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01. Jan. 2005

Das unsichtbare Dritte

In der Ukraine hat das Volk, nicht das geopolitische Kalkül der USA gesiegt

Auf Kiews Straßen blühen die Orangen. Das Volk, nicht das geopolitische Kalkül der USA, hat in der Ukraine gesiegt. Russland ist unfähig, seine Fehler einzugestehen

Der Erfolg des als prowestlich geltenden Viktor Juschtschenko ist nicht nur ein Triumph der „orangenen Revolution“: Das Ergebnis von Kiew stürzt auch Russlands Politik gegenüber seinen Nachbarn in die Krise. Moskau jagt immer noch dem Phantom nach, Großmacht zu sein.

Auf dem Kiewer Platz der Unabhängigkeit sind die Ukrainer zu einer Nation geworden, die sich im Plebiszit für Menschenwürde und bürgerliche Rechte erneuert und bewährt hat. Die orangene Revolution ist aber nicht wie ein deus ex machina aus dem Nichts und spontan entstanden. Sie war Folge sowohl der durch die Unabhängigkeit ausgelösten gesellschaftlichen Dynamik als auch mächtiger Einflüsse der Globalisierung.

Die Ukraine ist das größte Land des postsowjetischen Raumes, in dem noch ein Nachhutgefecht zwischen der einzigen verbliebenen Supermacht, den USA, und Russland als Restimperium ausgetragen wird. Die EU hat indes, von der Integration der zehn neuen Mitgliedsstaaten überfordert, die Ukraine stillschweigend als russische Interessensphäre abgeschrieben. Doch Europa kann und darf sich dem Kampf um die Ukraine nicht entziehen, die kraft ihrer Geschichte und geographischen Lage aus Europa nicht wegzudenken ist.

Dass hinter der straff organisierten, disziplinierten und einfallsreichen Mobilisierung der Juschtschenko-Fans aus der ganzen Ukraine die US-Regierung und amerikanische NGOs wie die Soros-Stiftung standen, ist ein offenes Geheimnis. Die Kampagne, kommentierte der britische Guardian, sei „eine amerikanische Schöpfung, ein komplexes und brillant realisiertes Erfinden einer Marke und dessen Massenvermarktung, die in den letzten vier Jahren in vier Staaten versucht wurde, um die gefälschten Wahlen für den Umsturz unliebsamer Regime zu nutzen. Zuerst wurde die Aktion beim Sturz Milosevics erfolgreich umgesetzt. Die Belgrader Studentenorganisation Otpor, welche die Aktionen des zivilen Ungehorsams in Belgrad organisierte, profiliert sich seitdem als eine Know-how-Agentur für ähnliche Kampagnen in Osteuropa. Der georgische Präsident Saakaschwili trainierte seine georgische Rosenrevolution in Belgrad, und dieselben Aktivisten haben die Ukraine besucht, um Viktor Juschtschenko zu helfen.“1

Die Kampagne war ein Teil der amerikanischen Strategie des Demokratieaufbaus („democracy engineering“) und somit des Big Game – der Sicherung amerikanischer „vitaler Interessen“, in diesem Fall in Osteuropa. Nach Informationen des Guardian haben die Amerikaner bislang rund 14 Millionen Dollar in die Infrastruktur der Massenaktionen investiert. Insgesamt sollen die ukrainischen Nichtregierungsorganisationen in den letzten zwei Jahren fast 60 Millionen Dollar von den USA erhalten haben.

Die amerikanische Rolle als Strippenzieher hinter der „orangenen Revolution“ hat eine heftige Polemik ausgelöst. Eine Reihe von linken Autoren kritisiert die USA dafür, dass sie ihr altes Arsenal des Kalten Krieges gegen die Regierungen benutzten, mit denen Washington die Geduld verloren habe. Viele, wie der alte „Kurier des Kalten Krieges“ Mark Almond, bringen ihre Enttäuschung über die Wende in Osteuropa zum Ausdruck.2 Die liberale Demokratie, die den Völkern Glück bringen sollte, habe sie in Armut gestürzt und Korruption, organisierte Kriminalität, Prostitution und wachsende Sterberaten produziert. Die Massenpauperisierung und der zynische Opportunismus der neunziger Jahre seien die Gründe, warum die Linke von der amerikanischen Operation „Freiheit“ enttäuscht sei.

Den Kritikern am Demokratietransfer hält Anne Applebaum entgegen, sie würden die demokratischen Bewegungen denunzieren als „heimtückische Neocon-Verschwörungen“ mit dem Ziel, „amerikanischen Militäreinfluss zu erweitern“. In Wirklichkeit habe weder die US-Hilfe in Weißrussland funktioniert noch hätten sich die Russen in der Ukraine zurückgehalten. Im Gegenteil: Sie hätten massiv in den prorussischen Kandidaten investiert und sogar Präsident Putin in den Wahlkampf eingespannt. Diejenigen, welche die Demokratiebewegungen als „amerikanische Verschwörung“ entlarvten, seien einfach „Freiheitshasser“.3

In einem Punkt hat Applebaum recht: Die russischen Steuerzahler kostete die Sicherung des Kutschma-Regimes erheblich mehr als die Amerikaner ihr Demokratieaufbau. Russische Nachrichtenagenturen nennen eine Summe von 900 Millionen Dollar. Mehr noch: Russische Quellen behaupten, die Wahlkampagne Jusch-tschenkos sei auch von russischen Unternehmern finanziert worden, von der aktiven Hilfe ukrainischer Geschäftsleute ganz zu schweigen. Moskowskij Komsomolez nennt die Revolution in Kiew den „Aufstand der Millionäre gegen die Milliardäre“: Unter den letzteren werden die Donezker und Lugansker Clans verstanden, die mit dem scheidenden Präsidenten Leonid Kutschma liiert sind.4

Allerdings hat Timothy Garton Ash recht, wenn er die Aversion der Antiglobalisierungs-Linken gegen die Unterstützung der ukrainischen Revolution mit dem Argument kritisiert: „Amerikanische Gelder hin oder her: die Volkserhebung dieser Dimension, die dem maroden politischen Regime Kutschmas einen beeindruckenden Garaus gemacht hat, konnten sie nicht herbeiführen.“5 Ebenso gerechtfertigt sind die Vorwürfe an die EU, welche die Ukraine schlicht aufgegeben hat. Diese Leere wurde durch die USA strategisch ausgefüllt.

Europas Energieinteressen

Das ukrainische Volk hat seinen politischen Willen souverän und ohne Anleitung durch die USA zum Ausdruck gebracht. Das ändert allerdings nichts an der Tatsache, dass die ukrai-nische Revolution – ähnlich wie die mitteleuropäischen Revolutionen 1989 – in das machtpolitische Kalkül Amerikas einbezogen war. Damals ging es um die Schwächung der Sowjetunion als kommunistische Supermacht – eine moralisch legitime Agenda des Kalten Krieges. Aber bereits 1997 hat Zbigniew Brzezinski angeregt, mit Hilfe von Polen und der Ukraine zu verhindern, dass Russland wieder zu einer Weltmacht heranwachse. In der Ukraine könnte nun die Strategie des Rollback gegenüber Russland auf den postsowjetischen Raum umgesetzt werden.6 Zugleich wäre sie gegen die französisch-deutsch dominierte EU gerichtet. Die Idee, quasi auf einen Streich Russlands Großmachtpläne zu vereiteln und die EU von einer Integration mit Russland abzubringen, wäre ein geostrategisches Meisterwerk. Die Frage ist nur, ob das Spiel aufgeht.

Wenn die europäische Integration Russlands mit seinen Energie- und Rohstoffressourcen, die insbesondere von der deutschen Wirtschaft vorangetrieben wird, gelingen würde, könnte zumindest die wirtschaftliche Dominanz der USA durch eine mit Russland enger liierte EU herausgefordert werden. Eine andere Frage ist, ob die Schwächung Europas tatsächlich im langfristigen Interesse der USA liegt. Ebenso wenig wäre eine wachsende Abhängigkeit von Russland im Interesse Europas. Die droht jedoch: Nach Einschätzung der Internationalen Energieagentur (IEA) wird die EU, wenn sie ihre Energiepolitik nicht grundsätzlich ändert, im Jahr 2030 zu 90 Prozent von russischem Öl abhängig sein, in der Gasversorgung zu 80 Prozent. Schlimmer noch: Man wird auf einen Monopolkonzern, Gasprom, angewiesen sein, ein intransparentes staatliches Unternehmen, das gerade dabei ist, auch Anteile von Ölkonzernen aufzukaufen. Damit wird der russische Staat die in den neunziger Jahren privatisierte Ölförderung wieder unter seine Kontrolle bringen.

Deutschland, das seine Atomkraftwerke nach und nach schließen will, ist von der Energiezufuhr aus Russland besonders abhängig. Unterdessen bildet sich ein Konsortium deutscher Banken, das Gasprom mit einem Kredit von zehn Milliarden Dollar zur Bildung eines „Gaspromneft“, also eines Gas-Öl-Konzerns, unter die Arme greifen will. Wie die Zeitung Kommersant kommentiert, würde dieser Konzern in drei bis fünf Jahren bis zu 45 Prozent der Öllieferungen in die EU an sich ziehen und „die Ölkarte Europas völlig umkrempeln“.7

Für das geopolitisch geschützte Amerika schließt die Partnerschaft mit Russland gegen den Terror weder die Konkurrenz mit Europa noch die Eindämmung Russlands auf den postsowjetischen Raum aus. Für das politisch amorphe Europa bedeutet die Integration Russlands etwas ganz Anderes: Würde Russland seinen „Rohstoffkolonialismus“ – als Ersatz für die verlorene Großmachtstellung – zu einer Drohkulisse ausbauen, könnte die Integration mit Europa sich als eine Art „feindliche Übernahme“ entpuppen. Tendiert Russland indes zum Auseinanderfallen, würde die EU die Zerfallsprodukte erben und wäre in ihrer Sicherheit gefährdet.

In Wirklichkeit – und deshalb trifft Anne Applebaum nicht den Punkt – war der amerikanische Demokratieaufbau selten erfolgreich. So ist nach der Ermordung des serbischen Ministerpräsidenten Zoran Djindjic der demokratische Aufbruch in Serbien zum Stillstand gekommen: Für eine stabile und funktionierende Demokratie reichte der Machtwechsel allein nicht aus. In Georgien blieb die Frage unentschieden: Einerseits hat Michail Saakaschwili wichtige Reformen in die Wege geleitet. Andererseits hält Russland an den abtrünnigen Teilrepubliken Abchasien und Südossetien fest. Weiter von Russland in Schach gehalten und von den USA alimentiert, kann Georgien die Errungenschaften der „Rosenrevolution“ nicht in stabile demokratische Institutionen umsetzen und Investoren anziehen.

Auch in der Ukraine bleibt die Situation in der Schwebe. Denn der Sieg der Opposition sagt noch nichts darüber aus, inwieweit die demokratischen Institutionen von „administrativen Ressourcen“ der oligarchischen Clans und deren Lobbyisten im Parlament beeinflusst werden. Würde die Ukraine aus der politischen Krise ins wirtschaftliche Desaster abstürzen und womöglich zerfallen, könnte der russische Einfluss sogar wachsen: Neben dem geteilten Balkan, Georgien und Moldawien hätte man in unmittelbarer Nähe zur EU dann auch noch eine geteilte Ukraine. Die russischen Verschwörungstheoretiker glauben, genau danach strebten die USA: die EU mit instabilen Anrainerstaaten zu schwächen, sie von der Integration mit Russland abzubringen und Moskau zu isolieren. So denkt man im Kreml, in der Duma und im Großteil des russischen Establishments.

Phantom einer Großmacht

Russland hat sich zum rechtmäßigen Nachfolger der Sowjetunion erklärt und ist zum Betreuer ihrer Konkursmasse mitsamt den totalitären Institutionen geworden. In der Jelzin-Zeit haben die integersten Mitarbeiter der Sicherheitsbehörden, der Armee und der Miliz diese verlassen oder sie wurden entlassen. Mit Putin sind die Großmachtbesorgten und zugleich korrumpierten Vertreter dieser Institutionen an die Macht gekommen. Die Elitenforscherin Olga Kryschtanowskaja beschreibt die Unterwanderung der zentralen und regionalen Machtorgane durch die so genannten Silowiki, denen der zweite Tschetschenien-Krieg zum Aufstieg verholfen hat.8 Ausgerechnet mit diesem totalitär sozialisierten, aber nach dem Auseinanderfallen der Sowjetunion demoralisierten Personal will Putin seine liberalen Reformen fortsetzen. Die Silowiki sollen die oligarchischen Clans zerschlagen, die Machtvertikale stärken und das „unrechtmäßig“ privatisierte Eigentum dem „Staat“, das heißt „national denkenden“ Eigentümern mit militärischem und geheimdienstlichem Hintergrund zurückgeben. Zugleich sollen sie vom desolaten Zustand der Armee, von deren Unfähigkeit, den Tschetschenien-Krieg zu gewinnen und den Terrorismus einzudämmen, ablenken. Hinter dieser ideologischen Kulisse findet eine durchaus lukrative Umverteilung des Eigentums statt.

Kein Wunder, dass bei jedem Re-form-entwurf, der das Gute will – sei es die Abschaffung der Gouverneurswahlen, die Zusammenlegung der Regionen oder die Justizreform – das erwartete Ergebnis sich auf Orwellsche Weise in sein Gegenteil verkehrt. Daniel Kimmage erklärt ziemlich plausibel, warum die gegenwärtigen Machtverhältnisse in Russland wirkliche Reformen unmöglich machen: „Nicht der unilaterale Staat kontrolliert seine politischen Rivalen, sondern die rivalisierenden Gruppen, die ‚Bulldoggen‘, die unter dem Teppich um ein Stück Kuchen kämpfen, nutzen den Staatsapparat für ihre eigenen Ziele. Keiner von ihnen ist aber fähig, so viel davon zu kontrollieren, dass er eine kohärente Strategie entwickeln kann“.9 Die Fähigkeit des Präsidenten, autokratisch zu regieren, beruhe auf dem Konsens informeller Akteure, welche die realen Machtstrukturen prägten. Formal habe er zwar uneingeschränkte Vollmachten, sei aber nicht imstande, diese zu nutzen, weil die Entscheidungen auf der Ebene der mittleren Bürokratie im Interesse der Sondergruppen vereitelt würden. Unterdessen ist die Privatisierung der Staatsmacht so weit fortgeschritten, dass die einzelnen Interessengruppen sich imstande sehen, auch die Außenpolitik im postsowjetischen Raum in ihrem Sinne zu lenken.

Exemplarisch dafür steht Südossetien. Die Ökonomie dieser abtrünnigen Teilrepublik Georgiens beruht ausschließlich auf dem illegalen Wodka- und Waffenhandel, auf den sich die Macht der ossetischen Führung stützt. Als Saakaschwili versuchte, den Schmuggel, der Georgien wirtschaftlich zusetzt, zu unterbinden, griff Moskau dem ossetischen Präsidenten und Wodka-Tycoon Eduard Kokoity militärisch unter die Arme: gegen die nationalen Interessen Russlands, das ebenso am Schmuggel leidet, zugunsten der regionalen Mafia, die das Gebiet beiderseits der Grenze kontrolliert.

Ein noch groteskeres Spiel wurde bei den Präsidentenwahlen in Abchasien gespielt, wo der Kreml beinahe einen bewaffneten Konflikt zwischen zwei Moskau-treuen Kandidaten ausgelöst hätte. Anders gesagt: Die Korruptionskette fängt in der Region an, als Abmachung zwischen lokalen Clans und russischen Militärs, ethnischen Warlords oder anderen Powerbrokern, die einen Gönner im Kreml suchen oder haben. Die beteiligten Akteure sind an der Beilegung der Konflikte nicht interessiert; die „kontrollierte Instabilität“ im „nahen Ausland“ und in den russischen Randgebieten sichert ja gerade die Profite von Militärs, lokalen Mafias und Warlords sowie der mit ihnen liierten Moskauer Bürokraten.

Die informelle Macht

Viele Moskauer Analytiker kommen deshalb zum Schluss, dass nicht der Kreml die lokalen Feudalherrscher besteche, um ihre Loyalität zu sichern, wie es im Russischen Reich seit Jahrhunderten Brauch war, sondern gerade umgekehrt die lokalen Herrscher den Kreml für ihre Interessen missbrauchten. Aus dieser Perspektive sieht Kimmage auch die Diskrepanz zwischen den fast uneingeschränkten formalen Machtbefugnissen Putins und seiner Unfähigkeit, diese umzusetzen. „Seine Möglichkeiten, die Voll-machten zu nutzen, werden durch die allumfassende Korruption, mangelnde Effektivität und Kompetenz eingeschränkt. Das Wichtigste scheint aber zu sein, dass er nur dann autoritär handeln kann, wenn damit alle inoffiziellen Akteure, die die wahren Machtstrukturen darstellen, einverstanden sind.“

Allerdings mehren sich Indizien dafür, dass Putin von den verschiedenen Einflussgruppen für die eigenen Interessen auch in der Außenpolitik eingespannt wird: Der Schwanz wedelt mit dem Hund. So glauben etliche russische Analytiker, dass es im Fall der Ukraine dem Donezker Clan, d.h. Leonid Kutschma mit seinen Handlangern, gelungen sei, Putin zu überzeugen, dass Viktor Juschtschenko ein US-Spion sei und antirussische Politik betreiben würde. Das aufdringliche Werben für Janukowitsch und die folgenden Fauxpas verstärkten den Eindruck einer Desorientierung des Präsidenten, die entweder auf Selbstüberschätzung oder auf Fehlinformiertheit beruhte. Andererseits war es anscheinend ein leichtes Spiel, Putin gegen den „Westukrainer“ Jusch-tschenko einzustimmen, weil die Machtinteressen der ukrainischen Oligarchen mit dem Großmachttrieb des Kremls übereinstimmten.

Für Russland ist die Ukraine als eine Transitader nach Europa von außerordentlicher Bedeutung. In Sewastopol teilen sich beide Länder den größten Militärhafen am Schwarzen Meer, im Osten haben russische Geschäftsleute massiv investiert, und am liebsten möchte Moskau das Land ganz unter seine Kontrolle bringen.

Denn die Ukraine ist für Russland auch ein Teil seiner historischen Mythologie: das vormongolische Kiew gilt als Geburtsstätte der russischen Nation. Die Vorherrschaft in der Ukra-ine ist eine raison d’être der russischen Großmacht, die unter Putin wieder eine identitätsstiftende Rolle spielt. Entfernt sich Kiew von Moskau, wird es wirklich demokratisch regiert und rückt damit näher an Europa heran, verliert der Großmachtanspruch jede Glaubwürdigkeit und Attraktivität in den Augen der Bevölkerung. Die Verwestlichung der Ukra-ine würde Russland mit seinem bürokratisch-autoritären Regime endgültig isolieren und bloßstellen, ja die Legitimität solcher Regime überhaupt ins Wanken bringen.

Die Rückschläge im postsowjetischen Raum, insbesondere in der Ukraine, führten bislang nicht zur politischen Ernüchterung des Kremls, weder in der Innenpolitik noch beim Umgang mit den Nachbarländern. Im Gegenteil, die Einsicht in die veränderten weltpolitischen Realitäten würde eher als Manifestation der Schwäche und als Gesichtsverlust wahrgenommen und aggressive Abwehrreaktionen nach sich ziehen. Jeder im Kreml, kommentiert etwa der Militäranalytiker Pavel Felgenhauer, glaube, dass in der Ukraine eine „typisch amerikanische Sonderoperation für den Regimewechsel durchgeführt wurde“.10 Sie sei von den Agenten der EU und OSZE sanktioniert und unterstützt worden. Aus diesem Grund „wollen wir uns in die europäischen Institutionen nicht integrieren, denn Russland will den Weg der Ukraine und Georgiens nicht gehen und den vom Westen organisierten Regimewechsel über sich ergehen lassen“. Wahrhaftig: „Wenn wir die Ukraine verlieren“, hat einst Lenin gesagt, „verlieren wir den Kopf“. Ein unter Putin besonders akut gewordenes Problem scheint die eklatante Inkompetenz der Regierungsämter zu sein, die über Beziehungen besetzt oder schlicht gekauft werden. So hat die notorisch dysfunktionale Regierung mittlerweile ein Niveau der Unfähigkeit und Verantwortungslosigkeit erreicht, das das Regieren nahezu unmöglich macht.

Man hat zuweilen den Eindruck, die Reaktion der russischen „Elite“ ähnele der islamistischen Haltung in der Auseinandersetzung mit dem Westen: dieselbe Ignoranz, dieselbe Unfähigkeit, eigene Fehler einzugestehen und Verantwortung zu übernehmen. Der gemeinsame Nenner dafür scheint weniger die „orientalische“ Mentalität als die Erfahrung des kontinuierlichen Scheiterns zu sein.

Russische Identitätsprobleme, Neid und Missgunst gegenüber dem zivilisatorisch erfolgreichen Westen, Verachtung und Einschüchterung kleiner Nachbarvölker, die bei jeder Gelegenheit den Großen Bruder „verraten“, liegen der russischen politischen Kultur zugrunde. Das Ende des Sozialismus hat daran nichts geändert. Durch das abermalige Scheitern der Modernisierung bekommt diese Einstellung immer neue Nahrung. Nun ist der Westen daran schuld, dass es in Russland wieder nicht geklappt hat. Zugleich will es von ihm respektiert und akzeptiert werden, aber ohne sich dafür anstrengen zu müssen und unter Berücksichtigung der antiquiert verstandenen „nationalen Interessen“ aus dem Arsenal der Kabinettspolitik des 19. Jahrhunderts. Russland hat sichtlich Mühe, zu sich zu kommen, seine Grenzen und seine Identität zu definieren.

Dabei ist das Festhalten an der Großmachtpolitik für Russland selbstmörderisch. Moskau ist es nicht gelungen, Tschetschenien zu befrieden, und der Konflikt ist auf die benachbarten kaukasischen Republiken übergesprungen. Es verfügt zwar über ein gewaltiges Territorium, aber der demographische Niedergang und die Gesundheitskrise lassen die Bevölkerung schrumpfen. Schon jetzt fehlen der Industrie Arbeitskräfte, was ein stabiles Wirtschaftswachstum behindert. Die Elite, die vor diesem Hintergrund Ressourcen in die Destabilisierung der Nachbarstaaten investiert, handelt verantwortungslos. Die Herausforderungen Russlands liegen nicht im Westen, sondern im Inneren des Systems. Kein Wunder, dass der Westen Mühe hat, Russlands politische Agenda zu verstehen.

Ukraine als Menetekel für Russland

Der Erfolg der Opposition bei den Wahlen bringt Verschiebungen der Machtgewichte mit sich, bedeutet aber vorerst weder das Ende der Oli-garchen noch die Stärkung des Rechtsstaats. Die dramatische Korruption der Staatsämter, insbesondere auf unterer Ebene, wo die Bürger mit dem Staat am meisten zu tun haben, ist schwer auszurotten. Ebenso unklar ist, welche Lösung für die Integration des russischsprachigen Ostens gefunden wird. Ob es der Ukraine gelingt, den langen Marsch in Richtung europäische Institutionen anzutreten, ist völlig offen. Fest steht allerdings, dass der demokratische Wandel einen starken Einfluss auf Russland ausüben wird, und zwar auf zwei sich ausschließende Weisen.

Russland ohne Ukraine als Satellit müsste endlich seine Großmachtreflexe zügeln und Konflikte mit den Anrainerstaaten im Sinne des internationalen Rechts beilegen. Bei der Lösung des Problems Tschetschenien sollte es die Hilfe internationaler Vermittler nicht scheuen. Allerdings wäre auch ein entgegengesetzter Ruck denkbar, nämlich dem Westen den Rücken zu kehren und ein zweites Weißrussland zu werden. Solange Putin an der Macht ist, scheint diese Wende unwahrscheinlich. Aber die P-Frage steht schon im Raum. Der erbitterte Machtkampf in den postsowjetischen Staaten hat damit zu tun, dass er dem Kampf ums Überleben gleichkommt: Wer verliert, landet hinter Gittern. Die Silowiki, die Putin an die Macht geholt hat, lassen sich nicht so leicht klein kriegen. Die Ukraine erscheint deshalb wie ein Lackmustest für mehrere denkbare Entwicklungswege im postsowjetischen Raum. Entschieden ist da noch nichts.

1 The Guardian, 26.11.2004.

2 The Guardian, 7.12.2004.

3 The Washington Post, 1.12.2004.

4 Moskowskij Komsomolez, 1.12.2004.

5 The Guardian, 2.12.2004.

6 Zbigniev Brzezinski: The Grand Chessboard: American Primacy and it‘s Geostrategic Imperatives, New York 1998.

7 Kommersant, 8.12.2004.

8 Olga Kryschtanowskaja: Anatomie der russischen Elite. Die Militarisierung Russlands unter Putin, Köln 2005.

9 Daniel Kimmage: Why the conventional wisdom about Russia is wrong, 1.10.2004, www.inthenationalinterest.com

10 The Moscow Times, 7.12.2004.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar 2005, S. 84 - 90.

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