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01. Juli 2015

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Europa kann die Flüchtlingskatastrophe nur gemeinsam bewältigen

Die Zahl derer, die ihr Leben riskieren, um nach Europa zu gelangen, steigt weiter – vor allem, weil es zu wenig legale Zuwanderungswege gibt. Lösungen müssen an der Unterscheidung von Flüchtlingen und Migranten ansetzen. Ziele sind eine faire Verantwortungsteilung beim Flüchtlingsschutz sowie eine schnellere Integration dieser Menschen.

Die Asylstatistiken der EU zeigen ein deutliches Bild: In den vergangenen Jahren ist die Zahl der Asylanträge (Erst- und Folgeanträge) stetig gestiegen, von 226 000 Anträgen im Jahr 2008 auf 626 000 im Jahr 2014. Auch die jüngsten Statistiken deuten auf eine weitere starke Zunahme. Deutschland ist besonders betroffen: Hier ist die Zahl der Asylbewerber von 28 000 im Jahr 2008 auf 202 000 im Jahr 2014 gestiegen, 2015 könnte die bisherige Höchstzahl von 1992 (438 000 Anträge) überschritten werden.

Die EU hat in dreifacher Hinsicht Schwierigkeiten, diese Entwicklung zu bewältigen: Erstens fehlen Konzepte zum Umgang mit der Vermischung von Flucht und Migration, zweitens funktioniert das bisherige Verfahren zur Bestimmung des für ein Asylverfahren zuständigen Staates nicht mehr, und drittens unternimmt die EU zu wenig, um Länder wie den Libanon, Jordanien und die Türkei zu unterstützen, die den Großteil der aktuellen Flüchtlingskrisen tragen. Ohne massive internationale Hilfe bei der Versorgung und Integration der Flüchtlinge werden dort Spannungen entstehen und mehr Menschen werden versuchen, von dort in die Europäische Union zu gelangen.

Gemischte Wanderungen

Das größte Problem des internationalen Flüchtlingsschutzes ist die Vermischung von Flucht und Migration. Das zeigt sich auch in der EU. Bei den irregulären Einreiseversuchen kommen nicht nur Flüchtlinge ums Leben, sondern auch Migranten, die zuwandern wollen, weil sie für sich und ihre Familien eine bessere wirtschaftliche Zukunft erhoffen und sich aus Mangel an legalen Zuwanderungsmöglichkeiten auf die oft lebensgefährlichen illegalen Wege begeben. Flüchtlingsorganisationen schätzen, dass bei diesen Einreiseversuchen in die EU seit dem Jahr 2000 mindestens 23 000 Menschen gestorben sind.

Die Vermischung von Flucht und Migration („mixed flows“) ist für die Aufnahmeländer schwierig zu bewältigen, denn für Flüchtlinge und Migranten bestehen unterschiedliche Verantwortlichkeiten. Während die EU-Staaten durch internationales, europäisches und nationales Recht zum Schutz von Flüchtlingen verpflichtet sind, ist die Aufnahme von Migranten immer noch weitgehend eine nationale Entscheidung. Wegen der Schutzverpflichtung ist es unerlässlich, zwischen Flüchtlingen und Migranten zu unterscheiden. Das muss in rechtsstaatlichen Verfahren geschehen, die international anerkannten Standards entsprechen; Asylsuchende müssen Zugang zu diesen Verfahren finden können, ohne ihr Leben bei einer illegalen Einreise zu gefährden. Diese Möglichkeit ist aber zurzeit in der EU nicht gegeben; es gibt kaum legale Möglichkeiten, zur Schutzsuche in die Europäische Union einzureisen.

Darüber hinaus sind die Unterbringung, Versorgung und Integration der Flüchtlinge zu sichern. Auch hier bestehen in vielen EU-Mitgliedstaaten große Defizite. Zu einem wirksamen Flüchtlingsschutz gehört schließlich auch, dass diejenigen, die nicht schutzbedürftig sind, das Aufnahmeland wieder verlassen müssen, sofern ihnen dann nicht Gefahren drohen oder das Aufnahmeland aus anderen Gründen (Arbeitsmarktbedarf, Familienzusammenführung) kein Interesse an einem Verbleib hat. Auch hier haben die EU-Mitgliedstaaten erhebliche Umsetzungsprobleme. So gibt es zu wenige gute Programme zur Unterstützung von freiwilliger Rückkehr.

Auch für die Entwicklungspo­litik ist die Unterscheidung zwischen Flucht und Migration wichtig, weil sich beide Wanderungsformen unterschiedlich auf Entwicklung auswirken: Während Zwangswanderungen wie Flucht und Vertreibung negative Wirkungen auf die Entwicklung der Herkunftsgebiete (oft auch der Aufnahmegebiete) haben, können freiwillige und geregelte Wanderungen Entwicklung fördern. Fluchtbewegungen sind eine menschliche Katastrophe und können insbesondere für arme Aufnahmestaaten zu einer großen Belastung werden. Deshalb müssen sie verhindert werden. Freiwillige Migration hingegen, die auf fairen Abkommen zwischen Herkunfts- und Aufnahmeländern beruht und bei der die Rechte der Migranten geachtet werden, liegt im Interesse aller Beteiligten (der Herkunfts- und Aufnahmeländer sowie der Migrantinnen und Migranten). Sie sollte man nicht begrenzen, sondern fördern.

Kontrolle der EU-Außengrenzen

Die europäischen Länder können vor den humanitären Katastrophen an den EU-Außengrenzen nicht die Augen verschließen. Ein Ansatz bestünde darin, die nordafrikanischen Staaten zu einer Unterbindung der gefährlichen Überfahrten zu bewegen. Dies würde aber voraussetzen, dass diese Staaten zumindest einen Teil der steigenden Zuwanderung aus Subsahara-Afrika und aus anderen Weltregionen bewältigen und den Verfolgten Schutz gewähren können. Das ist aber nicht der Fall.

Zudem sind die Chancen für die Zusammenarbeit mit den nordafrikanischen Staaten höchst unterschiedlich. Möglich ist sie zum Beispiel mit Tunesien und Marokko. Hier besteht mit den EU-Mobilitätspartnerschaften auch ein Rahmen, der genutzt werden kann. Schwierig bis unmöglich ist die Kooperation mit Libyen, wo derzeit die meisten Flüchtlingsboote ablegen. Aufgrund des Zusammenbruchs der staatlichen Strukturen findet die EU dort keine handlungsfähigen Akteure, und es fehlen alle Voraussetzungen, um Flüchtlinge und Migranten zu schützen. Hier ist keine schnelle Lösung in Sicht, und das Dilemma der EU wird deutlich: Operationen wie die italienische Rettungsaktion „Mare Nostrum“, bei der Schiffsbrüchige bereits nahe der libyschen Küste aufgegriffen wurden, entfalten zwangsläufig eine Sogwirkung und bieten den Schleppern Anreize. Gleichwohl gibt es keine ethisch vertretbare Alternative zu solchen Aktionen. So wurde auch das zunächst geografisch eng begrenzte Mandat der europäischen Nachfolgeoperationen von „Mare Nostrum“ schrittweise ausgeweitet und umfasst nun wieder Rettungsoperationen vor der libyschen Küste.

Die Außengrenzkontrolle der EU muss daher in eine Trias eingebunden sein: Erstens müssen die EU-Staaten mehr legale Zuwanderungsmöglichkeiten für Flüchtlinge und für Migranten anbieten. Für Flüchtlinge könnte man zumindest punktuell und temporär ein Botschaftsasyl einrichten, also die Möglichkeit, einen Asylantrag in EU-Auslandsvertretungen zu stellen. Besonders gefährdete Flüchtlingsgruppen könnten humanitäre Visa erhalten, es könnten gemeinsame EU-Asylentscheidungszentren eingerichtet werden, und schließlich könnten die EU-Staaten größere Flüchtlingskontingente im Rahmen von Resettlement-Programmen als dauerhafte Einwanderer aufnehmen. Dies würde Flüchtlinge betreffen, denen bereits im Ausland von UNHCR eine Verfolgung bescheinigt wurde. All diese Maßnahmen sind jedoch sorgfältig auf ihr Für und Wider zu prüfen.

Für Migranten wiederum muss man mehr legale Migrationsprogramme einrichten, und in den Herkunftsländern müssen die EU-Staaten besser über (inzwischen in einigen EU-Staaten wie Deutschland bestehende) legale Zuwanderungsmöglichkeiten informieren. Zweitens müssen die EU-Staaten enger mit den Herkunfts- und Transitstaaten kooperieren, wobei die Entwicklungszusammenarbeit durch den Aufbau von asyl- und migrationspolitischen Kapazitäten die Fähigkeit dieser Länder stärken kann, mit steigender Zuwanderung umzugehen. Drittens muss man eine dauerhafte gemeinsame europäische Rettungs­politik im Mittelmeerraum verfolgen, um weitere humanitäre Katastrophen zu verhindern.

Faire Aufnahmequoten

Das „Gemeinsame Europäische Asylsystem“, das in diesem Jahr vollendet wird, soll den Schutzsuchenden in allen EU-Staaten gleiche Asylverfahren, Aufnahme- und Lebensbedingungen bieten. Doch derzeit kann davon noch keine Rede sein. In einigen Ländern, etwa in Griechenland, gibt es keinen wirksamen Flüchtlingsschutz.

Zudem sind die Flüchtlinge in der EU höchst ungleich verteilt. Gegenwärtig nehmen fünf Mitgliedstaaten mehr als 75 Prozent aller Flüchtlinge auf. Vor allem die Staaten an den EU-Außengrenzen sehen sich durch das Dubliner Übereinkommen von 1990 benachteiligt, nach dem der Staat der Ersteinreise in die EU für das Asylverfahren zuständig ist, und kommen ihren Schutzverpflichtungen nicht nach. Deshalb müssen die EU-Staaten so schnell wie möglich über eine neue, von allen EU-Mitgliedern als gerecht und angemessen akzeptierte Verantwortungsteilung befinden.

Ein wichtiger erster Schritt wäre eine Diskussion darüber, was „fair“ bedeuten und anhand welcher Kriterien das bestimmt werden soll. Die EU-Kommission hat hierzu jüngst vorgeschlagen, zunächst als kurzfristige Hilfe für die besonders belasteten Länder Griechenland und Italien einen Teil der dortigen Flüchtlinge anhand der Kriterien Einwohnerzahl, Wirtschaftskraft, Arbeitslosenrate und der früheren Aufnahme von Flüchtlingen auf andere EU-Länder zu verteilen. Obwohl noch nicht klar ist, wie die Verteilung erfolgen soll, sind die Kommissionsvorschläge bereits auf den Widerstand verschiedener EU-Staaten (unter anderem Frankreich, Großbritannien, Irland, Spanien, Polen und Tschechien) gestoßen. Tatsächlich lassen die bisherigen Erfahrungen mit dem Dublin-System erwarten, dass die Verteilung in der Praxis erhebliche Schwierigkeiten bereiten würde.

Daher sollten andere Verfahren in Betracht gezogen werden. Flüchtlingshilfsorganisationen haben so genannte „Free choice“-Modelle vorgeschlagen, bei denen die Wahl des Asyllands weitgehend den Flüchtlingen überlassen bleiben soll. Dies würde der Tatsache Rechnung tragen, dass Flüchtlinge vor allem in Ländern Schutz suchen, in denen sich bereits Menschen aus ihrem Heimatland aufhalten und wo sie Unterstützungsstrukturen finden. Genau das würden die Flüchtlinge auch jetzt schon im Rahmen des dysfunktionalen Dublin-Systems machen, dessen Umverteilungsprinzip bei immer größerem Verwaltungsaufwand kaum noch Wirkung entfalte. Dagegen wird vor allem eingewendet, dass „Free choice“-Modelle die Ungleichverteilung nur verstärken und letztlich die Aufnahmebereitschaft sowie die Qualität des Flüchtlingsschutzes im betreffenden Land verringern würden.

Eine Alternative zur physischen Verteilung der Flüchtlinge wäre ein finanzieller Ausgleich. Ein solches Verfahren könnte entweder die Aufnahmeländer für die tatsächlich entstandenen Kosten entschädigen oder aber auch einen finanziellen Anreiz für die Flüchtlingsaufnahme setzen. Würde zudem nicht der betreffenden Regierung, sondern der aufnehmenden Gemeinde eine solche „Belohnung“ für die Flüchtlingsaufnahme gezahlt, wäre zu erwarten, dass sich zumindest in einigen Gemeinden die politisch Verantwortlichen aktiv um die Aufnahme von Flüchtlingen bemühen und bei ihren Bürgern für die Integration der Flüchtlinge werben würden. Ein solcher „Bottom-up“-Ansatz würde die bisherige Flüchtlingspolitik möglicherweise grundlegend verändern, die in allen EU-Ländern immer noch maßgeblich auf staatlichen Weisungen an die Kommunen beruht.

Funktionieren kann ein solcher finanzieller Ausgleich allerdings nur, wenn gleichzeitig auch die Standards für die Aufnahme und Versorgung der Flüchtlinge verbessert und angeglichen werden. Gerade hierfür ist die Diskussion über faire Verantwortungsteilung und nationale Aufnahmequoten hilfreich: Wenn ein EU-Land seine „faire“ ­Aufnahmequote unterschreitet, können die anderen Mitgliedstaaten nach den konkreten Gründen fragen und dann Vorschläge zur Unterstützung machen.

Gefährdete Nachbarstaaten

Die Nachbarländer der aktuellen Krisengebiete haben mit Abstand den größten Teil der Flüchtlinge aufgenommen. So beherbergt Jordanien nach Angaben des UN-Flüchtlingskommissars derzeit 630 000, die Türkei über 1,7 Millionen und der Libanon fast 1,2 Millionen syrische Flüchtlinge. Damit ist in Jordanien und im Libanon inzwischen jeder vierte Bewohner ein Flüchtling. In diesen Ländern kommt es verstärkt zu Versorgungsproblemen; zwar ist die Hilfsbereitschaft immer noch groß, aber es zeichnen sich bereits innenpolitische Konflikte ab, weil die Strukturen zur Aufnahme und Versorgung vielerorts überlastet sind.

Einige EU-Staaten bieten den Erstaufnahmeländern Unterstützung. Die bisherigen Anstrengungen reichen jedoch bei Weitem nicht aus. In zwei Bereichen sollten die EU und Deutschland ihre Hilfsbemühungen verstärken. Zum einen bei der technischen und finanziellen Unterstützung der Länder, die die Flüchtlinge aufnehmen und versorgen: Dabei muss die in allen EU-Staaten ungeklärte Frage angegangen werden, wie die Nothilfe mit strukturbildender Entwicklungshilfe verbunden werden soll. Die Flüchtlinge werden in diesen Aufnahmeländern längere Zeit, oft auch dauerhaft, leben und brauchen Beschäftigungs- und Einkommensperspektiven. Vor allem muss es für Kinder, die über die Hälfte der Flüchtlinge ausmachen und oftmals seit Jahren keine Schule besucht haben, Unterricht geben. Ebenfalls muss man die Gesundheitsversorgung sicherstellen.

Zum anderen sollten die EU-Staaten selbst mehr Flüchtlinge im Rahmen von Resettlement-Programmen und von temporären humanitären Kontingenten übernehmen. Bisher haben nur wenige Länder wie Schweden und Deutschland größere Hilfen angeboten. Die anderen Staaten sollten mit dem Hinweis, dass die Verhinderung von Destabilisierungen in EU-Nachbarregionen auch in ihrem Interesse liegt, zu größerem Engagement gedrängt werden. Einen zusätzlichen Anreiz könnte eine finanzielle Unterstützung aus dem Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds der EU für Mitgliedstaaten setzen, die solche Kontingente aufnehmen.

Nationale Handlungsmöglichkeiten

Vor allem in den skizzierten Handlungsfeldern ist die gemeinsame europäische Politik zu stärken. Darüber hinaus bestehen aber auch nationale Handlungsmöglichkeiten. Dies betrifft zum einem die Frage, ob die nationalen Asylsysteme durch rechtliche Änderungen entlastet werden können. Die Mitgliedstaaten könnten prüfen, ob Flüchtlinge aus Gebieten mit sehr hohen Anerkennungsquoten aus den Asylverfahren genommen werden können. Stattdessen könnte, wie in angelsächsischen Ländern, die Legaldefinition des „Prima facie“-Flüchtlings eingeführt werden, der den Nachweis der Verfolgung nicht erbringen muss und trotzdem einen Schutzstatus erhält, der dem von anerkannten Flüchtlingen gleichgestellt ist. Dies würde die immer noch viel zu langen Verwaltungs- und Gerichtsverfahren drastisch verkürzen und das faktische Zweiklassenrecht von Asyl und Duldung abschaffen.

In Deutschland muss zusätzlich die Ausstattung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) weiter verbessert werden. Dies ist zur Verkürzung der Asylverfahren dringend notwendig, weil die bisher beschlossenen Mittelaufstockungen den zu erwartenden Herausforderungen nicht gerecht werden.

Ein zweiter nationaler Aufgabenbereich betrifft die Integration der Flüchtlinge. Der internationale Flüchtlingsschutz beruht auf dem Grundsatz, dass Flüchtlinge in ihre Heimatländer zurückkehren sollen, sobald ihnen dort keine Gefahr mehr droht. Dieser Grundsatz prägt auch die öffentliche und politische Wahrnehmung in Deutschland und hat dazu beigetragen, dass Integration in der deutschen Flüchtlingspolitik immer nur eine Nebenrolle gespielt hat. Erst in jüngster Zeit ist ein Umdenken zu erkennen. So ist der in Deutschland kürzlich erleichterte Arbeitsmarktzugang für Flüchtlinge ein wichtiger Schritt. Ergänzend hat das BAMF ein Pilotprojekt mit der Bundesagentur für Arbeit begonnen, um die beruflichen Fähigkeiten von Flüchtlingen mit einer Bleibeperspektive zu erfragen und die Vermittlung von Sprachkenntnissen zu verbessern. Diese Ansätze muss man ausbauen, um das Bild von Flüchtlingen als reinen Versorgungsempfängern endlich ad acta zu legen.

Alle öffentlichen Akteure müssen zudem beachten, dass eine Unterbringung in isolierten Flüchtlingseinrichtungen ebenso schädlich ist wie eine Unterrichtung der Kinder außerhalb der Regelschule. Es gibt inzwischen gute Beispiele, dass auch andere Unterbringungsformen möglich sind und von der Gesellschaft akzeptiert werden, wenn dafür engagiert geworben wird. Angesichts der Komplexität und Dringlichkeit des Themas sollte die Bundesregierung einen nationalen Asylgipfel mit den relevanten öffentlichen und zivilgesellschaftlichen Akteuren einberufen, um die Vernetzung der zahlreichen Initiativen zur Integration von Flüchtlingen zu stärken.

Entwicklungspolitik einsetzen

Die Entwicklungszusammenarbeit kann einen wichtigen Beitrag zu einem wirkungsvollen europäischen Flüchtlingsschutz leisten. Sie verfügt vor allem in drei Bereichen über wertvolle Ansätze und Instrumente: bei der Konfliktprävention, der Hilfe in akuten Flüchtlingskrisen sowie der Unterstützung von Rückkehr und Reintegration.

Der Prävention von Flüchtlingskrisen dienen alle Programme, die auf eine Stärkung der rechtlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in den Partnerländern zielen. Vor allem die Förderung von Rechtssicherheit, wirtschaftlicher Entwicklung und Beschäftigung können hierzu beitragen. Mit dem Zivilen Friedensdienst fördert Deutschland den Dialog und die Aussöhnung in Ländern, die eine leid- und gewaltgeprägte Vergangenheit haben und in denen Spannungen bestehen. Die Stärkung zivil­gesellschaftlicher Strukturen kann Fähigkeiten zur gewaltfreien Konfliktbewältigung verbessern und Streit­potenziale abbauen, bevor sie virulent werden und zu Gewalt und Flucht führen. Gerade die Aufnahmeländer von Flüchtlingen benötigen diese Unterstützung.

Die Hilfe in akuten Flüchtlingskrisen ist ein humanitäres Gebot. Die praktische Umsetzung fällt aber oft schwer, insbesondere in Kriegs- und Bürgerkriegssituationen, wenn der Zugang zu den Flüchtlingen erschwert ist. Gleichwohl verfügen alle EU-Staaten über vergleichsweise große Etats, mit denen eine Grundversorgung von Flüchtlingen mit Wasser, Lebensmitteln, Unterkünften und Gesundheitsleistungen organisiert und eine Erfassung und Registrierung der Flüchtlinge unterstützt werden kann. Gerade der letzte Punkt wird in der Praxis des Flüchtlingsschutzes immer wichtiger, denn ohne Registrierung erhalten die Flüchtlinge oft keinen hinreichenden Schutz. Ein dritter wichtiger Bereich ist die Rückkehr und Reintegration von Flüchtlingen. Es ist ein wichtiges Prinzip des internationalen Flüchtlingsschutzes, dass Flüchtlinge und Vertriebene in ihre Heimatgebiete zurückkehren sollen, wenn die Gewalt im Herkunftsland beendet ist und keine Verfolgung und Gefahr mehr drohen.

In der Praxis fehlen vielen Flüchtlingen aber die finanziellen und praktischen Möglichkeiten zur Rückkehr, und die Reintegration ist vor allem in ehemaligen Bürgerkriegsgebieten außerordentlich schwierig. Oft mangelt es an Wissen über die Lage in den Heimatgebieten sowie an Ressourcen für die Rückwanderung; und vor Ort ist die Wiederansiedlung unmöglich, weil die Infrastrukturen zerstört sind. Hier kann die Entwicklungszusammenarbeit durch praktische Hilfen bei der Rückwanderung, bei der Schaffung von Beschäftigungsperspektiven im Herkunftsland und beim Wiederaufbau der dazu notwendigen Strukturen helfen. Wenn der Flucht oder Vertreibung ethnische und religiöse Konflikte vorausgingen, müssen solche Struktur- und Wiederaufbauhilfen um friedensfördernde Maßnahmen ergänzt werden. Auch hier kann der Zivile Friedensdienst ansetzen und lokalen Organisationen dabei helfen, Flüchtlinge bei der beruflichen Wiedereingliederung oder bei der Vermittlung in Konflikten um Bodenrechte zu unterstützen.

Eine kohärente Flüchtlingspolitik

Zweifellos stellt die Flüchtlingsproblematik die EU-Staaten vor große und wachsende Herausforderungen. In der Öffentlichkeit wird oft die Forderung erhoben, die Fluchtursachen zu reduzieren. Die Handlungsmöglichkeiten Deutschlands, der Europäischen Union und der internationalen Gemeinschaft sind aber begrenzt. Zwangswanderungen aufgrund von Kriegen, Bürgerkriegen, Gewalt und Verfolgung lassen sich letztlich oft nur verhindern, wenn der Konflikt durch außen- und sicherheitspolitische Intervention eingedämmt wird.

Die Erfahrung der vergangenen Jahrzehnte zeigt aber, dass die Bereitschaft vieler Industrieländer zu einem solchen Engagement gering ist. Gerade deshalb aber kommt der Konfliktprävention durch Unterstützung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung der Partnerländer eine so wichtige Rolle zu.

Bemühungen um eine kohärente europäische Flüchtlingspolitik sind daher dringend nötig. Die Handlungsspielräume sind noch nicht ausgeschöpft. Sie bestehen zum einen auf nationaler Ebene: Hier können und müssen die Mitgliedstaaten die Bedingungen für die Schutzgewährung, Aufnahme, Unterbringung und Versorgung von Flüchtlingen weiter verbessern und angleichen. Zum anderen müssen auf europäischer Ebene weitere humanitäre Katastrophen an den Außengrenzen verhindert, die Drittstaaten mit großer Flüchtlingsaufnahme stärker unterstützt und eine faire europäische Verantwortungsteilung bei der Flüchtlingsaufnahme gefunden werden.

Dr. Steffen Angenendt arbeitet in der Forschungsgruppe Globale Fragen der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin.
 

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli/August 2015, S. 44-53

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