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01. Aug. 2003

Sonne mit Flecken

Wie Russlands Realpolitiker vom westlichen Zynismus lernten

Nach Jahren der naiven Bewunderung für den Westen sind die russischen „Demokraten“ endlich in der Wirklichkeit angelangt, meint die in Berlin lebende russische Publizistin Sonja Margolina: Putins „gelenkte Demokratie“ hat Russland in einen neoautoritären Zwitter zwischen Militärokratie und Oligarchie verwandelt, in dem ausschließlich das Recht des Stärkeren gilt.

Im Kalten Krieg war die Welt noch in Ordnung; es gab klare Koordinaten und unüberwindbare Grenzen: Freund und Feind, Gut und Böse, Demokratie und Diktatur standen einander unversöhnlich gegenüber. Die absolute Polarität war durch die Konfrontation der Systeme ideologisch festgeschrieben und fand in der Gefahr der gegenseitigen Vernichtung ihren ultimativen Ausdruck. Doch wenn man damals über Moral und Menschenrechte sprach, ging es natürlich nicht um diese, sondern um handfeste eigene Interessen. Heute ist es ein offenes Geheimnis, dass im Kampf gegen die Sowjetunion alle Mittel recht waren und die Rhetorik der Menschenrechte nur eines von vielen, und den Menschenrechten keine universelle, sondern eine instrumentelle Bedeutung zukam. Schließlich gab es genug Diktaturen, unter anderem auch von den USA ins Leben gerufene und unterstützte, in denen es viel grausamer zuging als im Reich Leonid Breshnews.

Die Verletzungen der Menschenrechte teilten sich also in die „für“ und die „gegen“ Freiheit und Demokratie. Die einen wurden zumindest in Kauf genommen, die anderen als Verbrechen des kommunistischen Regimes gebrandmarkt. Den Regimegegnern in der Sowjetunion blieb diese Seite der westlichen Interessenpolitik meist verborgen, sie waren viel zu sehr auf die innenpolitischen Probleme fixiert. Der Verstrickung des Westens in Menschenrechtsverletzungen, wie z.B. in Südamerika, schenkte man keinen Glauben, auch weil man die Berichte darüber für kommunistische Propaganda hielt. Für die sowjetischen Regimegegner war der Westen Maßstab für alles, was man selber sein und haben wollte, aber aus eigener Kraft nicht erreichte. Der Westen verkörperte das idealtypische Bild eines „normalen“ Staates, zu dem die Sowjetunion sich dereinst entwickeln sollte. Für Unterschiede zwischen einzelnen Ländern und eine historische Dynamik war in diesem Bild kein Platz. Bezeichnenderweise hielten auch die meisten Emigranten an solchen Vorstellungen fest. Übten sie jedoch Kritik am „kapitalistischen System“, wie z.B. Alexander Solshenizyn, war diese gesinnungsethisch, rechtskonservativ und richtete sich gegen die demokratischen Grundlagen der westlichen Gesellschaften. Für die meisten Regimegegner auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs war der Westen jedoch die Sonne, die immer an derselben Stelle am Horizont stand und die zu erreichen manch einen Ikarus die Freiheit und gelegentlich das Leben kostete. Als neue Hoffnungen aufkeimten und Michail Gorbatschow vom „gemeinsamen europäischen Haus“ träumte, machte sich die Bevölkerung allgemein das normative Bild des Westens weitgehend zu eigen: Niemals danach hielten sich so viele Menschen in Russland für Europäer. Die Hoffnung, Russland werde sich in etlichen Jahren zu einem „normalen“ Land entwickeln, begann allerdings mit der kriminellen Privatisierung und dem ersten Tschetschenien-Krieg alsbald zu schwinden.

Als im Dezember 1994 Bomben auf Grosny fielen, war die russische Gesellschaft erschüttert. Doch zum Entsetzen der demokratischen Kräfte blieb eine Reaktion im Westen so gut wie aus: Diszipliniert reisten die Regierungschefs zum 50. Jahrestag des Sieges im Zweiten Weltkrieg nach Moskau. Die fälligen IWF-Kredite wurden rechtzeitig ausgezahlt; Boris Jelzin bekam für seinen Wahlkampf eine saftige Zulage aus Deutschland. Gleichzeitig wurde Russland in den Europarat aufgenommen. Auch in den USA setzte man lieber auf den korrupten Jelzin als auf die schwachen Demokraten; angeblich galt es wieder einmal, die Gefahr der Rückkehr der Kommunisten an die Macht zu verhindern. Mit den Krediten finanzierte man – direkt oder indirekt – auch den Tschetschenien-Krieg. Die nie in Frage gestellte Gewissheit der westlich orientierten Öffentlichkeit, der Westen verkörpere das Recht und deshalb auch die „Wahrheit“, geriet immer mehr ins Wanken, blieb aber noch einige Jahre als Reflex erhalten. In ihrer Hilflosigkeit appellierten die Menschenrechtler immer weiter an den Westen, obwohl dies keine Wirkung zeitigte.

Was dann nach dem 11. September 2001 mit der Bildung der „Achse der Willigen“ geschah, befreite das russische Establishment von den letzten „humanitären“ Hemmungen. Anfang Juni 2003 schrieb der britische Guardian mit Blick auf den Petersburger Gipfel aus Anlass des 300. Jahrestags der Stadtgründung, dass die Art und Weise, wie der Westen Wladimir Putin behandele, als Musterbeispiel für Realpolitik in die Geschichte eingehen werde. „Man wird schwerlich auf einen anderen Fall verweisen können, in dem die führenden Mächte einen derart eklatanten Zynismus demonstrierten und das Fehlen jeglicher Skrupel derart offen zur Schau stellten“. Gemeint waren insbesondere die Auftritte von George W. Bush und Jacques Chirac. Präsident Bush, so der Guardian, beschrieb mit zitternder Stimme die monströsen Menschenrechtsverletzungen in Irak und vergaß vollkommen, welche Kriegsverbrechen die Armee seines Freundes in Tschetschenien beging. Chirac allerdings schwang sich zu einem unübertrefflichen rhetorischen Höhenflug auf: „Dank dem Respekt Russlands vor seinen Minderheiten, seinem Dialog der Kulturen und dem Respekt vor anderen Völkern befindet es sich in der ersten Reihe der Demokratien.“

Nun sind die russischen „Demokraten“ endlich in der Wirklichkeit angelangt: die Sonne hat Flecken bekommen. In einer Situation der Schwäche der demokratischen Opposition – ihre Legitimation leitete sie ja größtenteils aus dem Bezug auf die „westlichen Werte“ her –, verliert sie schnell den Mut und legt ihre „Prinzipien“ auf Eis. Der Resignation folgt Zynismus: Wenn der Westen weder das Recht noch die Wahrheit verkörpert und auch keine normsetzende Funktion mehr beanspruchen kann, dann ist – genau wie in dem berühmten Roman Fjodor Dostojewskis –, „alles erlaubt“. Zumal man dem selbstsüchtigen und interessengeleiteten Westen eines nicht absprechen kann: er hat Erfolg. Erfolg – Wohlstand, Wachstum – kann man aber auch ohne Werte haben. Gewiss wurde dem Westen seine normsetzende Funktion teilweise durch die romantischen Vorstellungen und Sehnsüchte der Regimegegner vieler Diktaturen oktroyiert. Doch die Inflation der Werte hat auch mit den realen Prozessen in der westlichen Welt zu tun. Seit einem Jahrzehnt findet nicht nur der Übergang ehemaliger Sowjetsatellitenstaaten aus dem Postsozialismus zum „normalen“ Zustand entwickelter Demokratien statt, sondern auch die „entwickelten Demokratien“ entwickeln sich weiter. Unter dem Einfluss der Globalisierung und inneren Dynamik verändern sie sich, wobei diese Veränderung offenbar auf eine „Überwindung“ der Demokratie hinausläuft, die man aus normativer Sicht als Erosion verstehen könnte.

Die Demokratie als institutionelles System tritt immer mehr in ihrer historischen Vergänglichkeit in Erscheinung. Das ist nicht verwunderlich, wenn man sich die Verbindung zwischen Demokratie und Nationalstaat vergegenwärtigt, der immer stärker in Abhängigkeit von den internationalen Akteuren gerät und sich dem Zugriff des „Souveräns“ immer mehr entzieht. Die Symptome der Erosion sind vielfältig, angefangen von der Krise der Parteiensysteme, der wachsenden Übermacht der Exekutive und Korruption in den Ämtern bis zum eigenartigen quasi-demokratischen Gebilde der EU, welches, falls ihm Erfolg beschieden ist, zum Totengräber der Nachkriegsdemokratie werden könnte. Ohnehin scheint die EU nicht fähig zu sein, den politisch-moralischen Anspruch und das Rechtsverständnis der „klassischen“ Demokratie aufrechtzuerhalten – wie der spektakuläre „Fall Berlusconi“ nun zeigt. Mit Aufnahme der neuen Mitglieder wird es viele Fälle wie Silvio Berlusconi geben, was zur Senkung der Standards und Relativierung der Ansprüche an die demokratischen Institutionen führen könnte. Für „verspätete“ Nationen wie Russland, in dem die demokratischen Institutionen lediglich eine formal legitimatorische Funktion haben, würde die Erosion der Demokratie im Westen bedeuten, dass man sich gar nicht mehr anstrengen, sondern nur darauf warten muss, bis sich die „Werte“ ganz aus der westlichen Außenpolitik verabschieden. Schon heute bezieht das Regime der „gelenkten Demokratie“ seine Legitimation aus der „Integration“ in den Westen.

Die politischen Systeme in den meisten nicht westlichen Staaten können mit wenigen Ausnahmen mit den Euphemismen zur Demokratie charakterisiert werden. In Russland wurde die Definition der „gelenkten“ Demokratie geprägt, zu der der Vollständigkeit halber der Begriff des „bürokratisch-oligarchischen Kapitalismus“ als ihr zugrunde liegendes Wirtschaftssystem hinzuzufügen wäre. Bekanntlich sind Gewaltenteilung und Funktionieren demokratischer Institutionen ohne den Rechtsstaat so gut wie unmöglich. Der Rechtsstaat ist das Fundament der Demokratie; der erste Schritt zu ihrer Aushöhlung – siehe Berlusconi – erfolgt dann, wenn die Exekutive über die anderen beiden Gewalten verfügt. Gewiss braucht der Transformationsprozess nicht nur politischen Willen und bewusste Anstrengungen der Gesellschaft, sondern auch Zeit, damit das Erbe, das Diktaturen hinterlassen, allmählich überwunden werden kann.

Wie ist es aber in der „gelenkten“ Demokratie mit dem Rechtsstaat bestellt? Wie sieht die von Putin verkündete „Diktatur des Gesetzes“ aus? Die Wirtschaftsjournalistin Julia Latynina schreibt aus Anlass der Aufnahme Russlands in die Financial Action Task Force on Money Laundering (FATF) in der Nowaja Gaseta vom 23. Juni 2003: „Das Problem besteht darin, dass es im Land keine Gesetze gibt. Es gibt persönliche Beziehungen. Will sagen, es gibt die geschriebenen Gesetze, die auch unermüdlich vervollkommnet werden, aber niemand lebt nach diesen Gesetzen. So ist die Lebensweise der Macht. Wenn aber jemand wegen Verletzung der Gesetze verfolgt wird, ob Beresowskij oder Gussinskij, will nur jemand anderes seine persönlichen Interessen damit durchsetzen. In einem Land, in dem es keine Gesetze gibt, kann es keinen Privatbesitz geben. ‚Warum regst du dich auf?‘ erklärte ein Geschäftsmann einem anderen, vom dem ein Föderationsminister [in Latyninas Anwesenheit – S.M.] einen Anteil an einem Geschäft forderte, ‚das ist sein Revier, will heißen, hier ist er im Recht‘. Im Land entfallen 80% der Unkosten auf Gas, Strom, Transport und Steuern, d.h. auf Dienstleistungen, deren Preise vom Staat bestimmt werden. Und nur 20% der Unkosten entstehen auf marktwirtschaftliche Weise. Das bedeutet, dass es sich für den Unternehmer nicht lohnt, die Unkosten zu senken. Da ist es günstiger, die Tarife mit Hilfe von Bestechung zu senken. Im Land gibt es zwei Wege der Parteienfinanzierung: der eine ist offiziell, d.h. die Parteien bekommen ärmliche Zuwendungen; der andere ist inoffiziell: man schröpft die Unternehmer. Ein demokratisches System der Gewaltenteilung existiert nicht: weder eine funktionierende Legislative noch Exekutive noch Judikative. Die Legislative drückt auf die Knöpfe [d.h. gehorcht bei Abstimmungen über die Gesetze den Anweisungen aus der Präsidentenadministration – S.M.], von der Judikative schweigen wir lieber. Und so kommt es, dass die Gewaltenteilung durch den Kampf zwischen rivalisierenden Cliquen ersetzt wird.“

In derselben Ausgabe der Nowaja Gaseta wird auch Innenminister Boris Gryslow zitiert, der auf einer Pressekonferenz in Rostow Folgendes gesagt haben soll: „Eine Woge organisierter Kriminalität hat Russland praktisch überflutet; die kriminellen Elemente, Vertreter der Rechtsschutzorgane und der Macht sind durch eine verbrecherische Kette miteinander verbunden, und es handelt sich dabei nicht um Einzelfälle.“ Der stellvertretende Vorsitzende der liberalen Jabloko-Partei, Sergej Iwanenko, stellt fest, „in den drei Jahren seiner Amtszeit“ habe Putin das Anliegen Jelzins – „die Schaffung eines halbkriminellen Herrschaftssystems“ vollendet. Die Tschetschenien-Frage sei in diesem Kontext ein immanenter Bestandteil des Systems.

Angesichts der kommenden Parlaments- und Präsidentenwahlen beschreibt Nikolaj Petrow in seinem Aufsatz „Democracy, Russian-Style“ in der Russia and Eurasia Review,1 wie das System der „gelenkten Demokratie“ unter Putin konsolidiert wurde. Er schildert die Institutionen, die eigens dafür geschaffen wurden, um den Ausgang der Wahlen sowohl auf regionaler wie auch auf lokaler Ebene vom Kreml aus zu kontrollieren und gleichzeitig die Fassade demokratischer Wahlen aufrechtzuerhalten. Nicht die Wähler bestimmten durch ihre Stimmabgabe in den Wahllokalen die Ergebnisse, sondern die Wahlkommissionen und Gerichte. Die Rechtsschutzorgane würden benutzt, um Druck auf die Kandidaten auszuüben und kompromittierende Gerüchte in den Medien zu lancieren usw. Mit Hilfe der Zentralen Wahlkommission, vom Volksmund „Ministerium für Wahlen“ genannt, könne jeder Kandidat wegen vermeintlicher Verstöße gegen das Wahlgesetz suspendiert und die regionalen Wahlkommissionen mit der eigenen Klientel besetzt und diese aufgelöst werden.

Nicht uninteressant erscheint auch die Frage, durch welches Personal die „gelenkte Demokratie“ gelenkt wird. Die Elitenforscherin des Instituts für Soziologie Olga Kryschtanowskaja deckt fundamentale Veränderungen in der Zusammensetzung der politischen Elite in den letzten drei Jahren auf.2 Anfang der neunziger Jahre seien die politischen Hauptakteure Wirtschaftsleute gewesen. Nach der Machtübernahme durch Putin hätten sich die Korridore der Macht indes mit Vertretern militärischer und Geheimdienstkreise gefüllt. Der Lenkungsapparat der neu gebildeten föderalen Kreise sei bis zu 70% von Militärs besetzt, während der Anteil der Gouverneure dieser Herkunft sich verdoppelt habe und die Zahl der Minister um ein Drittel gewachsen sei. Putins Militär- und Geheimdienstkreise seien nicht bereit, sich der allumfassenden Kontrolle durch die Gesellschaft zu unterwerfen. Diese nehme bisweilen verdeckte Formen an, wie der von Petrow beschriebene Zugriff auf die administrativen Ressourcen bei den Wahlen, die Gründung potemkinscher „zivilgesellschaftlicher“ Institutionen durch die Vertreter des Präsidenten in den Regionen und die Infiltration der Unternehmen und Medien durch eigene, Einfluss nehmende Agenten.

Da es nach Meinung Kryschtanowskajas keine wirkliche Gewaltenteilung gibt und die Regierung ihre Kontrolle über alle Bereiche des öffentlichen Lebens wieder herzustellen versucht, werden offenbar nun die Unternehmer zur einzigen Opposition zum Neoautoritarismus, so dass der Staat zwischen der Scylla der Militärokratie und der Charybdis der Oligarchie lavieren müsse. Dass die Oligarchen nun die einzige Opposition sind, glaubt auch Latynina.

Nun muss man die Sorgen um die fehlende Demokratie nicht unbedingt teilen. Vielleicht ist die Lage halb so schlimm, vielleicht ist sie nach den Kriterien des „globalen Zynismus“ auch gar nicht schlimm, wenn sich herausstellt, dass die Ölpreise und ausländischen Investitionen auch ohne den Rechtsstaat Erfolg bringen. Konzerne sind immer bereit, sich dem Gewohnheitsrecht lokaler Kulturen zu beugen. Russland ist nicht der einzige Staat, in dem das politische System auf die oben geschilderte Weise funktioniert. Wenn die Funktionsweise politisch korrekt beschrieben werden soll, findet sich dafür auch noch eine elegantere Sprache als die Latyninas, die eine Vorliebe für kriminellen Jargon hat. Die bekannte Politologin Lilia Schewzowa schreibt zum Beispiel in ihrem Buch „Putin’s Russia“: „Die Russen sollten der wichtigsten neuen Versuchung widerstehen, nämlich dem Weg zu folgen, der am einfachsten erscheint: Markt und Demokratie in ihren oberflächlichsten Aspekten zu imitieren und dahinter die Patron-Klient-Beziehungen, die Herrschaft der Wenigen und das Regieren ohne Verantwortlichkeit aufrechtzuerhalten.“3 Der Unterschied im Tonfall bringt den Unterschied in der Modalität zum Ausdruck. Latynina erklärt in ihrem Artikel, wie das System in der Praxis funktioniert. Schewzowa schreibt auf die Möglichkeit seiner Überwindung hin. Unklar bleibt jedoch, wer diesen Kraftakt vollbringen könnte. „Das Volk?“ würde Latynina ironisch erwidern. „Ich schweige zum Volk, weil das Volk schweigt. Das Volk wird reden, wenn die Ölpreise abstürzen. Das letzte Mal, als sie fielen, fielen der Rubel und die Regierung Kirijenko. Das vorvorletzte Mal, als sie fielen, brach die Sowjetunion zusammen.“ Tatsächlich gibt es kaum Ölstaaten mit einem demokratischen Regierungssystem. Deshalb hegen manche russische Liberale Hoffnung auf die heilende Kraft des Preissturzes, der allein im Stande wäre, der „gelenkten Demokratie“ den Garaus zu machen.

Im globalen Wettbewerb ist Erfolg nun einmal wichtiger als Demokratie, und es gibt Staaten, die wie einst Augusto Pinochets Chile und das heutige China ohne Gewaltenteilung beträchtliche Erfolge vorzuweisen haben. Viele Menschen in Russland glauben, dass auch dort erst Wachstum Wohlstand, und dann der Wohlstand die Demokratie mit sich bringen könnte. In dieser Auffassung werden sie maßgeblich durch die Ideologen des Neoliberalismus und die interessengeleitete amerikanische Außenpolitik unterstützt. Ohnehin ist man im internationalen Geflecht immer mehr aufeinander angewiesen. Für die Sicherheit und nationalen Interessen – diplomatische Rhetorik hin oder her – sind nicht Demokratie, sondern gegenseitige Garantien wichtig. Von den internationalen Akteuren ist nicht zu erwarten, dass sie einander die letzte „Wahrheit“ ins Gesicht sagen. Wenn man allerdings offiziell das Gegenteil der Wirklichkeit behauptet und eine Orwellsche Konstruktion kreiert, wie Chirac es auf dem Petersburger Gipfel, Gerhard Schröder oder Tony Blair bei anderen Anlässen tun, läuft man Gefahr, beim Wort genommen und durch die „gelenkte Demokratie“ vereinnahmt und abhängig gemacht zu werden. Die Bereitschaft der Europäer, sich über die Realität hinwegzusetzen, ist mehr als bloße diplomatische Etikette. Die Orwellsche Lüge, die zugleich Wahrheit ist, liegt in der Logik des Übergangs zur westlichen „Postdemokratie“. Die alte, verbrauchte Werterhetorik verschleiert die neuen Abhängigkeiten.

Anmerkungen

1  Vgl. Nikolai Petrov, Democracy, Russian Style, in: Russia and Eurasia Review, Jg. 2, H. 13, 2003.

2  Vgl. Olga Kryschtanowskaja, Ljudi Putina [Putins Leute], in: Vedomosti, 30.6.2003; vgl. auf Deutsch: dies., Wladimir Putin protegiert frühere Militärs, in: Süddeutsche Zeitung, 22.7.2003, S. 2.

3  Vgl. Lilia Shevtsova, Putin’s Russia, Carnegie Endowment for International Peace, Washington, DC, 2003.