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01. Febr. 2008

Von Moskau nach Russland

Wunder statt Wegweiser: Eine Reise in die russische Provinz

Die russische Straße ist holprig und unwegsam. Immerhin, im Süden des Landes ist sie geradezu ein Sonderweg zum Reichtum – der Korruption sei Dank. Und auch die orthodoxe Kirche feiert abseits der Metropolen eine machtvolle Renaissance. Eine Fahrt entlang der „Todesstraße“ von Moskau nach Rostow.

Das Urteil über Russlands Verkehrswege wurde von keinem geringeren als Napoleon gefällt. „In Russland gibt es keine Verkehrsstraßen, lediglich Himmelsrichtungen“, soll der launische Empereur gesagt haben, der bekanntlich ungebeten kam. Immerhin, während des Napoleonischen Feldzugs lernten die Russen auch die Vorteile der schlechten Infrastruktur kennen.

Und wie es, glaubt man dem Klischee, in Russland nun mal so ist, machten sich die Hofstrategen daraufhin ans Werk, die Not in eine Tugend, oder besser: den Mangel in einen strategischen Vorteil umzumünzen. Als die zaristische Regierung sich gezwungen sah, Eisenbahnen zu bauen, entschied man sich, von der europäischen Spurbreite abzurücken. So sollte ein Angriff aus dem Westen, der ohne Nachschub von Kriegsgerät und Truppen nicht möglich schien, abgewehrt werden. Nun, künftige Kriege verhinderte die russische Isolationsstrategie keineswegs, die Breitspur aber – dieser ganz und gar unmetaphorische Sonderweg –  steht der Vernetzung des euroasiatischen Raumes bis heute im Weg.

Dass die russischen Straßen diesen Namen kaum verdienten, wussten die Russen auch – nur mochten sie das nicht unbedingt von Ausländern gesagt bekommen. „Ich verachte meine Heimat von Kopf bis Fuß“, schrieb Puschkin, „aber ich ärgere mich, wenn ein Ausländer meine Meinung teilt.“ Eine durch und durch nachvollziehbare Reaktion. Schließlich fehlte es durchaus nicht an eigenen kritischen Geistern, die gegen die Rückständigkeit und Misswirtschaft wetterten. Zum Beispiel Nikolai Gogol. Der Satiriker, als Patriot und Monarchist subversiver Umtriebe eigentlich vergleichsweise unverdächtig, diagnostizierte zwei schwer zu behebende Mängel des russischen Staates: „die Dummköpfe und die Straßen“. Ein zugegebenermaßen noch harscheres Urteil als das napoleonische, denn es zielte auf das russische Selbstverständnis und traf die kollektive „Ehre“ ins Mark.

Andererseits war es auch leicht, sich von einem solchen Pauschalurteil nicht betroffen zu fühlen: Wer mit Gogol über „die Russen“ herzog, schob die Verantwortung auf die Unverbesserlichen, die dafür sorgten, dass die Reformfreudigen als Resultat ihrer Anstrengungen immer wieder nur eine abermalige Variante derselben Misere präsentiert bekamen. Das Tückische am Gogolschen Bonmot: Wer heute nach Russland kommt, der wartet auf eine Bestätigung des im Laufe der Jahre zu einem geflügelten Wort gewordenen Urteils und wird sie – kein Wunder – dann auch schnell bekommen. Das verengt den Blick und mindert die Bereitschaft, Neues zu erkennen. Schließlich hat sich das Land in den seither vergangenen über 150 Jahren doch sehr verändert, wenigstens was den zweiten Teil der Aussage betrifft.

Unterwegs auf der Todesstraße

In Gogols Roman „Die toten Seelen“ macht sich der Protagonist Tschitschikow, der den Gutsherren die gestorbenen Leibeigenen abkauft, auf den Weg, um einem Besitzer der seltsamen Ware eine Visite abzustatten. Allerdings kann er das Dorf, das lediglich einige Kilometer entfernt liegt, nicht finden. Die Straße löst sich auf einmal im Feld auf, außerdem gibt es keine Wegweiser oder Zeichen, die wenigstens die Richtung zu erkennen geben könnten. Auch eine Frau, die er unterwegs trifft, kann Tschitschikow nicht weiterhelfen, da sie weder rechts und links zu unterscheiden noch die Entfernung richtig einzuschätzen weiß. Am Ende der Irrfahrt erreicht er doch sein Ziel und wird von dem gastfreundlichen Seelenbesitzer herzlich empfangen. Wie lange man in Russland auch herumirrt, am Ende gelangt man doch an den richtigen Ort und begegnet einer „russischen Seele“.

Ein wahres Lebenselixier sind die „toten Seelen“ für jeden, der auf der „Todesstraße“ fährt. Diesen Ruf hat sich die Verkehrsader „Don“, die Moskau mit dem 1076 km südlich gelegenen Rostow verbindet, aufgrund einer überdurchschnittlich hohen Unfallrate eingehandelt. An Werktagen ist sie von umgekippten LKWs nur so gesäumt. Der Großteil der Route ist immer noch zweispurig, und die Fahrer können es nicht lassen, auf der Gegenfahrbahn zu überholen. Im Grunde ist das Auto nicht das ideale Mittel, um in Russland zu reisen. Die gute alte Eisenbahn ist viel bequemer und sicherer als die holprige Straße, auf der man vor Wegelagerern in Gestalt von Selbstmördern oder Verkehrspolizisten nicht sicher ist. Will man aber innerhalb eines überschaubaren Zeitraums den russischen Süden erkunden, führt kein Weg am Auto vorbei.

Kaum 200 km von Moskau entfernt, in der Stadt Tula, wird man als Reisender schnell an Napoleon, Gogol und andere Topoi der russischen Kultur erinnert. Das Verkehrsamt scheint wenig Wert auf Wegweiser zu legen. Selbst die Abzweigung zum berühmtesten Ort Kulikowo Pole, der in jedem Schulbuch für die entscheidende Schlacht gegen die Tataren steht, ist nicht ausgeschildert. Schlimmer noch: Drei verschiedene Karten stimmen nicht überein. Selbst wenn sie im Ausland gedruckt sind, ist auf die Karten kein Verlass. Die sowjetische Tradition, Karten bewusst fehlerhaft und mit verzerrter Perspektive zu gestalten, um imperialistische Spione zu verwirren, hat ein reiches Erbe hinterlassen. Die zur Täuschung des Feindes beabsichtigten Fehler werden bei der Herstellung neuer Karten reproduziert. Doch durch das scheinbar Sowjetische schauen oft frühere Traditionen durch.

Geradezu als heroischer Akt im Kampf gegen den Feind erscheint das In-die-Irre-Führen im Falle des Bauern Iwan Sussanin, der während der polnischen Invasion Anfang des 17. Jahrhunderts die feindliche Vorhut als Begleiter zum Versteck des Zaren Michail Fedorowitsch bringen sollte und diese absichtlich in den unpassierbaren Wald im Gebiet Smolensk geführt hatte. Seither wird er als Nationalheld gefeiert. Seine Heldentat wurde mit der Einführung eines neuen „Tages der Einheit“ anstelle des Tages der Oktoberrevolution aufgewertet: dem 4. November, dem Tag, an dem nach der Überlieferung im Jahre 1612 die polnischen Aggressoren aus Moskau vertrieben wurden. Mit diesem Tag war die Zeit der Wirren und der feindlichen Invasoren aus dem Westen vorbei, ein neuer starker Zar – Michail Romanow – wurde gewählt, und ein souveränes Russland erstrahlte im neuen Glanz. Ein Glanz, wie ihn auch Wladimir Putin seiner Präsidentschaft verleihen möchte – und auch für den heutigen Kremlchef kommt der Feind aus dem Westen.

Immer noch weht der Geist Sussanins, der den Google-Maps Hohn spricht, über die Atlanten und Verkehrswege Mittelrusslands. Sind die Atlanten eine Art formalisierter Sussanin, treten in den fehlenden Wegweisern gleichsam die zuständigen Behörden in Erscheinung. Die tradierte sowjetische Geheimnistuerei geht nahtlos in deren unerschütterliches Credo „Ihr könnt mich mal“ über. Kommt hinzu, dass die Straßen nie auf Fremdenverkehr ausgerichtet waren. Die Einheimischen kannten die Orte auch ohne Schilder, die Fremden waren unerwünscht und sollten sehen, wie sie zurechtkamen.

Das Herumirren durch Felder und Dörfer hat für den Reisenden auch einen Vorteil: Er kann sich intensiver mit der Landschaft und den teilweise vernachlässigten Feldern beschäftigen. Ungeachtet der fruchtbaren Böden scheint die Landwirtschaft etwa im Tula-Gebiet immer noch brach zu liegen. „Alles, was Hirn hat, ist schon in Moskau“, sagen die Einheimischen. Auf dem Land gibt es keine Arbeit, außer bei der öffentlichen Hand. Noch mehr bedrückt die Menschen, dass viele der privatisierten und gut funktionierenden Einrichtungen, ob Pension oder Restaurant, Investoren aus Moskau gehören. Moskau ist ein Eindringling, und die Provinz hasst es, dessen Kolonie zu sein. Dabei vermuten viele, dass die angeblichen „Moskauer“ in Wirklichkeit Einheimische sind, die eben „Hirn“ hatten und in den neunziger Jahren in die Hauptstadt gegangen seien. Nun sind sie zurück und investieren emsig in die Heimat.

Doch nicht die Moskauer Mittelständler betreiben Landnahme im großen Stil, sondern die orthodoxe Kirche, deren machtvolle Wiedergeburt in einer dünn besiedelten Provinz unübersehbar ist.

Wunder am laufenden Band

Im Süden grenzt das Tula-Gebiet an die Lipezker Oblast. Wo die Waldsteppe plötzlich hügelig wird und brachliegende Felder durch eine Kalksteinformation abgelöst werden, taucht in der Ferne eine weiße Kapelle auf, von der ein Weg bergab zum Glockenturm der Höhlenkirche führt. Auf einmal findet man sich inmitten des Kostomakowoer Spasskij-Frauenklosters. Der kalkweiße Turm blendet die Augen; für einen Augenblick wähnt man sich in Griechenland.

Die Höhlenanlage im Niemandsland hat Revolution und Stalin relativ unbeschadet überstanden. Lediglich unter Chruschtschow, dessen militantem Atheismus tausende von verbliebenen Gotteshäusern zum Opfer gefallen sind, hat man versucht, die Höhlen zu sprengen. Die Soldaten haben auch die Ikone der Gottesmutter durchlöchert. Seitdem blutet die Ikone, erzählt eine junge Nonne mit leuchtenden Augen. Die Höhle der Reue, die 2000 Betende beherbergen kann, werde gerade renoviert, die Ikone sei aber zu bewundern. Sie zeigt die Einschusslöcher und rötliche Spuren der heiligen Tränen. Überhaupt geschehen hier Wunder am laufenden Band. Mal leuchten die Füße Christi auf, mal fällt eine Lichtsäule auf den Kreuzgang. Vielen hat die Gottesmutter schon geholfen. Etwa der Soldatin, die nach Tschetschenien geschickt werden sollte.

Sie betete zur Gottesmutter darum, heil zurückzukehren. Und siehe da, unlängst suchte sie das Kloster wieder auf: gesund und von ihren Ängsten erlöst. Der leise Triumph des Glaubens funkelt in den Augen der Schwester. Im letzten Sommer kam sogar eine ganze Klasse von Abiturienten aus Woronesch angereist. Sie beteten um die Aufnahme in die Hochschule, und alle seien immatrikuliert worden, obwohl sie keine Bestechungsgelder zahlen konnten.

Der Kostomakowoer Spasskij-Frauenkloster liegt an der alten Pilgerroute, die im 19. Jahrhundert dank heiliger Quellen und berühmter Heiligtümer Mühselige und Beladene aus ganz Russland anzog. Allmählich gewinnt der Pilgerweg seine alte Bedeutung zurück. Nach der Restitution des Kirchenbesitzes sprießen nun die Klöster wie Pilze aus dem Boden. Ungefähr 400 Kilometer südlich von Moskau liegt Sadonsk. Der reformatorische Eifer Katharinas der Großen ist dem 12 000-Einwohner-Städtchen immer noch anzumerken. 1779 wurde die säkularisierte Klostersiedlung zur Stadt Sadonsk erklärt und mit einem Stadtwappen versehen. Kurz darauf erhielt sie einen Generalbauplan, mit dem die europäische Straßenstruktur Einzug hielt. Das war es dann aber auch schon mit der Aufklärung. Denn der Ort war alles andere als von Gott verlassen. Im Gegenteil. Dank des Woronescher Bischofs Tichon, der in seinen Mauern die letzte Ruhe fand, erlangte das Sadonsker Kloster zur Gottesmutter landesweite Berühmtheit. Als man Mitte des 19. Jahrhunderts bei den Bauarbeiten den unversehrten Leichnam des Bischofs offen legte, wurde er heilig gesprochen. Tausende von Pilgern strömten seitdem nach Sadonsk in der Hoffnung auf Heilung oder Erlösung. Bis zur Oktoberrevolution lebte die Stadt von Pilgern. Dann fiel das Provinznest, das selbst vom Zweiten Weltkrieg nur am Rande betroffen wurde, in eine sowjetische Starre.

Wer heute an einem Sommertag die schnurgeraden, aufgeräumten Straßen des Stadtkerns mit überwiegend zweistöckigen Backsteinhäusern entlangläuft, kann den Kontrast zwischen der Geschäftigkeit im barocken Kloster und der säkularen Leere der Civitas fast physisch spüren. Schon am Bergfuß, auf dem sich das Kloster erhebt, wimmelt es von Menschen. Die einen stehen vor der heiligen Quelle Schlange, in die sie ihr in der Regel übergewichtiges und sündhaftes Fleisch eintauchen wollen, die anderen füllen ihre Plastikflaschen mit dem heiligen Wasser. Ein weiterer Bus bringt eine neue Ladung von Pilgern. Die Schlange wird ungeduldig, die Demut droht, in einen sowjetischen Krawall auszuarten.

Auch oben, auf dem Klostergelände, herrscht reges Treiben. Während im Refektorium die Bedürftigen ihr tägliches Brot bekommen, hämmern im Hof die Handwerker auf dem Gelände um die imposante Kathedrale. Die Renovierung stört die Besucher nicht. Die einen beten, die anderen küssen die Ikone der Gottesmutter, die dritten scheinen nicht ganz dazuzugehören. Das sind Besucher, die nicht wie typische Kirchgänger aussehen: gut gekleidete Männer vom Typ Provinzbeamter oder stattliche Frauen mit Frisuren aus den siebziger Jahren vom Typ Schuldirektorin. Sie wirken unsicher, sie scheinen nicht recht zu wissen, wie man sich an einem sakralen Ort richtig benimmt. Aus Verlegenheit bekreuzigen sie sich immer wieder. Doch am stärksten fallen auf dem Kirchenhof die Jugendlichen auf, die nicht von außerhalb gekommen sind, sondern in Sadonsk heimisch zu sein scheinen. Sie betreten das Klostergelände so selbstverständlich wie ihren Schulhof. Viele sind es nicht, und doch bietet die Kirche ihnen offensichtlich etwas, das sie in der Welt außerhalb der Klostermauern nicht finden.

„Die Wiedergeburt des Glaubens? Alles Lug und Trug!“: Nadja, Verkäuferin in einem Tante-Emma-Laden, ist auf das Kloster nicht gut zu sprechen. Mit der Stadt habe es schon einmal gar nichts zu tun, erklärt die Frau um die fünfzig verbittert. Die Einwohner gingen nicht in die Kirche, lediglich ein potemkinsches Dorf sei das, und dann gebe es noch ein bisschen Tourismus. Die Stadt habe nichts davon, die Busse blieben ein paar Stunden, dann füllten die Pilger ihre Flaschen mit dem heiligen Wasser und führen weiter. Auf die Frage, was denn die Einwohner von Sadonsk den ganzen Tag so täten, antwortet sie lapidar: „Die einen handeln und die anderen klauen.“ „Handeln“ klingt aus ihrem Mund nach dem sozialistischen Ressentiment gegen Spekulanten.

Überhaupt scheint in der Stadt das Sowjetische und Vorsowjetische friedlich nebeneinander zu existieren. Auf der Webseite von Sadonsk wird in der Rubrik „Gesellschaft“ vermeldet: „Am 16. Juni werden Reliquien des hochwürdigen Heiligen Johannes Sesenowski in die Stadt gebracht“, und schon am 20. Juni „bluteten in der Kathedrale alle Ikonen, und auf dem Gewand Christi ist ein Kreuz erschienen!“ In den Internetblogs überwiegt derweil ein anderes Thema. „Man trinkt viel. Bevorzugt wird das, wofür das Geld reicht. Abends begegnet man Horden betrunkener Kinder. Fürchterlich. Ihre Eltern trinken in der Regel auch.“ Es wirkt, als habe man eine Provinzzeitung aus dem 19. Jahrhundert ins Netz gestellt.

Hat die Verkäuferin doch Recht mit ihrem Misstrauen gegenüber der Kirche? Auch soziologischen Erhebungen zufolge besucht nur ein Bruchteil der russischen Bevölkerung regelmäßig die Kirche, und nur für sechs Prozent ist die Religion „sehr wichtig“.1 Doch dürfen solche Umfragen nicht überschätzt werden. Der Einfluss der Kirche kommt nicht primär im Verhältnis der Laien zur Religion, zu Christus zum Ausdruck, sondern eher dadurch, dass sie die Menschen an ihre Rituale und an ihre partikularistische Weltsicht gewöhnt. Im Namen der Religion verlangt sie Untertänigkeit und Demut gegenüber der Obrigkeit; und wenn ihre Vertreter Hass predigen, bleibt von der christlichen Liebe nicht viel übrig. So hegen den Umfragen zufolge 77 Prozent der Russen ein grundlegendes Misstrauen gegenüber ihren Mitmenschen. Ihren Anspruch auf moralische Bevormundung will die Kirche mit dem obligatorischen Religionsunterricht in den Schulen untermauern.

Die harte Hand des Südens

Auf halber Strecke von Moskau nach Rostow stellt man fest, dass auch sehr hartnäckige Stereotypen sich nicht ewig halten müssen. Je weiter man sich von Moskau entfernt, desto besser werden die Straßen. Ab Woronesch ähnelt die „Todesstraße“ einer richtigen Autobahn, und die Bemühungen, die Infrastruktur endlich zu modernisieren, sind nicht zu übersehen. Der agrarische Süden war schon immer konservativ: Zunächst waren an die Stelle der antikommunistischen „Weißen“ besonders sture Kommunisten gerückt, und heute sind die in den neunziger Jahren als „roter Gürtel“ verschrieenen Kosakengebiete treue Anhänger des „Einigen Russlands“ und Putins.

Schon an der Grenze zwischen Woronescher und Rostower Gebiet zeigt der Süden seine starke Hand. Ein Moskauer Kennzeichen ist für die Verkehrspolizisten Grund genug, ein Auto anzuhalten. Die aufgedunsenen Gesichter der Straßenhüter lassen auf ungesunde Lebensweise schließen, ermöglicht durch die reiche Beute, die sie hier Tag für Tag machen. Da wir auf der Gegenbahn überholt haben sollen – Beweise dafür gibt es freilich nicht –, haben wir 3000 Rubel zu zahlen, fast 100 Euro. Willkommen in Rostow! Es ist eine obstruse Anhäufung von Polizisten zu beobachten, die in regelmäßigen Abständen am Straßenrand auf ihre Opfer lauern. Um bei der Straßenpolizei, einer der üppigsten Futterkrippen, angestellt zu werden, muss man eine beträchtliche Vorauszahlung tätigen. Die Schulden werden dann von den Verkehrsteilnehmern beglichen.

Das System der organisierten Erpressung liegt der Tätigkeit aller russischen Sicherheitsinstitutionen zugrunde. Die Wegelagerei ist lediglich eine besonders transparente Struktur, weil sie unter freiem Himmel zu beobachten ist. Zugleich ist diese Armee der ungelernten, abhängigen Männer – ähnlich wie andere paramilitärische Einheiten – eine ernstzunehmende Machtressource für die politische Elite. Es ist unglaublich, dass angesichts des Arbeitskräftemangels, der die Entwicklung in Russland hemmt, menschliche Ressourcen derart unproduktiv abgeschöpft werden. „Die Straße ist der Weg zum Reichtum“, lautet ein chinesisches Sprichwort. In Russland scheint sie ein Sonderweg zum Reichtum zu sein.

Allerdings beginnt an der Grenze zwischen dem Woronescher und Rostower Gebiet eine richtige Autobahn, und sie hört auch bis zum Asowschen Meer nicht mehr auf. Rostow am Don – die größte Stadt an der Todesstraße – ist eine in jeder Hinsicht angenehme Überraschung. Das spontane Gefühl, dass man sich als Fremder dauerhaft niederlassen könnte, kommt in Russland nur an wenigen Orten auf, und Rostow zählt offensichtlich dazu. Die Stadt verfügt über einen relativ intakten Stadtkern mit ansehnlichen Jugendstilhäusern. Sie wirkt nicht depressiv wie Tula oder ausgelaugt wie Woronesch, sie ist geschäftig, und sie hat eine funktionierende kulturelle Infrastruktur: das „Haus des Buches“, die Buchhandlungen, die prächtige Universität, die Stadtbibliothek.

Rostow strotzt geradezu vor Selbstbewusstsein, erklärt der 26-jährige Wirtschaftsjournalist Wladimir Korelin: Das Rostower Gebiet habe seine alte Rolle als Verkehrsknotenpunkt, Industrie- und Logistikzentrum wieder eingenommen. Türkische und chinesische Großinvestoren, IKEA, landwirtschaftliche Holdings und Verarbeitungsbetriebe ließen in den letzten drei Jahren das Wirtschaftswachstum auf 25 Prozent klettern. Zum Vergleich: Der Landesdurchschnitt liegt bei acht Prozent. Auch mit einer Arbeitslosenquote von vier Prozent steht man glänzend da. Die neuen und wiederbelebten Betriebe litten indes am akuten Arbeitskräftemangel. Dabei liege der Durchschnittslohn mit 6000 bis 7000 Rubel unter dem Landesdurchschnitt.

Ungeachtet des spektakulären Aufschwungs sind die Gewinne, milde ausgedrückt, ungleich verteilt: Lediglich drei bis fünf Prozent der Bevölkerung schöpfen den Großteil der Gewinne ab. Vom autoritären Gouverneur Wladimir Tschub, der die Geschicke der Region seit 1991 lenkt, spricht Korelin jedoch mit Respekt. Es habe Jahre gedauert, bis der einstige Parteisekretär verstanden habe, dass man keine Angst vor ausländischen Investoren haben müsse. Rostow sei eine Stadt der persönlichen Beziehungen, so Korelin, die Geschäfte würden in Cafés oder auf dem „Lewberdon“ abgewickelt, dem linken Don-Ufer, einer Rotlichtmeile mit Kasinos, Erotikbars und anderen Etablissements. Der wirtschaftliche Erfolg werde von mächtigen Seilschaften bestimmt, was zur Bildung intransparenter Monopole und Holdings führe. Die Bürokratie reguliere den Zugang zum Markt unter anderem durch die Kontrolle des Wasser- und Gasanschlusses; mittelständische Betriebe hätten kaum Überlebenschancen, wenn sie nicht über Verwandte oder Paten in der Administration verfügten. Monopolpreise und Teuerung seien die Folgen. „Die einen handeln, und die anderen klauen“ – die Diagnose der Verkäuferin aus Sadonsk stimmt auch für Rostow, nur auf einer anderen Ebene. In Rostow wird der Mehrwert durch Investitionen und Arbeit erzeugt, bevor er von den Herrschenden abgeschöpft wird.

Das ungehemmte Wirtschaftswachstum ist an einem Ort wie dem Don-Delta mit Händen zu greifen. Unzählige Kanäle, Lastkahnkarawanen und Sonnenblumenmeere, ganze neue Häuserzeilen scheinen von Stabilität und Wohlstand zu künden. Was mit bloßem Auge nicht zu sehen ist, gesteht Korelin schweren Herzens ein. Es sei eine neue Bedrohung im Entstehen: Bewaffnete Kosaken, Geheimdienste und Vertreter der russisch-orthodoxen Kirche – besonders xenophobe und obskurantistische Kräfte, die er als „militarisierte Orthodoxie“ bezeichnet, hätten sich in der Gegend zusammengetan. Korelin sieht eine Generation der Faschisten im Entstehen, die diese scheinbare Stabilität in die Luft sprengen könnten. Allerdings ist eine solche Entwicklung nicht nur in Rostow zu beobachten: Die Brut wurde von der „Machtvertikale“ im Kampf gegen die Demokratie eigenhändig gezüchtet. Noch gibt sie sich mit den Aufträgen ihrer „Paten“ zufrieden. Aber wie lange noch?

SONJA MARGOLINA, geb. 1951 in Moskau, lebt als freie Publizistin in Berlin. Sie ist Autorin mehrerer Bücher über Russland und Osteuropa, darunter „Das Ende der Lügen. Russland und die Juden im 20. Jahrhundert“ (1992) sowie „Russland. Die nichtzivile Gesellschaft“ (1994).

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, Februar 2008, S. 74 - 81

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