahren in die NATO aufnehmen sollen. Dann wären die heutigen Konflikte im postsowjetischen Raum obsolet. Nur ist der Ausbau der europäischen Architektur entlang der Grundpfeiler NATO und EU inzwischen immer weiter fortgeschritten. Alle ehemaligen Mitgliedsstaaten des Warschauer Paktes wurden in die NATO und EU integriert; die Grundsatzentscheidung, auch die Ukraine und Georgien in das westliche Bündnis aufzunehmen, ist ebenfalls gefallen. Das künftige Europa entsteht ausschließlich auf den Hauptsäulen der NATO und EU, während Russland – das territorial und bevölkerungszahlenmäßig größte europäische Land, welches über alle Bodenschätze verfügt, die Europa für seine künftige wirtschaftliche Existenzabsicherung benötigt – in der institutionellen europäischen Neuordnung isoliert bleibt.
Harte Haltung oder sanfte Einbindung?
Moskaus Begehren, diesen Zustand zu verändern und eigene Machtansprüche auf dem europäischen Kontinent zu stellen, charakterisieren die gegenwärtigen Konflikte zwischen Russland und der EU. Die EU ist in der Frage der Beziehung zu Russland tief gespalten. Einige EU-Staaten glauben nicht an eine gemeinsame europäische Friedensordnung, wobei sich der innereuropäische Zwist in den Fragen der NATO-Erweiterung auf die Ukraine und Georgien, der Raketenabwehr, der Energieallianz mit Moskau sowie der Bewertung des Georgien-Konflikts vom August 2008 äußert. Unterstützt von Großbritannien und Schweden fordern zahlreiche mittelosteuropäische Staaten eine harte Haltung gegenüber einem „neoimperialen Russland“. Für ihre Russland-kritische Haltung verlangen sie die Solidarität der Westeuropäer.
Andere EU-Länder, wie beispielsweise Frankreich, Italien und Deutschland, wollen unter keinen Umständen eine Europa-Politik gegen die Interessen Russlands oder ohne Einbindung Russlands vorantreiben. Eine eindeutige Schuldzuweisung an Russland im Georgien-Krieg möchten diese alten EU-Staaten ebenfalls nicht akzeptieren. Sie fordern wiederum ihrerseits Solidarität von den Mittelosteuropäern und mehr Vertrauen für ihre Versöhnungspolitik mit dem postkommunistischen Russland. Es ist nicht ausgeschlossen, dass sich die Europäer, sollte dieser konfliktgeladene Zustand lange anhalten, am Streit um Russland zerreiben und sich in ein „altes“ sowie „neues“ Europa aufspalten werden.
Die französische EU-Ratspräsidentschaft hat in mühsamer Diplomatie die gegensätzlichen Standpunkte zu vereinen versucht. Immerhin ist es Frankreich gelungen, Russland ein neues Partnerschafts- und Kooperationsabkommen der EU anzubieten, das Moskau eine enge Zusammenarbeit in wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und kulturellen Fragen in Aussicht stellt, falls der östliche Nachbar sich nicht weiter vom europäischen Wertekanon entfernt. Im Gegenzug soll Russland ein für alle Mal auf den Aufbau einer eigenen Einflusssphäre zugunsten einer gemeinsamen europäischen Nachbarschaftspolitik verzichten. Der französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy konnte sich damit brüsten, im Verhältnis der EU zu Russland während des russisch-georgischen Krieges mit seinem Sechs-Punkte-Plan eine Eskalation verhindert zu haben. Hätten nicht die Franzosen, sondern beispielsweise die Polen in diesem Moment die Führung der EU innegehabt, wäre es höchstwahrscheinlich zu Strafsanktionen der Europäer gegenüber Russland gekommen. Während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft im Jahre 2006 war es Bundeskanzlerin Angela Merkel schließlich nicht gelungen, das sture polnische Veto in der Frage der Aufnahme von Verhandlungen über ein neues Partnerschafts- und Kooperationsabkommen zwischen der EU und Russland zu durchbrechen. Fast drei Jahre lang lagen die Verhandlungen mit Moskau auf Eis. Aufgabe der EU wäre es deshalb zuerst, eine einheitliche politische Linie gegenüber Russland zu finden.
Teilnahme am Sicherheitsdialog
In den neunziger Jahren hatte sich Russland mit den westlichen Bedingungen im Partnerschafts- und Kooperationsabkommen einverstanden erklärt, denn im damaligen wirtschaftlichen Existenzkampf erblickte es im ökonomisch mächtigen EU-Europa seinen einzigen Stabilitätsanker. Heute verfolgt Moskau andere Prioritäten. Statt eine Juniorpartnerschaft mit dem Westen anzustreben, verlangt Moskau im Verhältnis zur EU Ebenbürtigkeit. Präsident Medwedew fordert einen neuen gesamteuropäischen Sicherheitsdialog, an dessen Ende die Bildung einer neuen „Dachorganisation“ für alle bestehenden europäischen Institutionen stehen soll. Russland möchte mit der NATO und EU eine Art „ewigen Frieden“ schließen, beide Organisationen jedoch in ein erweitertes Bündnis einschließen, in dem der Westen und Russland nach dem Prinzip der Kohabitation den europäischen Kontinent gemeinsam stabilisieren könnten.
Während die USA, die mittelosteuropäischen und einige westeuropäische Staaten einen solchen Sicherheitsdialog mit Moskau ablehnen, hat der französische Präsident am Ende seiner EU-Ratspräsidentschaft dem russischen Präsidenten Medwedew Gesprächsbereitschaft angekündigt. Tschechien als neuer Ratspräsident scheint sich von Sarkozys Eifer wieder zu distanzieren. Prag will sich während seiner Präsidentschaft stärker um die Annäherung der ehemaligen Sowjetrepubliken Ukraine, Weißrussland, Moldawien, Armenien, Aserbaidschan und Georgien an den Westen bemühen. Diesen Staaten wird ein ambitioniertes Assoziierungsangebot mit der EU unterbreitet. So wie die neue östliche Partnerschaft konzipiert ist, kann sie durchaus als Versuch der EU interpretiert werden, Russland aus seiner alten Hemisphäre im Westen und Süden zu verdrängen. Sollten die genannten GUS-Länder das erweiterte Partnerschaftsangebot der EU nutzen, können sie mit einer großzügigen Unterstützung des Westens für den notwendigen demokratischen und marktwirtschaftlichen Transformations- und Integrationsprozess mit der EU rechnen. Die östliche Partnerschaft beinhaltet auch ein neues EU-Energiesicherheitspaket für alle von russischen Energieträgern abhängigen Nachbarstaaten, womit man offen Solidarität mit jenen Ländern zeigt, die sich von einem „imperialistischen“ Russland bedroht fühlen. Anders als die französische Ratspräsidentschaft könnte die tschechische deshalb wieder Akzente der Eindämmungspolitik gegenüber Moskau setzen.
Dann würde das Thema der „Bestrafung“ Russlands für die faktische Annexion der beiden abtrünnigen georgischen Provinzen Abchasien und Südossetien erneut an Aktualität gewinnen.
Die nächsten EU-Ratspräsidentschaften nach den Tschechen werden die Schweden und im Jahre 2011 die Polen innehalten. Stockholm hat sich mit der äußerst kritischen Position der Mittelosteuropäer gegenüber Russland solidarisiert. Die Ostpolitik der Mittelosteuropäer, die sich vom traditionellen deutsch-französischen Ostpolitikansatz der Fokussierung auf Russland unterscheidet, könnte neue Gräben in den Beziehungen zu Russland entstehen lassen.
Zehn Punkte für konkrete Zusammenarbeit
Wie könnten positive Ansätze einer gemeinsamen EU-Russland-Politik zum Tragen kommen? Abgesehen von der Ausarbeitung eines neuen Partnerschafts- und Kooperationsabkommens mit Moskau sollte die EU – auch als Antwort auf Medwedews Dialogwunsch – in den folgenden zehn Bereichen neue konkrete Formen der Zusammenarbeit mit Russland suchen, wobei auf verschiedenen Ebenen die USA trilateral eingebunden werden müssten:
- Konzeption einer gemeinsamen Raketenabwehr gegen potenzielle Angriffe der Schurkenstaaten, die Amerika, Europa und Russland gleichermaßen schützen würde. Gemeinsame wissenschaftliche Weltraumerforschung – auch mit dem Ziel, nationale Weltraumaufrüstungsprogramme zu verhindern (trilateral mit den USA).
- Neuauflage der westlichen Energieallianz mit Russland mit dem Ziel, eine langfristige Sicherheit für russische Energielieferungen nach Westen zu garantieren und im Gegenzug westlichen Technologietransfer für die überfällige Modernisierung des russischen Energiekomplexes bereitzustellen. Verhinderung von Pipelinekriegen in Eurasien durch Zusammenschluss westlicher und russischer Energiekonzerne zu gemeinsamen Gaskonsortien (bilateral EU-Russland).
- Enge Abstimmung bei der Reform der internationalen Organisationen wie UN, G-8, OSZE. Begründung institutioneller globaler „Partnerschaften für den Frieden“, beispielsweise der NATO – Schanghai Organisation für Zusammenarbeit (trilateral).
- Konzeption eines EU-Russland-Plans für die Modernisierung Sibiriens, praktisch als Verstärkung der Zielorientierung der Energieallianz. Dieser Plan würde nicht nur die wirtschaftliche Zusammenarbeit fördern, sondern den strategischen Wert der russischen Ressourcen für die künftige Prosperität Europas festschreiben (bilateral).
- Wiederherstellung des Vertrauens bei der Kooperation im Rahmen des Nichtverbreitungsregimes von Massenvernichtungswaffen. Konzeption einer gemeinsamen globalen „Sicherheitsdoktrin“, die langfristig Russland, die USA und die EU in ein gemeinsames Bündnis gegen den internationalen Terrorismus einbindet (trilateral).
- Schaffung eines neuen arbeitsfähigen Mechanismus zwischen EU und Russland, der nicht vom Konsens aller 27 EU-Mitgliedsstaaten abhängig wäre. Die alte deutsch-französisch-russische Troika weckt zu viel Unbehagen bei den Mittelosteuropäern. Die Idee des außenpolitischen Sprechers der CDU, Eckart von Klaeden, von der Bildung einer europäischen Kernstaatengruppe, die für die EU-Russland-Politik verantwortlich sein würde, sollte umgesetzt werden (bilateral).
- Gemeinsame Maßnahmen im Bereich Klimaschutz und Umweltpolitik. Russland, die EU und die USA könnten eine „ökologische Allianz“ ins Auge fassen. Beide Seiten würden über verschiedenen Fachebenen gemeinsame Herausforderungen und Handlungsmöglichkeiten im Rahmen des Kyoto-Prozesses entwickeln (trilateral).
- Weiterer Ausbau gemeinsamer Räume von EU und Russland, vor allem in Richtung Freihandelszone, Abbau von Visumbarrieren, Wissenschaftsaustausch, europäisch-russischer Friedensmissionen u.a. im postsowjetischen Raum sowie in Afrika (bilateral).
- Ausdehnung des Quartett-Formats (USA–EU–Russland–UN), das sich bei nahöstlichen Verhandlungen formierte, auf andere regionale Konfliktregionen wie Iran oder Afghanistan. Russland hat sich in den vergangenen Jahren durch eine Intensivierung von Wirtschaftskontakten mit Ländern des arabischen Raumes neues politisches Gewicht verschafft, das im Interesse des Westens genutzt werden könnte (trilateral).
- Gemeinsame Programme zur Bekämpfung der Armut in den Entwicklungsländern. Die globalen Finanz-, Nahrungs- und Energiekrisen werden die Weltwirtschaftsordnung verändern. Die Folgen dieser Krisen könnten Massenmigration und Rohstoffkriege sein. Das heutige Russland ist aufgrund seiner lukrativen Exportwirtschaft in der Lage, Hilfsgelder für soziale Notprogramme bereitzustellen und damit seine wachsende Verantwortung für die Weltwirtschaft zu demonstrieren (trilateral).
ALEXANDER RAHR ist Programmdirektor Russland/Eurasien im Forschungsinstitut der DGAP.
Internationale Politik 1, Januar 2009, S. 45 - 50.