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01. März 2010

Linksruck als Ladenhüter

Lateinamerika, wo der Sozialismus eine Zukunft zu haben schien

„Lateinamerika wählt konsequent links“, hieß es noch vor zwei Jahren im deutschen Feuilleton. Und heute? Hugo Chávez hat an Popularität eingebüßt, Mexiko, Kolumbien, Peru, Chile, Honduras werden konservativ regiert, und auch die Beispiele Brasilien und Argentinien zeigen: Für die Idee des Sozialismus hat Südamerika als Kontinent der Hoffnung ausgedient.

Es gibt politische Gestalten, deren Zählebigkeit ganze Epochen überdauert. Ramiro Valdés gehört sicherlich zu ihnen. Der einstige Studentenführer an Havannas von wildem Gangstertum geprägter Universität, der mit Fidel und Raúl Castro 1953 beim gescheiterten Anschlag auf die Moncada-Kaserne dabei war und drei Jahre später auf der Yacht Granma aus dem mexikanischen Exil zurückkehrte, ist der letzte der legendären „Barbudos“ – jener Handvoll Bärtiger, die von Anbeginn den Machtkern um die Gebrüder Castro bildeten. Ramiro Valdés hat Kubas militärischen Geheimdienst G2 aufgebaut, und als Innenminister stand er zwei Mal – insgesamt 17 Jahre lang – dem effizientesten Spitzel- und Polizeiapparat der westlichen Hemisphäre vor.

Während einer Periode der Scheinliberalisierung musste Valdés ins zweite Glied zurück: Mit Hilfe chinesischer und japanischer Experten baute er auf der Insel in aller Stille die Elektronik auf. Seit 2006 ist Valdés Minister für „Informatik und Kommunikation“ – und, seit Raúl Castro als Nachfolger des kranken Fidel zum Staatschef aufstieg, auch stellvertretender Ministerpräsident. Bei manchen Kubanern gilt Valdés heute als der zweitmächtigste Mann auf der Insel. Anfang Februar nun ist er zu einem längeren Aufenthalt in Venezuela eingetroffen.

Sinistre Figur

Demnächst 78, aber in blendender Verfassung, soll der Mann aus Havanna dem venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez zur Seite stehen. Der erklärte Grund ist die Energiekrise im Lande. Trotz seiner Position als fünftgrößter Ölexporteur der Welt leidet Venezuela in der jetzigen Trockenzeit unter ständigen, nervtötenden und ruinösen Stromsperren: Die Versorgung ist weitgehend von Wasserkraftwerken abhängig. Freilich verfügte das reiche Venezuela seit jeher über eine technische Elite, die der kubanischen weit voraus ist. Für die verblüffende Anwesenheit des Comandante Ramiro gibt es deshalb unter Landeskennern nur eine plausible Erklärung: seine lebenslange Erfahrung auf dem Gebiet der Überwachung, Reglementierung und Repression. Auch in seiner Pionierarbeit bei der Einführung von Elektronik und Computertechnik und später als Minister für Informatik verfolgte der Comandante vor allem ein Ziel: Kontrolle und Behinderung des Informationsflusses. Im Internet erblickt Valdés nichts als ein „wildes Pferd“, das es im Zaum zu halten gelte – wenn nicht gar das „Instrument des US-Imperiums“, das die „monolithische Geschlossenheit des kubanischen Volkes“ zu unterwühlen trachtet.

Warum braucht Hugo Chávez nach elf Jahren nahezu unumschränkter Machtausübung diese sinistre Figur an seiner Seite? Es gibt dafür mehrere Erklärungen, aber die Wichtigste ist wohl die, dass der Populist sich verunsichert fühlt. Chávez hat dank seines Mundwerks und der ihm unterworfenen Medien in all den Jahren kaum Rückschläge erlitten – in den vergangenen zwölf Monaten aber scheint ihm nichts mehr gelingen zu wollen.

Im Herbst sind in Venezuela wieder Parlamentswahlen fällig; beim letzten Mal hatte die Opposition sie boykottiert, weil sie sich gegen den „Hurrikan Hugo“ kaum Chancen ausrechnete. In diesem Jahr aber werden die abgehalfterten Politiker wieder in die Arena steigen: Chávez hat die Venezolaner dermaßen polarisiert und mit Hass vollgepumpt, dass es diesmal zu einem richtigen Wahlkampf kommen könnte – sofern der einstige Fallschirmjäger-Oberstleutnant Hugo Chávez Frías nicht seine Waffenbrüder zum Machterhalt einsetzt. Dass die Offiziersgehälter vor einem Jahr mehr als verdoppelt wurden, deutet darauf hin, dass Chávez verstärkt auf die Loyalität seiner früheren Kaste setzen muss.

Sein „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ und seine nach dem südamerikanischen Freiheitshelden Simón Bolívar „bolivarianisch“ benannte Revolution waren seit jeher geopolitisch ausgerichtet und als Exportmodell gedacht: wie vor einem halben Jahrhundert bei seinem Vorbild Fidel Castro, der nach dem Einmarsch in Havanna alsbald die Anden-Kordilliere zur Sierra Maestra Lateinamerikas erklärte. Chávez betreibt seine Geopolitik mit allerhand Erfolg: dass Bolivien, Ecuador und Nicaragua heute „antiimperialistische“ Regierungen haben, die sich zumindest der gleichen Rhetorik wie Chávez bedienen, ist teils der Inspiration, vor allem aber der Scheckbuch-Diplomatie des Venezolaners zuzuschreiben. Und dass sein Hauptverbündeter Kuba – wie prekär auch immer – wenigstens als Revolutionsmuseum stilbildend weiterwirken kann, wäre ohne die Öllieferungen aus Venezuela kaum vorstellbar.

Unpopulärer Populist

Wie kommt es dann, dass die Popularität des Populisten in ganz Lateinamerika nun rapide zu schwinden scheint? Meinungsumfragen des chilenischen Instituts „Latinobarómetro“ vom vergangenen Dezember haben in 18 Ländern des Subkontinents – auf einer Skala von null bis zehn – die beliebtesten Politiker oder Staatschefs ermittelt. In Führung liegt Barack Obama mit 7 Punkten, gefolgt vom Brasilianer Lula da Silva mit 6,4; dann kommen der spanische König Juan Carlos mit 5,9, die Chilenin Michelle Bachelet mit 5,8, der Mexikaner Felipe Calderón sowie der Costaricaner Oscar Arias mit jeweils 5,7 Punkten. Als Schlusslichter glänzen Fidel Castro mit 4 und Hugo Chávez mit 3,9 Punkten.

Angesichts der 53 Milliarden US-Dollar – teils in Öllieferungen, teils in Cash –, die der Venezolaner in den vergangenen fünf Jahren an lateinamerikanische Regierungen, Firmen, Parteien, Bewegungen, Sympathisantenzirkel oder Einzelpersonen verschenkte, und angesichts der Unsummen, die er in einen Satellitensender und in seine Imagepflege im Ausland investiert hat, stellt dieses Ergebnis für den Revolutionsführer und seine Günstlinge eine verheerende Niederlage dar. 

Nun ist dies sicher nicht allein seinem präpotenten Gehabe und seiner rabulistischen Rhetorik zuzuschreiben, die ja lange Zeit durchaus Zugkraft entwickelten. Entscheidend ist vielmehr, dass äußere Bedingungen, auf die er keinen Einfluss hat, sich letzthin verändert haben.

Vor allem ist die universale Hassfigur George W. Bush aus dem Weißen Haus verschwunden. Seither wird Washington auch „south of the border“ wieder in milderem Lichte wahrgenommen, und Hugo Chávez kann sich längst nicht mehr so effektvoll als kontinentaler Gegenspieler des US-Präsidenten aufplustern.

Ebenfalls machtlos ist Chávez gegenüber dem Ölpreis auf dem Weltmarkt. Dass der Zustrom von Petrodollars seit seinen besten Tagen stark abgenommen hat, macht sich negativ bemerkbar. Um seine sozialen Geschenke an die Massen der Armen im eigenen Land fortsetzen zu können, muss Chávez die Notenpresse auf Hochtouren laufen lassen, und auch seine Scheckbuch-Diplomatie im Ausland leidet darunter: Seine Klientel in Lateinamerika kann mit der schwächelnden Landeswährung „Bolívar Fuerte“ (starker Bolívar) nichts anfangen, sondern wünscht sich – In God We Trust – den amerikanischen Greenback.

Im Pyjama zum Flughafen

Diese veränderten Rahmenbedingungen erklären zu einem guten Teil die erste Schlappe der „bolivarischen Revolution“ in Mittelamerika. In der armen und unbedeutenden Bananenrepublik Honduras wurde Ende Juni 2009 die scheinbar unaufhaltsame Erweiterung der Einflusszone von Hugo Chávez abrupt gestoppt. Seit mindestens einem Jahr war dort unübersehbar, dass der honduranische Präsident Manuel Zelaya – durchaus ein Repräsentant der reichen Oberschicht – mit Hilfe des Sugardaddy aus Caracas das Parlament aushebeln und die Verfassung (die eine Wiederwahl verbietet) per Blitzreferendum ändern wollte. Um sich für eine weitere Amtszeit oder gar – wie Chávez – auf Lebenszeit an der Macht zu halten, war Zelaya auf rhetorischen Linkskurs gegangen, hatte die Mindestlöhne verdoppelt und unhaltbare Wahlversprechen gemacht. Für die Beherrschung der Straße und einen plebiszitären Umsturz setzte er auf besoldete Agitatoren und die logistische Unterstützung aus Venezuela – mit eilig einzufliegenden, womöglich vorgefüllten Wahlurnen, wie es hieß.

Es hätte eine Art „Putsch von unten“ werden können, ähnlich dem Sturz gewählter Regierungen durch alles lahmlegende Massenaufmärsche in der bolivianischen Hauptstadt La Paz, die dem Sieg von Evo Morales vorausgegangen waren. Die politische Klasse von Honduras jedoch setzte sich überraschend zur Wehr: Das Parlament in Tegucigalpa, der Oberste Gerichtshof und sogar Zelayas Kabinett legitimierten nahezu einmütig die Amtsenthebung des Präsidenten.

Allerdings entsprach die praktische Ausführung dieses Mehrheitsbeschlusses den Gepflogenheiten der Bananenrepublik, die Honduras nun einmal ist: Der Parlamentsvorsitzende hatte die näheren Modalitäten leider dem Militär überlassen. Wie in einer Filmklamotte wurde der abgesetzte Präsident von Soldaten im Kampfanzug aus dem Bett geholt, im Pyjama zum Flughafen gebracht und in die nächste mittelamerikanische Hauptstadt expediert.

Die PR-Wirkung war verheerend. Die institutionell abgesicherte Entmachtung Manuel Zelayas konnte nun mit etwas Verdrehung als Ergebnis eines Militärputschs dargestellt werden – als Wiederaufleben einer Tradition der gewaltsamen Machtergreifungen, die Lateinamerika über ein Jahrhundert lang geplagt hatte und seit der zweiten Präsidentschaft Ronald Reagans und dessen ausdrücklichem „Putschverbot“ als begraben gelten durfte. Ein für den ganzen Kontinent segensreiches Tabu, so wurde mit Tremolo verkündet, sei in Honduras gebrochen worden.

Von der Chance einer kontextfrei dramatisierenden Darstellung machten viele Medien, politische Interessengruppen, Menschenrechtler in aller Welt und auch lateinamerikanische Regierungen lustvoll Gebrauch. Auch viele bürgerliche Blätter machten sich die Version eines „faschistischen“ oder „reaktionären“ Militärputschs zu eigen und malten das Schreckgespenst eines neuen Diktatoren-Zeitalters an die Wand. Ausgerechnet Hugo Chávez, einst selbst durch einen durchaus blutigen Putschversuch in Venezuela zum Helden der Armen aufgestiegen, peitschte seine regierenden Sympathisanten in Lateinamerika zu lautem Protest zusammen.

Seit dem Amtsantritt des Konservativen Porfirio Lobo, der eine eindeutige Mehrheit erreicht hat und von der Opposition als Wahlsieger anerkannt wurde, erweist sich der Fall Honduras als Lackmus-Test: Nun muss Farbe bekannt werden, und es wird deutlich, welche Länder der Hemisphäre tatsächlich zu Chávez halten oder in seinem Sinne als „links“ einzustufen sind. Die USA und Kanada plädierten energisch für die Anerkennung Lobos, und sogleich zeichnete sich ab, dass die Mehrheit der Lateinamerikaner ihnen zustimmen würde. Obwohl etwa Lula, Idol der Linken und der Globalisierungsgegner, die honduranischen -„Putschisten“ gegeißelt hatte, stellt sein Außenminister Celso Amorim die Anerkennung inzwischen als unvermeidlich dar.

Die Europäer ziehen daraus die Konsequenz: Spanien, sozialistisch regiert und turnusmäßig EU-Vorsitzender, geht zur Tagesordnung über und empfiehlt die Aufhebung der Sanktionen und die Anerkennung der neuen honduranischen Regierung.

Kreuzbraver Optimismus

„Lateinamerika ist gereift und wählt konsequent links“, lautete noch vor zwei Jahren eine Schlagzeile im deutschen Feuilleton. Das war arg schematisch gedacht. Für solchen kreuzbraven Optimismus gibt es keine Basis in der Realität. Hugo Chávez hat wegen seiner diktatorischen Medienpolitik und der höchsten Inflation des Kontinents auch im eigenen Land viel an Popularität eingebüßt. Mexiko, Kolumbien und Peru werden konservativ regiert.

In Chile hat Mitte Januar der Multimillionär Sebastián Pinera – Präsidentschaftskandidat der Rechten – den Kandidaten der alten Anti-Pinochet-Front besiegt. Und schon die bisherige Regierungschefin, die Sozialistin Michelle Bachelet, die laut Verfassung nicht wieder antreten durfte, hatte mit dem Sozialismus Salvador Allendes nichts im Sinn: Sie folgte, wie schon sämtliche chilenische Koalitionsregierungen seit dem Abgang des Tyrannen, dem von Augusto Pinochet hinterlassenen, erfolgreichen Wirtschaftsmodell der „Chicago Boys“ Milton Friedmans.

In Argentinien hat das „linksperonistische“ Ehepaar Kirchner, das eher kleptoman als sozialistisch waltet, seine Anfangserfolge verspielt. Und selbst auf das Brasilien Lula da Silvas ist kein Verlass mehr: Dina Rouseff, die Kandidatin des populären Arbeiterführers, könnte noch in diesem Jahr vom konservativen Gouverneur São Paulos geschlagen werden. Für die Idee des Sozialismus hätte Lateinamerika als Kontinent der Hoffnung dann wohl wieder ausgedient.

CARLOS WIDMANN war Reporter der SZ und des Spiegel und lebt heute als Autor in Paris.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, März/April 2010, S. 92 - 96

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