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01. Jan. 2007

In der Falle des Fremdenhasses

Aggresiv ausläderfeindlich: Russlands neuer Nationalismus gefährdet seine Zukunft

Erst jetzt, 15 Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, entwickelt sich ein nachholender russischer Nationalismus, der mit massiver Ausländerfeindlichkeit einhergeht. Er wird von den russischen Eliten skrupellos instrumentalisiert und bedroht die demographisch ausgelaugte, überalterte und frustrierte Gesellschaft existenziell.

In den neunziger Jahren wurden die russischen Zustände gelegentlich mit „Weimar“ verglichen: Man fürchtete, der Sieg des Westens über die kommunistische Supermacht und deren Zerfall sowie die dramatische Verarmung der Bevölkerung würden Revanchegelüste wecken und den Boden für Faschismus bereiten. In Wirklichkeit registrierten die Meinungsforscher bis in die Mitte der neunziger Jahre derartige Tendenzen nicht. Das russische Paradoxon bestand darin, dass es ausgerechnet die Bevölkerungsmehrheit – die Russen – waren, die sich im Vergleich zu den Minderheiten als toleranter und versöhnlicher entpuppten. Und das, obwohl sie sich mit dem erwachten Ethnonationalismus der Minderheiten konfrontiert sahen, der im Hass gegen die gestrige „Kolonialmacht“ in Erscheinung trat.

Auf die stürmischen Prozesse des Nation Building konnten die Russen ihrerseits nicht mit ethnopolitischer Mobilisierung reagieren: Die ethnische Aporie der Russen wurde objektiv durch die Konstruktion der Russländischen Föderation mit ihren vielen Minderheiten und autonomen Republiken genährt, die einen höheren Status erhielten als die russischen Föderationssubjekte selbst. Salopp gesagt konnten die Russen diese Völker unmöglich loswerden, um einen russischen Nationalstaat zu errichten. Angesichts der „Parade der Souveränitäten“ fand sich die Bevölkerungsmehrheit also weder in einem Imperium noch in einem Nationalstaat wieder. Der sowjetische symbolische Raum – das Sowjetvolk – war zerfallen, die ethnische Selbstidentifikation funktionierte bei den Russen aber noch nicht.

Erst nach der Wirtschaftskrise von 1998, nach einer Serie von Terroranschlägen in russischen Städten und nach der „Mobilisierung“ im zweiten Tschetschenien-Krieg war ein stabiler Anstieg zunächst der antitschetschenischen Stimmung zu beobachten. Seitdem werden in den Umfragen verschiedene Formen von Feindseligkeit gegenüber anderen Nationalitäten bei zwei Dritteln der Befragten regis-triert.1 Das Bedürfnis nach einer „starken Hand“, die das Chaos beenden und die Schmach der Niederlage aufheben könnte, bescherte Putin über Nacht eine ungeahnte Legitimation. Auch im Westen sah man in ihm jene „starke Hand“, die dem angeblichen Auseinanderfallen Russlands und damit der Gefährdung internationaler Sicherheit Einhalt gebieten konnte.

Nach dem 11. September 2001 fand angesichts der Bedrohung durch den islamistischen Terrorismus wieder ein engerer Schulterschluss zwischen dem Westen und Russland statt. Vor diesem Hintergrund ist es Putin gelungen, den Tschetschenien-Krieg in einen Antiterrorkampf umzumünzen – und ihn so von der internationalen Agenda zu nehmen. Zudem haben die explodierten Ölpreise es dem Kreml ermöglicht, sich für die durch den Westen erlittenen Erniedrigungen zu revanchieren. Die Erfahrung des Scheiterns und des Zerfalls, der Unterlegenheit und Abhängigkeit vom siegreichen Westen machte einem neuen Selbstbewusstsein Platz: Eine neue Energiegroßmacht ist entstanden, die nun der Welt ihre Bedingungen diktieren will und die bereit ist, ihre Einflusssphäre offensiv zu verteidigen.

Das Erwachen des Großen Bruders

Die „Emanzipation“ der politischen Elite vom Westen ging einher mit aggressiver Xenophobie, die so gut wie alle Bevölkerungsschichten erfasst hat. Ethnische Intoleranz, Ängste vor Migranten und Feindseligkeit, behaupten Meinungsforscher, machen Russland zu einem der fremdenfeindlichsten Staaten Europas und Moskau zur fremdenfeindlichsten Metropole der Welt.

Das „alltägliche Plebiszit“ verweigert nun den Minderheiten die Zugehörigkeit zur Nation: Ungefähr 60 Prozent der Befragten befürworten die Losung „Russland den Russen“, und die gleiche Anzahl fordert nach den Umfragen des -Levada-Zentrums privilegierten Zugang zu Arbeits- und Studienplätzen für ethnische Russen. Den Zugezogenen sollte die Einstellung im öffentlichen Dienst (53 Prozent), in der Staats- und Selbstverwaltung (69 Prozent) und in den Rechtsschutzorganen (74 Prozent) verwehrt bleiben. Die Russen möchten auch nicht, dass die Migranten Geschäfte machen, Großunternehmen (65 Prozent) oder Grundbesitz (74 Prozent) erwerben.2

Das Ausmaß der erwünschten Exklusion von Minderheiten erinnert an die gesetzlichen Einschränkungen für die „Fremdstämmigen“ und insbesondere für die Juden im Zarenreich. Die Diskriminierung der Juden, angefangen von Ansiedlungsgebieten, hatte zum Ziel, die Mehrheit der Bevölkerung und die träge Handelsklasse vor der „Ausbeutung“ durch die betrügerischen und gerissenen „Blutsauger“ (Dostojewski) – anders gesagt, vor dem Kapitalismus – zu schützen. Die paternalistische Zarenmacht sah darin ihre wichtigste Pflicht gegenüber ihren Untertanen. Die Hierarchie der Volksgruppen, in der die orthodoxe Titularnation, also die Russen, als eine rechtlose, aber reichstragende Säule stand, wurde auch in der Sowjetunion – bei aller formalen Gleichberechtigung und propagiertem „Internationalismus“ – aufrechterhalten. Nach dem Zerfall der Sowjetunion ging diese Hierarchie in die Brüche. Die Ergebnisse der Umfragen lassen vermuten, dass die Bevölkerungsmehrheit die Wiederherstellung der sowjetischen Hierarchie der Völker, in der den Russen der Vorrang vor allen anderen Völkern im Staat gebührte, wieder herbeiwünscht.

Kein Wunder, dass eine derartige Stimmungslage – bei allgemeiner Passivität der Bevölkerung – eine „negative Zivilgesellschaft“ zu Tage fördert, die sich dem Schutz des russischen Volkes verschrieben hat. Gab es 1991 im Land nur ein Dutzend Rechtsextremisten, zählte man 2004 schon 33 000 organisierte Neonazis.3 Die Dunkelziffer scheint jedoch viel höher zu sein. Jedenfalls gesteht das Innenministerium, dass beim gegenwärtigen Wachstumstempo das Kontingent der gut organisierten und vernetzten Rechtsradikalen die Zahl der Milizionäre erreichen könnte.4 Wenn man in Betracht zieht, dass die Miliz selbst eine überdurchschnittlich hohe Fremdenfeindlichkeit aufweist, haben die Skinheads nichts von ihr zu fürchten. Allerdings wird die Reserve der aktiven Unterstützer der Losung „Russland den Russen“ auf 17 Millionen Menschen geschätzt.5 Die Ideologie der russischen Ethnokratie teilen Vertreter verschiedener Parteien von links bis rechts, und die Hälfte der vor 15 Jahren noch demokratischen Wähler outet sich inzwischen als Verfechter des russischen „Sonderwegs“.

Globalisierung auf Russisch

Die Abwehrreaktionen gegen den wachsenden Migrationsdruck sind keine russische Eigenart. In ganz Europa wächst die Fremdenfeindlichkeit, die von den populistischen Parteien instrumentalisiert wird. Neben der Verunsicherung durch den islamistischen Terrorismus nährt den Boden dafür auch die sozioökonomische Situation: die Krise des Sozialstaats, die Abwanderung der Arbeitsplätze in die Billiglohnländer, die grassierende Deindustrialisierung bei wachsender Einwanderung eines „Subproletariats“ aus Afrika und aus dem Nahen Osten; dies alles vor dem Hintergrund der Überalterung der Bevölkerung. „Xenophobie ist das Syndrom einer stagnierenden Gesellschaft, die keine Autoritäten und Zukunftshoffnungen hat.“6

Ähnlich wie die EU sieht sich Russland mit zwei dramatischen Herausforderungen konfrontiert: der Schrumpfung und Überalterung seiner Bevölkerung einerseits und der Zuwanderung andererseits. Wegen seiner schieren Größe und der dünnen Siedlungsdichte (mit Ausnahme Südrusslands und des Kaukasus), seines Rohstoffreichtums und unruhiger Nachbarschaften gewinnen diese Probleme in Russland jedoch an weltpolitischer Brisanz. Die Migration, so viele Demographen, wird über Russlands Zukunft entscheiden: Von der Bewältigung dieser Aufgabe hängen das Tempo des Wirtschaftswachstums, der Lebensstandard, regionale Entwicklungsproporze, die Größe des Landes und sein Zusammenhalt ab.7

Zwischen 1992 und 2002 schrumpfte die Bevölkerung Russlands, ungeachtet der gestiegenen Zuwanderung aus den ehemaligen Sowjetrepubliken, von 148,3 Millionen auf 145,2 Millionen; bis Ende 2005 sank sie um weitere 1,7 Millionen Menschen, was einem Rückgang von 3,2 Prozent entspricht.8 Der natürliche Rückgang zwischen 1992 und 2004 lag bei 10,5 Millionen Menschen. Wenn es in diesem Tempo weitergeht, kann die russische Bevölkerung bis Mitte des 21. Jahrhunderts auf eine Zahl von 100 Millionen schrumpfen: Die Bedrohung der Depopulation scheint realistisch zu sein.9

Bislang betrafen diese Prozesse jedoch nicht die arbeitsfähigen Altersgruppen. Ab 2007 soll sich das ändern. Liegt der natürliche Rückgang der arbeitsfähigen Altersgruppen 2007 bei 300 000, wird er zwischen 2010 bis 2018 eine Million Menschen jährlich übersteigen, sodass bis zum Jahr 2026 die Zahl der arbeitsfähigen Russen auf 18 Millionen schrumpfen wird.10 Arbeitskräfte werden schon heute händeringend gesucht;  in den kommenden Jahren werden sie zur absoluten Mangelware werden.

Der vollständige Ersatz dieser Verluste durch Zuwanderer würde die Einwanderung von 25 Millionen Migranten erfordern. Diese Zahl wäre selbst bei liberaler Migrationspolitik nicht zu erreichen. Und es spricht wenig dafür, dass selbst die Hälfte dieses Bedarfs jemals gedeckt werden könnte – zum einen, weil die Migration schon heute zum politischen Zündstoff geworden ist, zum anderen, weil das Migra-tionspotenzial der GUS-Länder fast erschöpft ist. Selbst optimistische Einschätzungen gehen davon aus, dass sie an Russland höchstens sechs bis sieben Millionen Menschen abgeben könnten.

Seit 1989 hat Russland 6,9 Millionen erzwungene Migranten, Flüchtlinge und Umsiedler aus den ehema-ligen Sowjetrepubliken aufgenommen.11 Zwei Drittel von ihnen waren überdurchschnittlich gut ausgebildete ethnische Russen und Russischsprachige, die in Kasachstan und in Mittelasien als „Kolonialelite“ – d.h. Verwaltungs- und Bildungskader – fungiert hatten. Die Hälfte dieser Russen kam aus Kasachstan, hauptsächlich infolge der dramatischen Wirtschaftskrise, die dort nach dem Zerfall der Sowjetunion ausgebrochen war. Heute ist Kasachstan ein „asiatischer Tiger“ mit hohem Wirtschaftswachstum. Die Russen haben keinen Grund mehr, aus Kasachstan auszuwandern. Manche der damals Ausgewanderten kehren sogar in der Hoffnung auf eine sinnvolle Beschäftigung zurück.

Auch das Potenzial des Transkaukasus, wo jede dritte Familie bereits einen Migranten in Russland hat, ist erschöpft.12 Es bleiben Mittelasiaten, überwiegend die ländliche Bevölkerung, die den -Russen kulturell besonders fremd sind. Die Vorstellungen vom angeblichen Vormarsch der Chinesen scheinen auch übertrieben zu sein: Demographische Studien haben ergeben, dass sich gegenwärtig in Russland nicht mehr als 500 000 Chinesen aufhalten.13 Entgegen den Phobien, die die russischen Medien auf Geheiß der Politiker schüren, wandern die meisten Chinesen aus den Grenzgebieten nicht in die wirtschaftlich schwachen Regionen des Fernen Ostens und Sibiriens, sondern in den chinesischen Süden aus. Der Großteil der chinesischen Russland-Migranten zieht in die zentrale europäische Region, in das boomende Moskau-Gebiet. Dennoch werden Chinesen in Zukunft fast das einzige potenzielle Arbeitskräftereservoir für die russische Wirtschaft sein.14 Der Bedarf an einem demographischen Ausgleich, der die negativen Folgen der Entvölkerung und des Mangels an Arbeitskräften auffangen könnte, kollidiert  mit der ablehnenden Haltung der Bevölkerung gegenüber den Migranten.

Russland den Russen?

Der verspätete russische Nationalismus ist eine aufgeschobene Reaktion auf den Zerfall der Sowjetunion; er ging einher mit den Veränderungen im politischen Regime, im Wirtschaftssystem und in der Staatsordnung. Für die meisten Russen war dies eine „traumatische Transformation“ (Piotr Sztompka), die bei Millionen von Menschen zum Verlust von sozialem Status, von „Ressourcen“ und von Identität führte. Wie bei zahlreichen ethnischen Minderheiten war auch die russische Antwort auf die Identitätskrise des „Reichsvolks“ die Konsolidierung in  organischen, „primordialen“ Einheiten. Die Folge waren der Zerfall der Gesellschaft entlang ethnischer und konfessioneller Linien und eine negative ethnische Solidarisierung.15

Die ethnische Segmentierung findet vor dem Hintergrund extremer sozialer Ungleichheit beim Wegfall sozialer Leistungen wie kostenloser Medizin und kostenloser Bildung statt. Gerade weil der Wohlstand infolge des Wirtschaftswachstums steigt, mit ihm aber auch die Konkurrenz um den „Platz an der Sonne“ und den sozialen Status zunimmt, wird die Gesellschaft von massivem Sozialneid heimgesucht. Der Unterschied zwischen dem Durchschnittseinkommen von Reichen und Armen – Reiche verdienen im Schnitt 26-mal so viel – ist einer der höchsten der Welt. Dass der dramatische Anstieg der Xenophobie primär sozioökonomische Ursachen hat, zeigen die Umfragen.

Obwohl zwei Drittel der Bevölkerung sich als fremdenfeindlich outen, hat die „Vorherrschaft“ der Migranten keine Priorität in der Reihe der Sorgen, die die russische Gesellschaft plagen. Auf den ersten Plätzen stehen wachsende Haushaltskosten, katastrophale Zustände im Gesundheitswesen, mangelnde Serviceleistungen der kommunalen Dienste, Korruption der Behörden und Miliz. In abnehmender Reihenfolge sind die Russen mit den hohen Mieten (46 Prozent), Alkoholismus (37 Prozent), Inflation (36 Prozent) und der medizinischen Versorgung (32 Prozent) unzufrieden. Erst auf dem 20. von 25 Plätzen rangieren Probleme mit Migranten (fünf Prozent).16

Vergleicht man diese Ergebnisse mit den Umfragen zur Fremdenfeindlichkeit, liegt der Schluss nahe: Die Migranten fungieren als klassischer Sündenbock, auf welche die soziale Wut umgeleitet wird. Tatsächlich könnte die Diskrepanz zwischen der sozialen Passivität der Bevölkerung – etwa der relativ niedrigen Zahl der sozialen Proteste, an denen hauptsächlich Rentner teilnehmen – und den wachsenden fremdenfeindlichen Aktivitäten der Jugend nicht höher sein.

Unbestritten gibt es in Russland ein „Migrantenproblem“. Seit die bewaffneten Konflikte auf dem Gebiet der Ex-Sowjetunion 1995 eingefroren wurden, ist eine Wirtschaftsimmigration nach Russland in Gang gekommen, die – legal wie illegal – zahlreiche Tadschiken, Transkaukasier, Armenier, Aseris und Georgier ins Land brachte.17 Die Tadschiken, die hauptsächlich als ungelernte Arbeitskräfte von Bauunternehmen angeheuert werden, stehen in der Hierarchie der Einwanderer ganz unten. Die Trans- und Nordkaukasier gehören zu den so genannten Handelsminderheiten. So kontrollieren die Aseris praktisch alle Basare und sind deshalb besonders exponiert. Der „Reichtum“ der Migranten, die in den verödeten Kleinstädten Cafés betreiben und auf den Märkten Südfrüchte verkaufen, wird immer wieder als Grund für den Fremdenhass genannt. Der typische Konflikt zwischen „Merkuriern“ und „Apolloniern“ (Yuri Slezkine),18 also zwischen der Händler- und der Bauernmentalität, die immer wieder zu Pogromen führte, spielt sich in Russland zwischen der trägen, frustrierten Bevölkerungsmehrheit und den „erfolgreichen“ Migranten aus dem Kaukasus ab.

Die Privatisierung der staatlichen Institutionen schuf eine unübersichtliche Gruppe von Akteuren, die aus dem Konfliktpotenzial der Einwanderung Kapital zu schlagen wissen. Zu dieser Gruppe gehören föderale und regionale Machteliten, Miliz und jene Unternehmer, die Migranten beschäftigen. Sie alle sind daran interessiert, ein liberales Einwanderungsgesetz zu verhindern oder auszuhebeln, um eine vogelfreie Manövriermasse an Migranten für ihre jeweiligen Sonderinteressen zur Verfügung zu haben. Politiker ebenso wie die Miliz, die den zugewanderten Händlern ihren „Schutz“ aufzwingen, bereichern sich an den „Kaukasiern“ und haben diese zugleich als Bauernopfer parat, um von der eigenen Korruption und Inkompetenz abzulenken. Dabei stellt der teuer bezahlte Schutz der Miliz die „Kaukasier“ außerhalb des Gesetzes. Die strukturelle Kriminalität der Migranten, von der Miliz und Behörden profitieren, empfindet die Bevölkerung als Bedrohung. Immer wieder entladen sich Konflikte zwischen Einheimischen und Zugezogenen in Massenschlägereien. In erhitzten Konfliktsituationen (wie Anfang September 2006 in Kondopoga/Karelien) bleibt die Miliz oft tatenlos oder agiert zu spät, was bei der Bevölkerung das Gefühl der Ohnmacht noch steigert.19

Das Versagen der Macht führt zu Aktionen zivilen Ungehorsams, die in Forderungen gipfeln, Tschetschenen, Zigeuner, Aseris oder wen auch immer zu vertreiben. Dabei treten oft Organisationen auf den Plan, die sich als einzige Beschützer der gebeutelten Russen aufspielen. In Kondopoga war es die „Bewegung gegen die illegale Migration“ (BGIM) von Alexander Below, der am nächsten Tag aus Moskau eingereist war und die versammelte Menge zum Pogrom aufstachelte. Überaus interessant sind Verquickungen zwischen staatlichen Baubehörden, Bauunternehmen und rechtsradikalen Gruppierungen. Nach einer journalistischen Recherche lässt man illegale Migranten, die ohne Anmeldung in den unternehmenseigenen Wohnheimen untergebracht werden, zwei oder drei Monate umsonst arbeiten und setzt sie dann mit Hilfe von Rechtsradikalen auf die Straße.20 Ungeachtet ihrer „hohen Motivation“ müssen die Schlägertrupps entschädigt werden. Dies geschieht in Form von Firmenbeteiligungen ihrer Anführer. So entpuppte sich Alexander Below als Besitzer einer Reihe von Aktiengesellschaften, die im Baubereich tätig sind. Ihm wird eine besondere Nähe zum Großunternehmen Mirax nachgesagt, das als Hauptauftragsnehmer der Moskauer Stadtregierung an der Errichtung der Moskauer City teilnimmt. Die Verbindung zwischen Baufirmen und Extremisten sei offensichtlich, behauptet eine Gewerkschafterin. Letztere würden als Schlägertrupps gegen widerspenstige Arbeiter eingesetzt.

Unterdessen ist die „ethnische Karte“ zum probaten Mittel geworden, die Unzufriedenheit der Bevölkerung mit Korruption und sozialen Problemen in Ausländerhass umzulenken. Das Besondere an der russischen Situation ist dabei nicht nur der Rückfall in puren, ethnisch gefärbten Sozialdarwinismus; in Russland gibt es kaum Eliten und Institutionen, die dem fremdenfeindlichen Ruck entgegenwirken. Im Gegenteil: Politiker und Massenmedien scheinen ununterbrochen Öl ins Feuer zu gießen.  Die Massenmedien schüren Ängste und Abscheu vor Migranten und kreieren das Bild eines „gefährlichen Fremden.“21 Bei der Verbreitung dieser Hetze steht ihnen das Innenministerium bei, das von der angeblich überbordenden Ausländerkriminalität berichtet. Hinter vorgehaltener Hand gestehen jedoch die Vertreter der Miliz, dass die ethnische Kriminalität nicht höher sei als die einheimische und die höchsten Kriminalitätsraten auf das Konto der russischen „Migranten“ vom Lande gingen.22

Der britische Politologe Andrew Wilson  hat darauf hingewiesen, dass sich in Russland seit der Zarenzeit die  Praxis etabliert hatte, quasi „oppositionelle“ Gruppen von oben zu kreieren, um die wahre Opposition zu verhindern oder zu diskreditieren.23 Berühmt für ähnliche „Sonderoperationen“ war auch die sowjetische Geheimpolizei. Dieser Tradition schloss sich der KGB an, als er in den achtziger Jahren die antisemitische Gesellschaft „Pamjat“ ins Leben rief und während der Perestroika die so genannte Liberal-demokratische Partei von Wladimir Schirinowskij aus der Taufe hob. Während der letzten Parlamentswahlen trat die nationalistische Partei „Heimat“ von Dmitrij Ragozin auf den Plan. Diese Kreml-Kreatur sollte einerseits nationalistische Stimmungen auffangen, andererseits die Regierungspartei und Putin als gemäßigte Kraft und eventuell als „minderes Böses“ erscheinen lassen. Man wollte Xenophobie fördern und sie zugleich kontrollieren. Im Ergebnis musste der Kreml immer populistischer handeln.

Nach dem Konflikt mit dem georgischen Präsidenten Saakaschwili hat Putin den Ethnozentrismus eigenmächtig sanktioniert. Er führte den Begriff der „angestammten“ (autochtonen) Bevölkerung ein, der mehr Rechte zustünden als den „Zugezogenen“ und hob dadurch den „Bürger“ auf. Er hat die Einführung der ethnischen Quoten für Basare verordnet und  über die Schließung der georgischen Kasinos verfügt. Dass der Präsident sich mit Basaren beschäftigt, zeigt das Ausmaß der Deinstitutionalisierung, die er selbst auf die Spitze getrieben hat. Kontrollieren kann er seine Klientel aber nicht: Der Zar herrscht, aber er regiert nicht. Die Schikanen gegen die Georgier, die zum Teil russische Staatsbürger sind, dauern in einigen Regionen immer noch an.24 Die nationalistischen Organisationen verschiedener Couleur, Skinheads und Neonazis haben nun das Gefühl, sie werden im Kreml endlich gehört und tun nichts anderes, als dessen Vermächtnis umzusetzen.

Das Chaos der neunziger Jahre, das angeblich durch die „starke Hand“ und dank des Wirtschaftswachstums beseitigt worden ist, meldet sich vor dem Hintergrund des wachsenden Wohlstands in den verschärften sozialen und ethnischen Konflikten zurück. Denn man kann mit dem Öl und Gas Stabilität fördern, man kann aber auch das Öl ins Feuer gießen, was Putin nun vor Augen führt.

Angesichts der wachsenden Fremdenfeindlichkeit und der Instrumentalisierung der Migranten in der Außenpolitik fragen sich viele Analytiker, ob Russland schon „so weit“ ist: ob der „Vor--Pogrom-Zustand“ in ein faschistisches Regime mutieren kann. Die Anderen wittern das jugoslawische Szenario: ein Auseinanderfallen Russlands entlang der ethnischen Grenzen, das von ethnischen Säuberungen begleitet würde. Diese Ängste sind nicht unberechtigt, zumal die gegenwärtige Führung – die unideologische und zynische Kreml-Kleptokratie und ihre regionalen Klone – sich unfähig zeigen, sich den ethnischen Konflikten zu stellen. Allerdings ist es wenig wahrscheinlich, dass Faschisten mit der Losung „Russland den Russen“ an die Macht gelangen, wenn aber doch, würden sie kaum imstande sein, mehr als Pogrome und Vertreibungen anzustiften, welche aber nicht unerwidert blieben. Denn auch in vielen autonomen Republiken, ob im Kaukasus oder in Sibirien, benehmen sich die „Titularnationen“ wie ein Großer Bruder und diskriminieren die Russen oder andere Minderheiten. Die Minderheiten, selbst Tschetschenen, sind nicht immer Opfer, obwohl sie als Menschen oft Leidtragende ihrer ethnischen Solidarität werden.

Tatsache ist, dass die nationale Zwietracht, die teils wegen der Inkompetenz und Korruption der Machthaber, teils als Element unbedarfter populistischer Ersatzpolitik gesät wird, Russland immer weiter von soziopolitischer Modernisierung abbringt. Sie lässt das Konfliktpotenzial  wachsen und das menschliche Potenzial verkümmern. Das Land scheint sich nun um die Chance zu bringen, die durchaus integrationswilligen Einwanderungsgruppen zu integrieren. Es stellt sich außerdem die Frage, ob es sich auf Dauer die zermürbende Zwietracht ordnungspolitisch leisten kann. Dennoch wird Russland ein Einwanderungsland bleiben müssen. Interessen der Industrie an der Arbeitskraft sowie Korruptionsgewinne der lokalen Bürokratie sind ein allzu starker Anreiz, um den extremistischen Forderungen nachzugeben. Denn aus demographischer Sicht bedeutet „Russland den Russen“ in vielen Regionen einfach ein leeres Land.

Vor dem Hintergrund der zermürbenden Fremdenfeindlichkeit werden schmerzhafte naturwüchsige Prozesse eines demographischen Ausgleichs, der Landnahme durch die Migranten, die eine Vermischung der Bevölkerung fördern, stattfinden. Ein „Migranten-freies“ Russland kann man sich kaum vorstellen. Dass ein demographisch derart erschöpftes Volk einen hohen Preis auch für die ethnischen Konflikte zahlen wird, scheint  in die russische Kultur der Selbstzerstörung zu gehören, die die strahlenden Perspektiven der Energiegroßmacht so trübt.

SONJA MARGOLINA, geb. 1951 in Moskau, lebt als freie Publizistin in Berlin. Sie ist Autorin mehrerer Bücher über Russland, darunter „Das Ende der Lügen. Russland und die Juden im 20. Jahrhundert“ (1992) und „Wodka. Trinken und Macht
in Russland“ (2004).

  • 1Juri Levada: Chelovek sovetskij: chetvertaja volna, Vestnik obschestvennogo mnenija, 3/2004, S. 10.
  • 2Lev Gudkov: Predpogromnoje sostojanije, Kommersant, 8.9.2006.
  • 3Tolerantnost protiv ksenofobii, Akademia Moskva 2005, S. 139.
  • 4Ebd., S. 140.
  • 5Ebd., S. 140.
  • 6Fond „Liberalnaja missija“: Nuzhny li migranty rossijskomu obschestvu?, Moskau 2006, S. 76.
  • 7Ebd., S. 11.
  • 8 Ebd., S. 7.
  • 9Ebd., S. 9.
  • 10Ebd., S. 9.
  • 11Wladimir Mukomel: Migracionnaja politika Rossii, Institut Sociologii RAN, Moskau 2005, S. 50.
  • 12Nuzhny li migranty (Anm. 6), S. 25.
  • 13V. G. Gelbras: Rossija v uslovijah globalnoj kitajskoj migracii, Moskau 2004, S. 36.
  • 14G. A. Zajontchkovskaja: Kitajskaja immigracija cherez prizmu rynka truda, Rossijskij demographicheskij jurnal, 8/1998, S. 12–18.
  • 15Tolerantnost protiv ksenofobii (Anm. 3), S. 145.
  • 16Vedomosti, 24.10.2006.
  • 17Mukomel (Anm. 11), S. 63.
  • 18Yuri Slezkine: Das jüdische Jahrhundert, Göttingen 2006.
  • 19polit.ru, 22.9.2006.
  • 20 Alena Agapova, polit.ru, 20.10.2006.
  • 21Mukomel (Anm. 11), S. 82.
  • 22Ebd., S. 85–86.
  • 23Andrew Wilson: Virtual Politics. Faking Democracy in the Post-Soviet World, Yale University Press 2005.
  • 2424 Novaya Gazeta, 27.11.2006.
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar 2007, S. 106 - 115.

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