Gescheiterter Tabubruch
Paul Collier möchte die Diskussion um Migration neu erfinden
Wie schon mit „The Bottom Billion“ und „The Plundered Planet“ dürfte Paul Collier auch mit seinem neuen Buch „Exodus“ große Diskussionen auslösen. Der Autor verspricht einen ganz neuen Blick darauf, wie Migration unsere Welt und vor allem die Herkunftsländer verändert. Doch unterm Strich kann er die geweckten Erwartungen nicht erfüllen.
Unzulänglich, auf falschen Analysen von Migrationstrends beruhend und zudem auch noch stark ideologisiert: Der bisherigen Migrationspolitik kann Paul Collier nicht viel abgewinnen. Wenn man sich ernsthaft mit Migration auseinandersetzen wolle, so der renommierte Entwicklungsökonom aus Oxford und frühere Forschungsdirektor der Weltbank, müsse man die verkrusteten Sichtweisen auf Wanderung aufbrechen.
Das Problem besteht nach Colliers Ansicht darin, dass die Migrationspolitik stark von Werthaltungen geprägt ist und zwei Lager die Debatte dominieren und polarisieren: zum einen liberale Kreise, die aus utilitaristischen und universalistischen, manchmal auch antirassistischen Motiven für eine migrationspolitische Öffnung plädieren, zum anderen diejenigen, die aus nationalistischen oder rassistischen Motiven Zuwanderung begrenzen wollen. Diese Polarisierung macht, so Collier, eine offene und rationale Debatte über die Risiken und Chancen von Migration unmöglich. Faktisch handele es sich um ein Tabu, das man nur brechen könne, wenn man das Thema aus drei Perspektiven betrachte, nämlich aus der Perspektive der Herkunftsländer, der Aufnahmeländer sowie der Migranten selbst.
Tabu? Welches Tabu?
Um die Bewertung vorwegzunehmen: Das Buch hat wissenschaftlichen Anspruch, ist aber trotzdem sehr gut lesbar, es bietet eine Fülle von Anregungen und es ist aus ehrlicher Sorge um die Entwicklung der ärmsten Weltgebiete geschrieben. Gleichwohl weist es erhebliche Schwächen auf, beginnend bei der Begründung für das Buch: Wo ist das Tabu, das aufgebrochen werden soll? Heute wird in jedem Industriestaat über demografischen Wandel und Migration diskutiert – selbst in Japan hat eine Debatte darüber begonnen. Natürlich mag es sein, dass die Auseinandersetzung noch nicht intensiv genug oder zu wenig pragmatisch geführt wird. Aber von einer Tabuisierung kann nun wirklich keine Rede sein.
An vielen Stellen des Buches wird deutlich, dass Collier – wie er selbst betont – kein Migrationsexperte ist. Er nimmt Forschungsergebnisse nur so weit wahr, wie sie seiner Argumentation dienen, bleibt Begründungen für seine Annahmen und Modelle schuldig und kommt zu merkwürdigen politischen Empfehlungen.
Dieser grundsätzlichen Kritik zum Trotz lohnt es sich, Colliers Argumentation genauer zu betrachten. Er wählt einen sozialpsychologischen Ausgangspunkt und stellt fest, dass die Wahrnehmung von Migration in den Industrieländern stärker von Wertvorstellungen und von moralischen Bewertungen geprägt ist als von Sachinformationen. Eben deshalb werde keine strategische Migrationspolitik verfolgt, sondern nur eine kurzfristige und oft orientierungslose Politik.
Für Collier sind die Werthaltungen, mit denen wir Migration beurteilen, eng mit unseren Vorstellungen über Armut, Nationalismus und Rassismus verbunden. Daher ist für ihn die Auseinandersetzung mit dem Nationalismus wichtig. Nationalismus müsse aber, das versucht er über weite Strecken des Buches deutlich zu machen, keine destruktive Kraft sein. Vielmehr sei nationale Identität (die er davon nicht klar trennt) eine wichtige Grundlage für Wohlstand und Sicherheit in modernen Gesellschaften.
Jedes Gemeinwesen brauche, wenn es funktionieren soll, ein gewisses Zusammengehörigkeitsgefühl. Ohne ein solches Bewusstsein sei kein solidarisches Handeln möglich, es gebe keine sozialstaatliche Umverteilung in der betreffenden Gesellschaft und keine auf Solidarität beruhende Entwicklungspolitik für ärmere Weltregionen.
Collier sieht durchaus die Gefahr, dass nationale Identitäten missbraucht werden können. Und so beschreibt er auch die Risiken, die von einer rassistisch unterfütterten Anti-Einwanderungspolitik ausgehen können. Aber wichtig ist für ihn, dass sich der Nationalstaat grundsätzlich über Abgrenzung nach außen definiere und dass er das Recht habe, Regeln aufzustellen, wer in das Land darf und wer nicht.
In einem zweiten Schritt beschreibt Collier das globale Wanderungsgeschehen und stellt fest, dass in den vergangenen Jahrzehnten die Einkommensunterschiede zwischen Industrie- und Entwicklungsländern geringer geworden sind. Sie seien allerdings nach wie vor so groß, dass sie starke Anreize für Migration böten, und das sei auch für die Zukunft zu erwarten. Hinzu komme, dass die Zahl der Zuwanderer aus früheren Wanderungsphasen in vielen Industriestaaten so stark gestiegen sei, dass diese Diasporas eine eigene Sogwirkung auf neue Migranten ausübten. Das sei ein entscheidender Faktor für künftige Wanderungen.
Collier bezeichnet diesen Zusammenhang als „Acceleration principle“, als eine sich selbst beschleunigende Entwicklung: Je größer eine Diaspora, umso stärker auch der weitere Nachzug aus dem betreffenden Land. Werde das nicht gebremst, drohe ein Exodus aus dem Herkunftsland, bis letztlich kaum noch jemand übrig sei. Und je größer eine Diaspora sei, umso schwerer falle den Migranten das Verlassen der ethnischen Gemeinschaft und die Integration in das Aufnahmeland.
Im dritten Schritt bewertet Collier die Folgen der Migration. Grundsätzlich nutze Zuwanderung den Aufnahmeländern ökonomisch, aber dieser Nutzen sei nicht unbegrenzt. Es gebe vielmehr – und das ist der Kernpunkt seiner Argumentation – in den Aufnahmeländern eine Grenze, ab der die Zuwanderung bzw. die Größe der Diaspora schädlich werde.
Darunter leiden würden vor allem gering qualifizierte Einheimische und frühere Zuwanderer, weil diese dann mit den neuen Zuwanderern um knappe öffentliche Ressourcen konkurrieren müssten. Gerade aus Sorge um die ärmsten Einheimischen müsse der Aufnahmestaat die Zuwanderung begrenzen und sie so gestalten, dass sie unter dieser Grenze bleibt.
Mit Blick auf die Herkunftsländer argumentiert Collier ähnlich: Zunächst nutze eine Auswanderung den Herkunftsländern, weil sie ungenügend funktionierende Arbeitsmärkte entlaste sowie Geldtransfers und Anreize dafür biete, mehr in Bildung zu investieren. Auswanderung sei daher nicht zwangsläufig gleichbedeutend mit Braindrain. Aber wie in den Aufnahmeländern gebe es auch in den Herkunftsländern eine Grenze, ab der die Migration sich negativ auf die Entwicklungschancen auswirke. Ab einem (nicht näher bezifferten oder begründeten) „Happy medium“ werde der Braindrain gefährlich, und die ökonomischen und sozialen Folgen der Auswanderung würden schädlich.
Aus diesen Überlegungen heraus folgert Collier, dass die Aufnahmestaaten das Recht und die Pflicht hätten, Zuwanderung zu begrenzen und auszuwählen – aufgrund ihrer Fürsorgepflicht gegenüber ihren ärmeren Bürgern, aber auch aus Verantwortung für die Herkunftsländer. Für die Umsetzung empfiehlt er eine „Fit-for-purpose-Politik“ mit vier Elementen: Zur Feststellung der „richtigen“ Zahl von Einwanderern soll die „Absorptionsrate“ der Diaspora betrachtet werden; eine Auswahl der Zuwanderer nach den Kriterien Haushaltsstatus, Bildung, Beschäftigungsfähigkeit, kulturelle Herkunft und Schutzbedürftigkeit; eine Integrationspolitik, die versucht, die „Absorption“ von Zuwanderern in die Gesellschaft zu beschleunigen, und schließlich eine Legalisierungspolitik für Irreguläre.
Wenn ein irregulärer Einwanderer es trotz der verschärften Grenzkontrollen ins Land geschafft hat, soll ihm ein vorübergehender Status als Gastarbeiter gewährt werden: Er (oder sie) soll arbeiten und Steuern zahlen, aber keine sozialen Rechte etwa im Hinblick auf Sozialleistungen erhalten.
Behaupten statt belegen
Hier werden drei zentrale Schwachpunkte von Colliers Analyse deutlich. Erstens liefert er keinen theoretischen oder empirischen Beleg für seine These der sich selbst beschleunigenden Migration durch wachsende Diasporas. Es ist zwar für jeden einleuchtend, dass Netzwerke Migration fördern, doch unter welchen Bedingungen das stattfindet und welche Faktoren beschleunigend oder verlangsamend wirken, ist unbekannt. Hingegen gibt es genügend Beispiele, dass sich die Einwanderung auch trotz großer Diasporas nicht beschleunigt.
Zweitens geht der Autor von einer Obergrenze für Migration aus, ab der sie für alle Beteiligten gefährlich werde. Auch das leuchtet heuristisch ein, aber hier fehlt ebenfalls jeder Beleg, dass es solche Obergrenzen tatsächlich gibt. Zumal das Argument gar nicht neu ist: In fast allen Industrieländern wurden und werden solche angeblichen Grenzen immer wieder von extremistischen Parteien aufgestellt und mit sehr unterschiedlichen Begriffen bezeichnet: „Aufnahmekapazität“, „Belastungsgrenze“, „Seuil de tolerance“. Gemeinsam ist all diesen Versuchen, dass es noch nie einen empirischen Beleg für die Existenz solcher Grenzen gegeben hat. Grundsätzlich steht hinter diesem Argument eine für einen Ökonomen ungewöhnlich starre Vorstellung über die Anpassungs- und Veränderungskapazitäten von Gesellschaften.
Und drittens sind die politischen Empfehlungen eine Mischung aus Politikansätzen, die es längst gibt: ein bisschen Punktesystem, ein bisschen Legalisierungspolitik, ein bisschen Integration. Aber kein Element wird richtig hinterfragt und begründet, Erfahrungen mit solchen Instrumenten werden nicht systematisch ausgewertet.
Stattdessen kommt Collier zu menschenrechtlich fragwürdigen Vorschlägen, etwa, Migranten arbeiten und Steuern zahlen zu lassen, ihnen aber soziale Rechte vorzuenthalten. Solche Regelungen würden zumindest in der Europäischen Union wohl umgehend von nationalen Gerichten kassiert, weil sie weder mit den nationalen Rechtsordnungen noch mit dem Europarecht zu vereinbaren wären.
Fazit: Das Buch bietet eine Fülle anregender Analysen und Überlegungen. Aus fachwissenschaftlicher Perspektive enthält es aber nichts Neues. Weder die Analysen des Wanderungsgeschehens noch der Politik beruhen auf neuen Erkenntnissen, und auch die politischen Folgerungen sind nicht überraschend, sondern werden seit langem in Fachkreisen diskutiert, und zwar durchaus kontrovers.
Problematisch sind vor allem der angekündigte Tabubruch und die Begründung, warum auch liberal denkende Menschen das Recht und die Pflicht hätten, für eine schärfere Begrenzung von Migration einzutreten.
Wenn das Buch so verstanden würde, wäre es nicht nur im Hinblick auf die Entwicklung von Strategien zur Bewältigung des demografischen Wandels in den Industrieländern schädlich, sondern würde auch den Entwicklungsländern einen Bärendienst erweisen: Beim jüngsten High Level Dialogue on Migration and Development der Vereinten Nationen im Oktober 2013 in New York haben diese Länder deutlich gemacht, dass sie inzwischen Migration als ein wichtiges Mittel zur Armutsreduzierung betrachten und dass sie eine Ausweitung, nicht eine Begrenzung von geregelter Migration wünschen.
Dr. Steffen Angenendt
arbeitet in der
Forschungsgruppe
Globale Fragen der
Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin.
Internationale Politik 2, März/April 2014, S. 138-141