Mehr Einsatz in Afghanistan
Und den Süden nicht mehr ausschließen
Um von den USA eine stärkere Orientierung aufs Zivile verlangen zu können, sollte Deutschland mehr Flexibilität beim Einsatz seiner Soldaten zeigen und eine Entsendung in den Süden Afghanistans nicht länger kategorisch ausschließen. Größere Anstrengungen beim Polizeiaufbau und mehr nichtmilitärisches Engagement in Pakistan sind weitere Optionen.
In den vergangenen Jahren war Deutschland in der NATO oft in der Defensive. Häufiger geriet es in einen Konflikt mit dem amerikanischen Partner und anderen Verbündeten über die Aufgabenstellung und Funktionsweise der Allianz. Und nicht selten stand Berlin an der Spitze einer Gruppe, die eine von den USA erwünschte funktionale oder geografische Ausweitung der Allianz eher skeptisch sah.
Deutschland will seine Truppen nicht in den stark umkämpften Süden und Osten Afghanistans entsenden. Die NATO-Response Force soll sich nach deutschen Vorstellungen nicht in Afghanistan bewähren. Berlin verweigerte sich der von den USA geforderten Aufnahme Georgiens und der Ukraine in die NATO ebenso wie dem Aufbau einer globalen Allianz der Demokratien. Bei verschiedenen neuen Risiken, von der Proliferation über den Terrorismus bis hin zur Energiesicherheit, sieht Deutschland für die NATO, anders als viele Amerikaner, nur eine Rolle am Rande. Und als Freund Russlands stellt sich Deutschland auch beim Thema Raketenabwehr quer. Seit Frankreich sich durch seine Annäherung an das Bündnis zumindest in der amerikanischen Wahrnehmung vom Quertreiber zum transatlantischen Musterknaben mauserte, spricht man gerne von Deutschland als dem „neuen Frankreich“. Der Vergleich ist dennoch unangebracht. Berlin ist nicht an einer irrelevanten NATO gelegen. Der deutsche Pragmatismus findet durchaus Unterstützer – aber dennoch könnte Berlin offensiver für seine Vorstellungen eintreten.
Welche NATO – und das ist eine Frage, die man vor dem Jubiläumsgipfel in Straßburg im April dieses Jahres klären sollte – wollen die USA und die Europäer? Welche Konzessionen bieten die Europäer und auch die Deutschen an, um ein dauerhaftes amerikanisches Entgegenkommen zu erleichtern? Welche Vorstellungen möchten die Deutschen nach der Wahl Barack Obamas durchsetzen und in welchen Bereichen möchten sie ihre Vorsicht aufgeben, um deutsche Interessen anderswo durchzusetzen? Der Blick auf die zwei wichtigsten Streitpunkte Afghanistan und NATO-Erweiterung zeigt, in welchen Punkten Deutschland eigene Positionen verteidigen muss und wo es Konzessionen machen kann.
Mehr Einsatz in Afghanistan
In Straßburg werden Amerikaner, Niederländer und Kanadier erneut verlangen, dass auch andere Verbündete Truppen im Regionalkommando Süd der ISAF in Afghanistan stationieren, wo ihre Streitkräfte im Kampf mit den Taliban stehen. Die Bundeswehr hat etwa 3500 Soldaten im noch relativ ruhigen Norden Afghanistans, die nun noch aufgestockt werden. Eine Verlegung in den Süden aber wurde ausgeschlossen.
Die Deutschen sehen die Afghanistan-Mission in erster Linie als eine Staatenstabilisierung und weniger als Kampf gegen den Terror; sie unterstützen den Wiederaufbau durch die ISAF, möchten ihre Truppen aber nicht in die kriegerischen Auseinandersetzungen mit den Taliban verwickelt sehen. Obama hat bereits angekündigt, amerikanische Truppen aus dem Irak abzuziehen und die Streitkräfte in Afghanistan um mindestens zwei Brigaden aufzustocken. Gleichzeitig diskutiert sein Team eine Modifizierung der Afghanistan-Strategie. Man prüft, ob und wie ein Dialog mit moderaten Taliban oder die Einbindung von Nachbarstaaten wie Pakistan und Iran die Erfolgsaussichten verbessern könnten.1 Jetzt bietet sich eine Gelegenheit für die Bundesrepublik und Europa, Elemente einer gemeinsamen Strategie mit der neuen US-Regierung zu diskutieren. Es läge im deutschen Interesse, wenn die USA in Afghanistan eine ausgewogenere Operationsführung betrieben, mehr auf den Wiederaufbau und ökonomische Perspektiven achteten sowie auf die Haltung der Zivilbevölkerung gegenüber der NATO-Mission Rücksicht nehmen. Auch ist eine bessere Koordination der am Einsatz beteiligten Akteure dringend notwendig.
Man sollte sich vom Mantra verabschieden, „keine Soldaten in den Süden“ schicken zu wollen. Stattdessen müsste Deutschland den Verbündeten eine Kooperationsbereitschaft beweisen, indem es beginnt, ihnen schrittweise, aber sichtbar im Kampf gegen die Taliban zur Seite zu stehen. Deshalb muss die Bundeswehr ihre Positionen im Norden nicht aufgeben oder die Führung im Süden übernehmen. Wünschenswert ist aber größere Flexibilität. Die Bundesrepublik unterstützt schon jetzt Verbündete in anderen Regionalkommandos mit Logistik und Versorgung beim Kampf gegen Aufständische. Als temporäre Hilfe ist dies vom Mandat des Bundestags abgedeckt; es sollte aber auch die Bereitschaft zeigen, an Kampfhandlungen teilzunehmen. Auch könnten deutsche Ausbilder der afghanischen Armee künftig zusammen mit ihren Ausbildungseinheiten in die Kriegsgebiete verlegt werden. Die Bundesrepublik könnte ausloten, ob die NATO Response Force (NRF) der neuen US-Regierung so wichtig ist, dass sie für eng begrenzte Einsätze bei der Absicherung der Wahlen in Afghanistan einsetzt werden kann – auch unter Beteiligung der Deutschen, die dies bislang blockiert haben. Eine temporäre Nothilfe der Eingreiftruppe muss nicht automatisch zu einer Militarisierung der Afghanistan-Strategie führen.
Um die bisherige Zurückhaltung aufgeben zu können, muss die Regierung natürlich Überzeugungsarbeit im Bundestag und in der deutschen Öffentlichkeit leisten. Dabei kann sie sich auf das Argument stützen, dass die Taliban versuchen werden, die afghanischen Präsidentschaftswahlen im Herbst 2009 mit Attentaten zu sabotieren. Darauf muss die NATO vorbereitet sein. Die Bundesregierung selbst führte dieses Argument bei der letzten Erhöhung des deutschen Truppenkontingents für die ISAF an. Allerdings steht die Regierung vor dem Dilemma, den USA ausgerechnet in einem deutschen Superwahljahr eine solche neue Aufgeschlossenheit präsentieren zu sollen. Selbst wenn man dem in Europa äußerst beliebten Barack Obama entgegenkommen wollte, möchte sich doch keine der großen Parteien Kriegstreiberei vorwerfen lassen.
In den USA versteht man dieses Dilemma durchaus. Washingtoner Beobachter erwarten kaum, dass Deutschland seine Truppen in Afghanistan erheblich aufstockt. Sie erwarten aber durchaus, dass die Deutschen ihr Engagement dort steigern, wo ihre Prioritäten liegen – etwa beim Polizeiaufbau. Afghanistan braucht mehr Ausbilder für die eigenen Sicherheitskräfte.2
Die Bundesrepublik hat dieses Programm im Jahr 2002 übernommen, konnte aber nicht die erhofften Ergebnisse erzielen. 2008 sagte die Europäische Union nun die Entsendung weiterer 400 Ausbilder zu – doch dieses Kontingent ist viel zu gering. Die Bundesrepublik sollte weitere Trainingseinheiten neben den zwei bereits bestehenden einrichten. Deutschen Polizisten im Landesdienst kann die Bundesregierung natürlich nicht befehlen, im Ausland zu dienen. Durch höhere finanzielle Anreize kann sie aber für eine größere Anzahl von Freiwilligen sorgen. Im Übrigen ist auch eine Ausbildung afghanischer Polizisten in Deutschland möglich. Damit wären ja keine Risiken für deutsche Beamte verbunden. Auch an anderer Stelle, etwa beim Aufbau des Justizwesens in Afghanistan, herrscht Mangel an internationalen Fachleuten.
Pakistan wäre ein weiteres Feld, auf dem die Bundesrepublik stärker mit den USA kooperieren sollte. Die aufständischen Taliban nutzen das afghanisch-pakistanische Grenzgebiet als operativen Rückzugsraum. Weder eine Politik der Einbindung noch des Drucks konnte Islamabad dazu bewegen, stärker gegen die Taliban-Stellungen vorzugehen. Es fehlen die Mittel und der politische Wille dazu. Obama drohte im Wahlkampf, notfalls auch ohne Zustimmung Islamabads militärisch gegen die Stellungen der Taliban in Pakistan vorzugehen. Um eine Eskalation zu vermeiden, gehört Pakistan auf die Agenda der NATO. Nicht nur dafür sollte sich Deutschland einsetzten – es sollte darüber hinaus Hilfe bei der Entwicklungszusammenarbeit und bei der Ausbildung pakistanischer Grenzbehörden anbieten.
Es wäre überdies von besonderer symbolischer Bedeutung, wenn Deutschland anbieten würde, bei der Stabilisierung des Irak mit eigenen Mitteln oder mit Mitteln der EU behilflich zu sein. Hiermit würde man den USA erleichtern, sich auf Afghanistan zu konzentrieren und würde zugleich ein klares Zeichen für einen Neuanfang setzen. Als Geste an Obama plant der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier in der ersten Jahreshälfte 2009 eine Reise in den Irak, um neue Projekte zu prüfen. Nachdem sich die Sicherheitslage im Irak wesentlich verbessert hat, will die EU ihre Rechtsstaatsmission ausweiten und sich dort generell stärker engagieren.3
Alternativen zur Erweiterung
Die Erweiterung der Allianz um die Ukraine und Georgien war im Jahr 2008 der größte Streitpunkt in der NATO. Die USA und Großbritannien möchten die Einbindung neuer Staaten in die NATO für die Erweiterung des westlichen Einflusses und zur Stabilisierung nutzen. Dahinter steht auch der Impuls, Staaten unter westlichen Schutz zu stellen, die vom immer aggressiveren Russland unter Druck gesetzt werden. Deutschland steht an der Spitze einer Minderheit innerhalb der NATO, die eine schnelle Aufnahme der innenpolitisch instabilen Kandidaten – die Russland zudem als aggressiven Akt verstehen würde – nicht befürwortet.4 Georgien und die Ukraine erhielten beim NATO-Gipfel in Bukarest im April letzten Jahres nicht den erhofften Membership Action Plan (MAP); zugesichert wurde aber die Aufnahme zu einem späteren Zeitpunkt. Der Krieg in Georgien hat die MAP-Gegner in der NATO nun gestärkt. Deutschland, und mittlerweile in zurückhaltender Form auch Frankreich, haben sich auf dem Außenministertreffen im Dezember 2008 dem Plan der USA widersetzt, Georgien und der Ukraine auch ohne einen MAP mit konkreten Maßnahmen an die NATO heranzuführen.
Die Bundeskanzlerin unterstützt zwar den Kompromiss, den man in Bukarest gefunden hat, doch will die Bundesrepublik den Beitrittsprozess der Ukraine und Georgiens so lange wir möglich hinauszögern. Die Bundesregierung möchte vermeiden, dass der Konflikt über die Westbindung der beiden Staaten die NATO schwächt und überdies zu kooperativen Beziehungen mit Russland zurückfinden, die von der Georgien-Krise belastet werden – in der NATO, aber auch zwischen Russland und der EU. Die Bundesregierung macht sich für die Wiederbelebung der konventionellen Rüstungskontrolle in Europa stark.
Russland hat Ende 2007 seine Teilnahme am Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa ausgesetzt. Die NATO-Staaten verweigern wiederum die Ratifikation eines Anschlussvertrags, weil Russland seine Truppen nicht aus den Zonen der so genannten „Frozen Conflicts“ wie Transnistrien und Abchasien abzieht. Durch diese Blockade fehlen wichtige Instrumente der Vertrauensbildung und Kontrolle, die für den Frieden in Europa wichtig sind. Solange der Dauerkonflikt über die NATO-Mitgliedschaft der ehemals sowjetischen Länder besteht, wird man über diese wichtigen Fragen kaum diskutieren können.
Die Regierung Obama wird sich in ihrer Erweiterungspolitik aber von ähnlichen Motiven wie die Vorgängerregierung leiten lassen. Schreckt die NATO davor zurück, die Ukraine und Georgien heranzuführen, so die amerikanische Logik, wird dies in Moskau als Zeichen der Schwäche ausgelegt. Dies kann sich ein neuer amerikanischer Präsident kaum leisten, zumal es dabei auch um die Verteidigung von Werten der Freiheit und Demokratie geht, deren Bedeutung Obama während seines Wahlkampfs stets betont hat.
Vielleicht liegt gerade darin der Schlüssel zur Annäherung. Die Bundesrepublik könnte sich für eine verstärkte Unterstützung Georgiens und der Ukraine durch die EU über den Rahmen der Nachbarschaftspolitik hinaus in Form einer Assoziierung einsetzen. Diese beinhaltet den Abbau von Handelshemmnissen bis hin zur Bildung von Freihandelszonen. Für die Ukraine besteht dieses Instrument bereits, für die Kaukasus-Staaten noch nicht. Georgien erhielt nach dem Krieg mit Russland entsprechende Zusagen von der EU, doch ist Engagement von deutscher Seite gefragt, damit die Europäische Union ihre Zusagen zügig umsetzt. Der Einsatz für politische und wirtschaftliche Modernisierung wäre vorerst nicht mit dem NATO-Beitritt verbunden. Man könnte aber Russland demonstrieren, dass es sich dieser Entwicklung nicht mit Waffengewalt widersetzen kann.
Prioritäten definieren
Deutschland ist in der NATO doppelt vorsichtig. Zum einen will es die Allianz als leistungsfähige Struktur erhalten und sie dafür vor funktionaler Überdehnung und politischem Dissens bewahren. Zum anderen sträubt sich Deutschland gegen den Gebrauch militärischer Mittel bei Risiken, die auch eine zivile Lösung zulassen. Dem liegt eine zivil orientierte strategische Kultur zugrunde, aber auch die fehlende Bereitschaft der Führungseliten, die Beteiligung an militärischen Operationen gegen eine kritische Bevölkerung durchzusetzen. Aus dieser doppelten Vorsicht entsteht eine Bremserrolle, die Deutschlands Einfluss im Bündnis gefährdet. Die Bundesrepublik muss jetzt entscheiden, welche Bereiche ihr wichtig sind und mit welchen Angeboten sie größere Kooperationsbereitschaft zeigen möchte.
- Die zivile Seite der Afghanistan-Mission ist zentral, aber der Bündnisstreit über die Risikoteilung gefährdet den Einsatz im Ganzen. Um die USA für einen stärker auf den zivilen Aufbau orientierten Ansatz in Afghanistan zu bewegen, ist eine schrittweise Flexibilisierung der Einsatzbedingungen der Bundeswehr hilfreich, ein Ausbau des Programms zur Ausbildung afghanischer Sicherheitskräfte und ein stärkeres nichtmilitärisches Engagement in Pakistan.
- Deutschland kann den Druck der Amerikaner abschwächen, Georgien und die Ukraine möglichst zügig in die NATO aufzunehmen, indem es sich für ein größeres europäisches Engagement zur Stabilisierung und Westbindung dieser beiden Kandidaten stark macht.
Während des Straßburger Gipfels wird vermutlich auch ein Mandat für Verhandlungen über ein neues Strategisches Konzept verabschiedet. Die übermäßigen Erwartungen an eine neue Harmonie im transatlantischen Verhältnis werden sich spätestens dann relativieren. Denn die neue US-Regierung wird – auch angesichts der finanziellen Engpässe – mehr von ihren Verbündeten verlangen und ihre Haltung in einigen Streitpunkten nicht verändern.
Wir sollten dennoch nicht diese hervorragende Gelegenheit verspielen, die Bündnisbeziehungen mit einer neuen US-Regierung zu vertiefen. Die Bundesrepublik kann sich mit Angeboten – freiwillig und nicht auf Drängen der neuen US-Regierung – aus der Verweigerer-Ecke herausbewegen, ohne ihre Positionen aufzugeben. Gewinnt Deutschland so den Status eines engagierten Verbündeten zurück, wird die Vorsicht gegenüber anderen neuen Einsatzfeldern der NATO den Deutschen vielleicht nicht mehr als Feigheit ausgelegt.
Dr. HENNING RIECKE ist Programmleiter Europäische Außen- und Sicherheitspolitik im Forschungsinstitut der DGAP.
- 1Vgl. Karen De Young: Obama to Explore New Approach in Afghanistan War, Washington Post, 11.11.2008.
- 2Vgl. Julianne Smith: Polizisten für Afghanistan, Süddeutsche Zeitung, 10.10.2008.
- 3Vgl. Andreas Rinke, Mathias Brüggmann und Erik Bonse: Steinmeier reist 2009 in den Irak Handelsblatt, 10.11.2008.
- 4Vgl. Henning Riecke und Simon Koschut: NATO’s Global Aspirations, IP-Global Edition, Sommer 2008, S. 31–37.
Internationale Politik 1, Januar 2009, S. 39 - 45.