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30. Apr. 2011

Womit wir rechnen müssen

Demografie als Triebkraft des 21. Jahrhunderts

Bevölkerungsexplosion im Süden, demografischer Rückgang im Norden, dazu dynamische Schwellenländer mit ausgeglichener Entwicklung: Die soziodemografische Spaltung der Welt wird sich künftig noch vertiefen. Welche machtverschiebungen, Konflikte, Herausforderungen birgt das für die deutsche und europäische Politik?

Die Weltbevölkerung wächst. Statt derzeit 6,8 Milliarden werden im Jahre 2050 wahrscheinlich 9,1 Milliarden Menschen den Globus bevölkern, und das globale Durchschnittsalter wird weiter steigen. Gleichzeitig werden immer mehr Menschen in städtischen Gebieten leben und die Zahl der Migranten und wahrscheinlich auch der Flüchtlinge wird weiter wachsen. Dieser demografische  Wandel wird regional höchst unterschiedlich ausfallen. Dies wird den Umfang, die Struktur und die geografische Verteilung der Weltbevölkerung verändern und die Bevölkerungsgewichte global verschieben.

Geburtentäler und Rentnerberge

Drei Faktoren treiben diese Entwicklung: Fruchtbarkeit, Sterblichkeit und Migration. So nimmt seit Jahrzehnten die Fertilität, die durchschnittliche Zahl der Kinder pro Frau, weltweit ab. Derzeit liegt sie bei 2,5 Kindern pro Frau, und die meisten Prognosen – auch die hier verwendeten UN-Vorhersagen – gehen von einer weiteren globalen Abnahme der Fruchtbarkeit aus. Da die Fruchtbarkeit aber von vielen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Faktoren abhängt, sind solche Vorhersagen methodisch umso problematischer, je weiter sie in die Zukunft ausgreifen. Eine Prognose für die nächsten drei oder vier Jahrzehnte lässt sich mit einiger Sicherheit erstellen, längerfristige Berechnungen werden schwieriger. So könnte beispielsweise ohne die optimistische Annahme einer weiter abnehmenden Fertilität die Weltbevölkerung im Jahr 2100 fast 19 Milliarden Menschen umfassen, davon 86 Prozent in Afrika und Asien.1 Ein solches Szenario würde alle vorstellbaren Möglichkeiten, diese Menschen zu ernähren und zu versorgen, übersteigen.

Sicherer vorherzusagen ist die Sterblichkeit. Sie nimmt weltweit stetig ab, und entsprechend ist in den vergangenen 150 Jahren die Lebenserwartung durchschnittlich um drei Monate pro Jahr gestiegen.2 Liegt derzeit die Lebenserwartung bei 68 Jahren, wird sie nach aktuellen Berechnungen bis 2050 auf 76 Jahre ansteigen. Allerdings hängt auch die Sterblichkeit von gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen ab, so in den am wenigsten entwickelten Ländern beispielsweise von einem verbesserten Zugang zur Gesundheitsversorgung und Erfolgen gegen Infektionskrankheiten wie HIV/Aids oder Tuberkulose. Zu den beiden „natürlichen“ Faktoren Fertilität und Mortalität kommt noch die Migration als treibende Kraft der Bevölkerungsentwicklung. In den vergangenen 40 Jahren blieb der relative Anteil der Migranten an der Weltbevölkerung zwar nahezu konstant. Im Jahr 1965 betrug er etwa 2,5 Prozent, und gegenwärtig wird er auf drei Prozent geschätzt.3 Aufgrund des Bevölkerungswachstums ist die absolute Zahl der Migranten aber stark gestiegen: Heute wird sie auf über 200 Millionen Menschen geschätzt, mit zunehmender Tendenz.
Zu erwarten ist zudem, dass die Wanderungsformen vielfältiger werden. Es wird immer weniger definitive Aus- und Einwanderungen geben. Stattdessen werden temporäre und zirkuläre Wanderung zunehmen, der Anteil von Migrantinnen wird weiter wachsen, und neben mehr klimabedingter und grenzüberschreitender Migration wird auch die Zahl der Menschen steigen, die innerhalb ihres Heimatlands wandern. Dieser Migrationsboom wird mit einer rapiden Verstädterung einhergehen: Während zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch weltweit etwa 220 Millionen Menschen in Städten lebten, dürften es im Jahr 2050 über fünf Milliarden sein. Das Tempo der Urbanisierung ist vor allem in den Entwicklungsländern rasant: Fast der gesamte zu erwartende Bevölkerungszuwachs der kommenden Jahrzehnte wird sich auf Ballungsräume in diesen Regionen konzentrieren.

Demografisch ungleich

Der demografische Wandel wird die Bevölkerungsstruktur vieler Staaten verändern, und es zeichnet sich eine demografische Dreiteilung der Welt ab. So werden die meisten Industrieländer – vor allem Deutschland, Italien, Japan, Russland, Südkorea und Spanien – einen starken Bevölkerungsrückgang verzeichnen. Europa wird als einzige große Weltregion in den nächsten Jahrzehnten demografisch schrumpfen, den mittleren UN-Prognosen zufolge bis 2050 von 731 Millionen auf 664 Millionen Menschen. Damit würde der europäische Anteil an der Weltbevölkerung von etwa elf auf sieben Prozent sinken. Hinzu kommt, dass der alte Kontinent auch in den kommenden Jahren seinem Namen alle Ehre machen wird. Schon jetzt liegen 23 der 25 Länder mit dem weltweit höchsten Durchschnittsalter in Europa. Aber selbst innerhalb Europas werden Alterung und Bevölkerungsrückgang unterschiedlich ausfallen: Besonders betroffen sind die ost-, mittel- und südeuropäischen Länder. Hier wird der demografische Wandel noch gravierendere Wirkungen als in den west- und nordeuropäischen Staaten haben, da letztere immer noch etwas höhere Geburtenraten aufweisen.

Ein ganz anderes Bild bieten die am wenigsten entwickelten Länder: Hier beträgt der Anteil der unter 15-Jährigen an der Gesamtbevölkerung mehr als 45 Prozent, und das Durchschnittsalter liegt bei etwa 16 Jahren. Auch künftig wird es vor allem im subsaharischen Afrika eine große Anzahl von schnell wachsenden und sehr jungen Bevölkerungen geben. So wird sich bis zum Jahr 2050 die Bevölkerungszahl von Burundi, der Demokratischen Republik Kongo, Guinea-Bissau, Liberia, Niger und Uganda verdreifachen.

Eine dritte Gruppe bilden einige Entwicklungs- und Schwellenländer in Lateinamerika, Südasien und im Nahen Osten. Sie befinden sich im Übergang von hohen Geburten- und Sterberaten zu demografischen Mustern, die mit denen der industrialisierten Welt vergleichbar sind. Bis zum Jahr 2050 verfügen diese Länder aufgrund ihrer jungen Altersstruktur allerdings noch über ein beträchtliches demografisches Wachstumspotenzial und können volkswirtschaftlich von einem hohen Bevölkerungsanteil im erwerbsfähigen Alter profitieren („demografische Dividende“). Diese wachsende demografische Ungleichheit der Welt kann sich unter anderem auf die Verteilung von wirtschaftlicher Macht und politischem Einfluss, auf die Konfliktanfälligkeit von Gesellschaften und auf das globale Wanderungsgeschehen auswirken.

Wandel und Wachstum

Für die Industriestaaten könnten Alterung und Schrumpfung mit einem Verlust an wirtschaftlichem Wachstumspotenzial und gesellschaftlicher Dynamik einhergehen. Zudem könnten innenpolitische Themen zu Lasten außen-, verteidigungs- und entwicklungspolitischer Themen wichtiger werden. Möglicherweise werden die rapide alternden Wählerschaften entsprechende Verteilungskonflikte zu ihren Gunsten entscheiden und dafür sorgen, dass größere Anteile der öffentlichen Haushalte für die Daseinsvorsorge und Alterssicherung aufgewendet werden. Die betroffenen Regierungen wären versucht, ihr internationales politisches Engagement zu reduzieren und sich aus kostspieligen internationalen Verpflichtungen zurückzuziehen, was dann wahrscheinlich Machtverschiebungen in der internationalen Politik zur Folge haben kann.4

Erhebliche Auswirkungen wird der demografische Wandel in der Asien- und Pazifik-Region haben, und auch hier könnten sich die Machtverhältnisse verändern: Die ungünstige Bevölkerungsentwicklung in Russland und Japan wird wahrscheinlich die dortige Wirtschaftskraft schmälern, und in China dürfte das bisherige Wachstumsmodell in Frage gestellt werden, während Indien und die USA hingegen weiterhin gute demografische Entwicklungschancen haben.

In den westlichen Industriestaaten wird zudem das Wachstum der muslimischen Bevölkerung mit Sorge betrachtet. Dabei werden oft Prognosen angeführt, nach denen die Zahl der Muslime binnen der kommenden beiden Jahrzehnte um ein Drittel zunehmen und doppelt so schnell wachsen wird wie die restliche Weltbevölkerung. Bei näherer Betrachtung zeigt sich allerdings, dass ihr Anteil an der Weltbevölkerung bis 2030 lediglich von 23,4 auf 26,4 Prozent steigen wird, in Europa von sechs auf acht Prozent und in Deutschland wahrscheinlich von 5,0 auf 7,1 Prozent. Für politischen Alarmismus besteht also kein Anlass, zumal die statistische Unterscheidung zwischen Muslimen und Nichtmuslimen methodisch oft fragwürdig ist (und oft auf der Mehrheitsreligion der Herkunftsstaaten beruht).5

Generell mangelt es vielen Warnungen vor demografischen Risiken an überzeugenden theoretischen Begründungen und hinreichender empirischer Grundlage. So fehlen Analysen zu den außen- und sicherheitspolitischen Präferenzen alternder Gesellschaften: Verändern sich das Bedrohungsempfinden und die Weltsicht mit zunehmendem Alter, oder sind eher „Kohorteneffekte“ ausschlaggebend, also die Frage, ob die Bevölkerungsgruppen in friedvollen oder gewaltsamen Lebenswelten sozialisiert worden sind? Ist in den alternden Industriestaaten künftig eine stärker seniorenorientierte Politik zu erwarten, oder werden „demografieresistente“ politische Entscheidungen überwiegen? Zu welchen Antworten man hier gelangt, ist, salopp gesprochen, oft Glaubenssache.

Unstrittig ist hingegen, dass die demografische Entwicklung Folgen für die Streitkräfte der Industriestaaten haben wird: Die Armeen der alternden Staaten werden größere Schwierigkeiten haben, ihren Personalbedarf zu decken. Zudem geraten die Verteidigungshaushalte durch den demografischen Wandel weiter unter Druck: Je mehr ältere Menschen es gibt, desto mehr an Renten- und Sozialleistungen muss der Staat aufbringen – und das bei sinkenden Steuereinnahmen. Und wenn die Jahrgänge kleiner werden, aus denen die Armee ihren Nachwuchs rekrutieren kann, dann wird das zusammen mit weiteren Kürzungen der Verteidigungshaushalte die Sicherheitskapazitäten der Industrieländer beeinflussen – und kann langfristig ihren außenpolitischen Handlungsspielraum einschränken.

Offensichtlich sind auch die Zusammenhänge zwischen der Altersstruktur von Gesellschaften und ihrer Konfliktanfälligkeit. Alte und „schrumpfende“ Bevölkerungen sind generell weniger konfliktanfällig als junge und schnell wachsende. Zahlreiche Studien weisen einen Zusammenhang zwischen dem Anteil Jugendlicher und der Häufigkeit innerstaatlicher Unruhen und Bürgerkriege nach. „Youth bulges“, also ein überproportional großer Bevölkerungsanteil von Jugendlichen, können – wie derzeit in Nordafrika und im Nahen und Mittleren Osten – eine Triebkraft für politischen Wandel sein. Sind die Regierungen nicht in der Lage, einer so großen Anzahl von Jugendlichen Lebensperspektiven zu eröffnen, ihre Integration in Arbeitsmarkt und Gesellschaft sicherzustellen, ihnen Möglichkeiten zur politischen Beteiligung zu bieten und so die Vorteile der demografischen Dividende einzufahren, kann sich die Unzufriedenheit mit den Verhältnissen allerdings auch in Gewalttätigkeiten entladen.

Neben der Alterszusammensetzung kann das zahlenmäßige Verhältnis zwischen Männern und Frauen neue innergesellschaftliche Konflikte bergen. So wird die starke Selektion männlicher Nachkommen in China und Indien zu einem deutlichen Männerüberhang führen: In China wird dieser Überschuss bereits im Jahr 2020 etwa 29 bis 33 Millionen in der Altersgruppe der 15- bis 34-Jährigen betragen, in Indien 28 bis 32 Millionen. Welche gesellschaftlichen und politischen Auswirkungen dies haben kann, wird bislang noch nicht einmal ansatzweise diskutiert.

Wanderung steuern

Ambivalent sind auch die Folgen der zunehmenden Wanderungen. Unstrittig ist, dass Migration eine anthropologische Konstante und eine der wichtigsten Triebkräfte menschlicher Entwicklung ist und dass geregelte und legale Migration den Herkunftsländern, den Aufnahmeländern und den Migranten selbst größte Entwicklungschancen bieten kann. Nehmen wir nur einmal den Beitrag, den Rücküberweisungen von Migranten zur Verbesserung der Lebensbedingungen ihrer Familien in den Herkunftsländern leisten: Nach Einschätzung der Weltbank betrugen die offiziell registrierten Rücküberweisungen in Entwicklungsländer im Jahr 2010 etwa 325 Milliarden Dollar. Die nicht erfassten Rücküberweisungen dürften davon noch einmal ein Drittel ausmachen. Insgesamt handelt es sich um einen Betrag, der das Vielfache der öffentlichen Entwicklungshilfe ausmacht. Zudem haben sich die Rücküberweisungen im Gegensatz zu den ausländischen Direktinvestitionen in der jüngsten Finanz- und Wirtschaftskrise als außerordentlich stabil erwiesen. Nach Angaben der Weltbank wurden nur leichte Einbrüche verzeichnet.

Allerdings kann Migration auch Risiken bergen, nicht nur für die Migranten, sondern auch für die Herkunftsländer. Eine kohärente und gesellschaftlich vorteilhafte Steuerung von Wanderungsbewegungen erfordert erhebliche staatliche Handlungsfähigkeit. Dies fällt schon den meisten Industriestaaten schwer; in vielen wirtschaftlich weniger entwickelten Ländern bestehen solche Kapazitäten gar nicht. So leiden viele dieser Länder unter einem dauerhaften Braindrain, also einer Auswanderung von dringend im Land benötigten Fachkräften, etwa im medizinischen Bereich. Schwache Staaten sind zudem oft nicht in der Lage, die Entstehung von Fluchtbewegungen zu verhindern. Flucht kann zwar für die Betroffenen ein Ausweg aus einer hoffnungslosen Lage sein und einen lokalen Konflikt entspannen, sie kann aber in den Aufnahmegebieten auch Gewaltkonflikte, im Fall von grenzüberschreitenden Wanderungen gar zwischenstaatliche Konflikte auslösen.

Auch in vielen Industriestaaten wird ungeregelte bzw. irreguläre Zuwanderung als Bedrohung der nationalen Identität, des gesellschaftlichen Zusammenhalts, der inneren Sicherheit und des wirtschaftlichen Wohlstands wahrgenommen. Daraus können innenpolitische Konflikte sowie Auseinandersetzungen mit den Herkunfts- und Transitländern erwachsen. Zuwanderung kann darüber hinaus die innere Sicherheit von Aufnahmestaaten beeinträchtigen, wenn Zuwanderer nicht hinreichend integriert und Fremdenfeindlichkeit und politischer Extremismus nicht konsequent bekämpft werden.

Politische Handlungsmöglichkeiten

Insgesamt steht für viele arme Länder mit hoher Fertilität zu befürchten, dass sie künftig noch weniger in der Lage sein werden, ihre schnell wachsende Bevölkerung ausreichend mit Nahrungsmitteln zu versorgen, Anreize und Angebote für Bildung und nachhaltiges Wirtschaften zu schaffen und den Jugendlichen und jungen Erwachsenen eine Lebensperspektive zu bieten. In einem solch fragilen Kontext kann die demografische Entwicklung bestehende Mangelsituationen verschärfen und damit indirekt den Ausbruch von Gewaltkonflikten fördern. Es läge im Interesse dieser Staaten wie auch der wirtschaftlich besser entwickelten Länder, auf eine ausgeglichene Bevölkerungsentwicklung hinzuarbeiten. Ein zu starkes Wachstum unter schlechten wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen kann Entwicklungschancen zerstören.

Für die Entwicklungs- und Schwellenländer im Übergang von hohen zu niedrigeren Geburten- und Sterberaten ergeben sich andere Herausforderungen, zum Teil aber auch Chancen: Einerseits haben sie aufgrund ihrer vergleichsweise jungen Altersstruktur und des großen Reservoirs an erwerbsfähigen Menschen die Möglichkeit, durch Investitionen in Bildung und Beschäftigung ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum zu erzielen. Das zeigt sich deutlich im chinesisch- indischen Vergleich: In China brachen die Geburtenraten aufgrund der Ein-Kind-Politik bereits Mitte der siebziger Jahre stark ein, in Indien sank die Fruchtbarkeit sehr viel langsamer. Das Ergebnis ist, dass China bereits das günstigste Verhältnis der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter zu der im nichterwerbsfähigen Alter überschritten hat. Indien hat dagegen noch 25 Jahre Zeit, bis es diesen Schwellenwert erreicht.6

Entsprechend groß kann die demografische Dividende dort ausfallen. Was diese bewirken kann, ließ sich an den ostasiatischen „Tigerstaaten“ Südkorea, Taiwan, Hongkong und Singapur beobachten. Diese haben sich in den achtziger Jahren vor allem aufgrund der günstigen demografischen Voraussetzungen und der verbesserten Ausbildungsbedingungen sehr schnell zu Industriestaaten entwickelt. Etwa ein Drittel des ostasiatischen Wirtschaftswunders wird auf die günstige Altersstruktur der Bevölkerung zurückgeführt. Gleichwohl verlangt eine Inwertsetzung der demografischen Dividende erhebliche politische Bemühungen, vor allem um bessere Beschäftigungsmöglichkeiten.

Auf die Industriestaaten wird sich der globale demografische Wandel in dreifacher Hinsicht auswirken. Erstens sind sie mit den Auswirkungen der demografischen Entwicklungen in den „jüngeren“ Staaten und deren Folgen konfrontiert. Die wahrscheinlich steigende Nachfrage nach Sicherheitsleistungen – etwa in Form von Krisenprävention, humanitärer Intervention oder friedensschaffenden und -bewahrenden militärischen Einsätzen – könnte auf eine sinkende Bereitschaft zum Engagement treffen. Zweitens werden das starke Bevölkerungswachstum und die globale demografische Ungleichheit wanderungsfördernd wirken. In vielen Herkunftsregionen wird der Abwanderungsdruck wachsen, und zumindest ein Teil der Migranten und Flüchtlinge wird sich auf den Weg machen – auch auf illegale Weise, wenn die Zielländer keine legalen Zuwanderungswege anbieten.

Drittens müssen die Industriestaaten ihre Alterung und Schrumpfung bewältigen. Das ist schwierig, weil dies eine langfristige, eventuell auf mehrere Jahrzehnte ausgerichtete strategische Politik verlangen würde. Dazu fehlt aber bislang in der Regel die Bereitschaft, oft gibt es noch nicht einmal angemessene Zuständigkeiten in Politik und Verwaltung – auch in Deutschland nicht. Demografie wird häufig nicht als politische Handlungsaufgabe wahrgenommen, und schon gar nicht als Querschnittsaufgabe, die sich in einem entsprechenden Ressortzuschnitt niederschlagen muss.

Generell müssten die Industriestaaten die demografischen Risiken für die Arbeitsmärkte reduzieren, indem die inländischen Arbeitskräftepotenziale viel stärker als bisher mobilisiert werden, und viele Länder müssten sich auf ganz andere Größenordnungen an Zuwanderung vorbereiten, als das bisher geschieht. Dazu müssten neue migrationspolitische Strategien und Instrumente entwickelt werden, die auf Nachhaltigkeit und Kohärenz ausgerichtet sind. Die „alten“ Industriestaaten werden zunehmend untereinander um Einwanderer konkurrieren, und sie werden eine auf einer partnerschaftlichen Zusammenarbeit mit den Herkunftsländern beruhende Migrationspolitik verfolgen müssen, die entwicklungspolitische Aspekte ebenso beachtet wie arbeitsmarktbezogene und sicherheitsbezogene. Und letztlich müssen die Aufnahmestaaten die schwierige Frage beantworten, wie sie mit der weiter wachsenden ethnischen und kulturellen Heterogenität ihrer Gesellschaften umgehen wollen.

Generell sollten wir demografiebezogenen Risiken in der internationalen Politik größere Aufmerksamkeit schenken. Nicht alle, aber doch einige dieser Risiken können wir beeinflussen – durch das Eintreten für eine nachhaltige Bevölkerungsentwicklung in Ländern mit immer noch sehr hohen Geburtenraten oder durch Investitionen in Bildung und Beschäftigung in Ländern an der Schwelle zu einer „demografischen Dividende“. Eine unzureichende Beachtung des demografischen Faktors kann Entwicklungen fördern, die wir später kaum und allenfalls mit größtem politischen Aufwand bewältigen können.

Dr. STEFFEN ANGENENDT ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der SWP und berät derzeit das BMZ zu Fragen der Demografie und Migration.

Dr. WENKE APT ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik der SWP.

  • 1United Nations Economic and Social Council: World Demographic Trends, 21.1.2011, S. 8 ff.
  • 2Jim Oeppen und James W. Vaupel: Broken Limits to Life Expectancy, Science, Mai 2002, S. 1029–1031.
  • 3International Organization for Migration: World Migration Report 2010, Genf 2010.
  • 4Richard Jackson und Neil Howe: The Graying of the Great Powers – Demography and Geopolitics in the 21st Century, Washington D.C. 2008.
  • 5Pew Research Center: The Future of the Global Muslim Population. Projections for 2010–2030, Washington 2011.
  • 6David E. Bloom und David Canning: Demographics and Development Policy, The WDA-HSG Letters Series on Demographic Issues, Nr. 1, 2011.
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, April 2011, S. 60-67

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