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01. Jan. 2008

Die Blüte des Stacheldrahts

Amerika, Europa, Nahost: die Zukunft der Zäune hat erst begonnen

Amerika, Nordafrika, Nahost: In aller Welt gehen Mauern hoch, errichten Staaten Sperren, die Millionen Menschen an der Migration hindern, vor Terroristen schützen oder vom Krieg mit Nachbarn abhalten sollen. Täglich sterben ungezählte Flüchtlinge an monströsen Barrieren, die das Zeitalter der Globalisierung zu verhöhnen scheinen. Doch die Zukunft der Zäune hat erst begonnen.

Noch rostige Relikte, irgendwo? Bröckelnde Betonreste, überwachsene Gräben, ein verwitterter Zaunpfahl? Um Hinweise wird gebeten. Kuratoren haben Interesse an schlechthin jedem Gegenstand, der das mächtigste deutsche Bauwerk des 20. Jahrhunderts vergegenwärtigen hilft. In der Euphorie nach dem Fall der Berliner Mauer hatten Patrioten und Abwickler, Naturfreunde und Souvenirjäger aus den innerdeutschen Grenzsperranlagen etwas zu gründlich Tabula rasa gemacht. Es blieben nicht genug Schrott und Trümmer übrig, um den Bedarf der Denkmalspfleger und (wir erfinden nichts) Kunsthistoriker zu befriedigen, die „Erinnerung materialisieren“ wollen. So lautet das Motto der Spezialisten, die den Deutschen von ihrem verschwundenen Ärgernis Zeugnis geben. Angeblich nimmt das Interesse an Besinnungsorten und „Gedenk-Ensembles“ ständig zu: Die Mauer-Nachfrage finde in 30 Zonengrenzmuseen zwischen Lübeck und Hof schon kein Genügen mehr.

Was motiviert die Treuhänder dieser kümmerlichen Überreste? Sensationsmache kann es nicht sein. Ein Todesstreifen, auf dem Kühe grasen, erzeugt keine Gänsehaut. Oder ist es pädagogischer Eros, der auf historischem Nachhilfeunterricht beharrt? Geschichtsabstinenten Teenagern könnten alte Selbstschussautomaten tatsächlich den Gefängnischarakter der DDR nahebringen. Schon im Zuge seiner Demontage war das 1400 Kilometer lange Bauwerk Geschichte geworden, im wegwerfenden, populär-amerikanischen Sinne von „history“: passé, gewesen, ein alter Hut. In einer Zeit, da man an Europas Grenzen kaum mehr den Fuß vom Gaspedal zu nehmen braucht, wirken Checkpoint Charlie und die wenigen erhaltenen Schlagbäume und Wächterhäuschen finster bis putzig, dem politischen Thriller oder der Operette zugehörig. Wie weit liegt das alles schon zurück – und welch treffliche Metapher, dass leibhaftige -Archäologen sich über die Resi-duen der deutschen Mauer hermachen!

And now the bad news. All die stacheldrahtseligen Gedenkstätten scheinen heute weniger auf das vorletzte Kapitel der deutschen Geschichte zu weisen als auf die brennende internationale Aktualität. Was da mühsam aus dem Kehricht des Kalten Krieges zusammengebastelt wurde, zeigt jetzt eher in die Gegenwart, in die Zukunft und in alle Himmelsrichtungen. Das klobige und stachlige Material, von dem die DDR Abermillionen Tonnen zur Errichtung ihres antifaschistischen Schutzwalls verbraucht hatte, ist nicht obsolet geworden, sondern begehrter denn je – weltweit, sogar im Herrschaftsbereich westeuropäischer Demokratien. Demnach dürften Mauer-Museen nur noch Nabelbetrachter an Deutschland erinnern; Besucher mit Durchblick erkennen dort den Renner, der seine größten Triumphe jetzt, im Zeitalter der Globalisierung feiert. Die Hochzeit des Stacheldrahts, der Mauern und Zäune hat erst richtig begonnen.

Auf sieben Meter erhöht

Man nehme eine Fähre. Wer aus dem Hafen von Algeciras, hinter dem Felsen von Gibraltar, zum Nordwestzipfel Afrikas aufbricht und in Ceuta landet, möchte sich in den Arm kneifen. Ist die Berliner Mauer etwa nicht zertrümmert und verschrottet, sondern heimlich an die Spanier verkauft worden? Zusammen mit Melilla ist Ceuta eine der beiden Städte an der Mittelmeerküste Marokkos, die der einstigen Kolonialmacht Spanien geblieben sind. Nur an diesen beiden Stellen grenzt das Hoheitsgebiet der Europäischen Union direkt an das Territorium eines afrikanischen Landes. Und das merkt man auch sofort, besonders nachts: Beleuchtungstürme tauchen den neun Kilometer langen Doppelzaun zwischen der spanischen Exklave und dem Königreich Marokko in diffuses, gelbes Licht. Die Zäune von Ceuta und Melilla, die mit EU-Zuschüssen von 60 Millionen Euro verbessert und zuletzt auf fast un-überwindliche sieben Meter erhöht wurden, sind von einem Dickicht aus schärfstem Stacheldraht überwachsen und gespickt mit gepanzerten Wachtürmen in freundlichem Weiß-Blau. Zweifellos eine Grenzsperre von DDR-Format, um nicht zu sagen: Weltniveau.

Nur einen Schießbefehl gibt es nicht. Zumindest nicht auf spanischer Seite, nicht unter europäischer Verantwortung. Gestorben aber wird hier trotzdem – allerdings seltener, seitdem die Zäune höher wurden. Zwei Jahre sind bereits vergangen seit den letzten verzweifelten Versuchen, den Schutzwall durch schieren Masseneinsatz zu überwinden. Die alte Festung Europa sollte gestürmt werden mit Methoden des Mittelalters: auf langen selbstgefertigten Leitern kletterten über tausend Schwarzafrikaner Ende September 2005 auf den ersten Zaun; nur wenige kamen bis zum zweiten durch, und fünf starben im Stacheldraht. Vier

Tage darauf probierten es 650 Afrikaner in Melilla, auch diesmal mit Todesopfern. Es heißt, die marokkanischen Grenzer setzten manchmal scharfe Munition ein, wogegen Spaniens Guardia Civil sich auf Gummigeschosse beschränke. Abschreckender noch als Schusswaffen dürfte für die Zäunestürmer der allgegenwärtige, tückische, rasiermesserscharfe Stacheldraht sein, der in Venen und Adern schneidet und ganze Fleischfetzen aus dem Leibe reißt. Dem Vorwurf, die Grausamkeit solcher Barrieren sei vergeblich und bewirke keine Eindämmung der illegalen Migration ins Schengen-Reich, widersprechen die amtlichen Zahlen. Nach Angaben der Regierung von Ministerpräsident José Luis Rodríguez Zapatero gelang Spanien dieses Jahr eine Halbierung des Menschenzustroms aus Afrika.

Das Problembewusstsein hatte schon der Sozialist Felipe González geweckt. Der führte den Regierungschefs der EU einmal ein Foto der marokkanischen Küste vor, aufgenommen von Andalusien aus. Die dazwischen liegende Straße von Gibraltar nannte der spanische Kollege mit bitterem Sarkasmus „unseren Rio Grande“. Wie sonst nur am Grenzfluss zwischen den USA und Mexiko komme es hier zur direkten Berührung zwischen Erster und Dritter Welt. An den beiden Nahtstellen, dieseits wie jenseits des Atlantiks, locke unwiderstehlich die Versuchung, dem Elend, der Übervölkerung und der Gewalt, der Langeweile und dem Mangel an Perspektive durch einen einzigen couragierten oder verzweifelten Schritt zu entkommen. Wer es nach Ceuta oder Melilla, nach Andalusien oder zu den Kanaren schafft, ist auf EU-Gebiet und kann seine Papiere wegwerfen. Schon der Asylantrag kommt einem unbefristeten Bleiberecht gleich. Die Auffanglager sind das Einfallstor nach Europa.

Seitdem die Zäune der beiden Exklaven verstärkt wurden, kehren viele afrikanische Flüchtlinge geschlagen heim oder brechen erst gar nicht auf. Aber Bandenkriege und „ethnische Säuberungen“, Massenmord, Verstümmelung und Vergewaltigung von Frauen und Kindern erzeugen – am Kongo, im Sudan, in Somalia – neue Furcht- und Elendszüge, die sich andere Wege suchen und gegen andere, unsichtbare Zäune anrennen. Trotz kabbeliger See und den Berichten über die vielen Ertrunkenen setzen sich täglich Dutzende in die überladenen Kähne der marokkanischen Haschisch- und Menschenschmuggler. In einer grottenhaften Teestube in Tétouan schildert ein kiffender Kapitän seine Methode. Als Orientierungshilfe diene ihm, weit hinter der Horizont-linie, der ferne Flughafen von Málaga: Die Positionslichter der startenden und landenden Touristenjets genügten, um ihm die Richtung zu weisen. „Weit draußen halte ich dann still, mehrere Stunden lang, bevor ich auf Westkurs gehe“, fährt der Käpt’n fort. „Keiner der 40 Menschen darf einen Muckser machen, jeder ist allein mit Gott und seiner Angst.“

Migranten aus dem Maghreb müssen den Schleusern nur halb soviel zahlen wie „los negritos“, wie die viel ärmeren Schwarzafrikaner genannt werden. Der Bootsrand liegt eine Handbreite über dem Wasserspiegel. Schon die Bugwelle eines Patrouillenboots der Guardia Civil kann solch einen Kahn in Sekunden mit Mann und Maus versenken. Über die jährliche Verlustquote kursieren erschreckende, vierstellige Zahlen. Nur der Kapitän besitzt eine Schwimmweste. Wer lebend gelandet ist, dem winkt das Glück. Zwar wird in Spanien an einer virtuellen Mauer aus Radargeräten, Infrarot- und Videokameras gearbeitet, um illegale Migranten abzufan-gen. Aber im Hinterland Andalusiens müssen sie sich vor Entdeckung nicht unbedingt fürchten. Nur Marokkaner, leicht an ihrem Dialekt erkennbar, werden gemäß bilateraler Verträge abgeschoben. Andere Ausweisungen sind kaum zu vollstrecken, wenn das Herkunftsland nicht zu ermitteln ist oder mit ihm kein Auslieferungsabkommen besteht. „Wie viele unbemerkt durchrutschen, wissen wir nicht“, erzählt ein Offizier der Guardia Civil. „Aber es sind wohl mehr als die, die wir fangen.“ Hätte also der Publizist Burkhard Müller recht, der alle Grenzsperren für untauglich hält? „Zäune und Mauern sind aus festem, die Menschenströme aber aus flüssigem Stoff“, argumentiert er. Wie ein Plastikeimer, dessen Boden durchbohrt wird, mache schon das kleinste Schlupfloch eine Mauer unwirksam. Der Gedanke ist bestechend, doch unhaltbar. Bloße Schlupflöcher taugen nicht zur Massenmigration. Vom Willen der Staaten hängt es ab, wieviele (und welche) Migranten nach Europa kommen. Im Hurrikan „Katrina“ hätten die Dämme von New Orleans den Wassermassen durchaus widerstehen können, wären sie nicht liederlich vernachlässigt worden.

3200 Kilometer Grenze

Mit der Straße von Gibraltar hat der seichte Rio Grande keine Ähnlichkeit, aber die Mauern aller Länder gleichen einander. „Si el de Berlín cayó, éste porqué no?“, steht auf einer der Stahlplanken, die das mexikanische Tijuana vom kalifornischen San Diego trennen: Wenn schon in Berlin die Mauer fiel, warum dann nicht auch diese hier? Die mannshohen, professionell gepinselten Lettern sind 15 Jahre alt und wurden von der damaligen Regierungspartei angebracht. Wer mochte den Mexikanern diese Übertreibung verargen? In Wahrheit hätte die alte DDR ihre realsozialistische Existenz 20 Jahre früher ausgehaucht, wäre die Mauer quer durch Deutschland auch nur halb so durchlässig gewesen, wie es der „Tortilla-Vorhang“ zwischen den USA und Mexiko noch heute ist.

George W. Bush hat nichts gegen Mexikaner. Als Gouverneur von Texas bemühte er sich sogar erfolglos, ihre Sprache zu erlernen. Seine Schwägerin Columba stammt aus Mexiko, seine Neffen wurden von Großvater Bush, als der noch im Weißen Haus saß, liebevoll „the little brown ones“ getauft. Hätte der 11. September 2001 nicht seine persönlichen Neigungen durch-kreuzt, wäre Bush junior als US-Präsident nicht nur Afghanistan und Irak, sondern auch der Weltpolitik fern geblieben.

Er interessierte sich für Mexiko, Lateinamerika und Freihandelsabkommen. Außerdem wollte er sieben Millionen illegalen Einwanderern aus dem Süden ein rechtmäßiges Dasein in den USA verschaffen, im Gegenzug aber die Staatsgrenze für wilde Immigration unpassierbar machen. Die erste Hälfte seines in sich schlüssigen Konzepts wird von Reaktionären und Rassisten bekämpft, die zweite von linken und liberalen Kräften. Dennoch ist es Bush gelungen, seine Pläne – dank dem internationalen Terrorismus – im Kongress wenigstens zum Teil durchzusetzen. Von den 3200 Kilometern zwischen Chula Vista (Kalifornien) und Brownsville (Texas) können zwar kaum ein Drittel als hinreichend überwacht, geschweige denn als gesichert gelten. Aber die Grenztruppe wird zügig auf 18 000 Beamte verstärkt, ein neuer, 590 Kilometer langer Zaun errichtet, dazu 105 Video- und Radar-pfeiler, 460 Kilometer lange Fahrzeug-Barrieren sowie Schlafstellen für 31 000 Grenzgänger – damit nicht so viele wegen der räumlichen Überlastung buchstäblich in die Wüste zurückgeschickt werden müssen.

Noch ist der Abwehrapparat von „La Migra“, wie die US-Einwanderungsbehörde von den Latinos genannt wird, im Aufbau. Nur in dicht besiedelten oder stark frequentierten Grenzgebieten stehen Mauern, Stahlplanken, tiefe Betongräben, Beleuchtungstürme und Geländewagen, Nachtsichtgeräte, Scooter mit Traktorenreifen, Hubschrauber mit Scheinwerferbatterien, berittene Patrouillen und Schäferhunde bereit. Zehntausende elektronischer Sensoren sind nahe der Ballungsgebiete an der Grenze ausgestreut und melden den Bildschirmen in den Kontrollräumen allerhand Bewegung. Bald sollen Zeppeline dazukommen, doppelt so groß wie die der „Goodyear“-Werbung, mit Augen und Ohren und Nerven für alles, was über die Grenze kreucht und fleucht. Ein Kuriosum: Die Firma Boeing, die mit ihren Jumbos zu den Wegbereitern von Massenmigration und Globalisierung gehört, entwickelt nun auch Hochtechnologie mit der entgegengesetzten Mission. Eine Verknüpfung von Bodensensoren mit unbemannten Flugkörpern, die von geländegängigen Fahrzeugen starten können, soll klaffende Zaunlücken im Reich der Gringos schließen. Das Rezept ist auch als Exportmodell gefragt: In aller Welt werden Menschensperren gebraucht, die nicht zu stark ans Mittelalter erinnern.

„El Muro“ heißt der Zaun in Mexiko. Dabei hatte die berüchtigte deutsche Mauer – die als das Modell gesehen wird – eine ganz andere Funk-tion: Die DDR musste keine fremden Menschenmassen vom Einwandern abhalten, sondern nur ihre eigenen Bürger von der Flucht in den Westen. Wenn lateinamerikanische Staatschefs den US-Präsidenten empört mit dem Begriff „Gefängnismauer“ traktieren, haben sie in einem unbeabsichtigten Sinne recht: Millionen Mexikaner und andere Latinos, die „south of the border“ von den USA träumen, empfinden ihre Heimatrepubliken als Gefängnis. Sie wollen sich nicht nur von Armut und Hoffnungslosigkeit befreien, sondern auch von der Demagogie und Korruption, der Willkür und sozialen Wurstigkeit ihrer Politiker. Und diese denken – anders als Ulbricht und Honecker – gar nicht daran, ihre Landsleute zum Bleiben zu bewegen. Lieber leisten sie Fluchthilfe und geben ihnen nützliche Ratschläge. „Schwere Kleidung wird noch schwerer, wenn sie nass wird, und behindert das Schwimmen oder Dahintreiben im Wasser“, belehrt in Mexiko eine amtliche Broschüre den „lieben Landsmann“, den die Wanderlust packen sollte. Für die, die eine Grenz-überschreitung auf trockenem Wege bevorzugen, gibt es – in einer Auflage von 1,5 Millionen – solides Fachwissen: „Beim Überqueren der Wüste sind jene Stunden zu bevorzugen, in denen die Hitze weniger intensiv ist.“ Erreiche der Migrant sein Ziel – das Territorium der Vereinigten Staaten –, so müsse er auf Begegnungen mit fremden Amtspersonen gefasst sein, die sich ihm in den Weg stellen könnten. In solchen Fällen wird Zurückhaltung empfohlen: „Bewerfen Sie den Beamten oder Streifenwagen nicht mit Steinen oder Gegenständen, denn dies könnte als Provokation aufgefasst werden.“

Die freiwillige Komik der Fibel hat manche Abgeordnete im US-Repräsentantenhaus nicht davon abgehalten, darin eine Anstiftung zum Verstoß gegen die amerikanischen Einwanderungsgesetze zu erblicken. Der Vorwurf wurde von Mexiko zurückgewiesen: Bei der gratis verteilten Schrift handele es sich um „rein humanitären Beistand“, vergleichbar der Aids-Aufklärung für Heroinsüchtige. Allein im Vorjahr seien über 300 Mexikaner beim Versuch umgekommen, sich Zugang nach Kalifornien, Arizona oder Texas durch gefährliches Umgehen der US-Grenzkontrollen zu verschaffen. Manche Passagen der Broschüre lassen jedoch Zweifel an den altruistischen Motiven der mexikanischen Regierung zu. Die Republikflüchtigen werden nämlich auch belehrt, wie sie sich in den USA zu verhalten haben, um eine Abschiebung in die Heimat zu vermeiden. Sie sollen – so das Handbuch – „Nachtlokale bei Ausbruch von Raufereien“ verlassen, „weder Messer noch Feuerwaffen am Körper tragen“ und „häusliche Gewaltakte“ gegen ihre Lebenspartner oder deren Kinder unterlassen. Knifflige Frage: Zeugen solche Ratschläge eher von Menschenverachtung oder von Milieukenntnis?

Wer 1963 als junger Reporter nach Mexiko entsandt wurde, lernte ein stolzes und dynamisches Land von 35 Millionen Einwohnern kennen, dessen Elendsviertel durch den Film-Klassiker „Los Olvidados“ von Luis Buñuel bereits weltbekannt geworden waren. 40 Jahre später musste der-selbe Reporter konstatieren, dass die Einwohnerschaft sich während seines Berufslebens verdreifacht hatte: 100 Millionen Mexikaner sind es nun, von denen immer mehr nach Norden blicken, das Auswandern erwägen und „El Muro“ hassen. Wie in Marokko tickt in Mexiko die demographische Bombe sehr laut, ja bedrohlich. Wäre der US-Präsident mit deutscher Lyrik vertraut, könnte er dem Nachbarvolk mit Stefan George zurufen: „Schon eure Zahl ist Frevel!“ Das kann Bush aber nicht, weil er als fundamentalistischer Christenmensch gegen jedes Programm der Geburtenkontrolle, das Abtreibungen toleriert, sein Veto einlegt. Wer mit solchen Überzeugungen befrachtet ist, kann für die brennendsten Weltprobleme nicht die richtigen Worte finden.

Druck der Demographie

Auf dem mit jungen Männern gefüllten König-Hassan-Platz von Tétouan, südlich der Stacheldrahtgrenze von Ceuta, herrscht dumpfe Wartesaal-atmosphäre. „Wie auf allen König-Hassan-Plätzen unseres Landes“, erläutert grinsend ein minderjähriger Fremdenführer in perfektem Spanisch. In Marokko ist ödeste Langeweile ein stärkeres Auswanderungsmotiv als Armut. Nicht die Ärmsten fliehen zuerst, sondern die, denen der Mangel an Perspektiven am härtesten zusetzt. Selbst die Seifenopernhelden im Fernsehen träumen vom Glück in der Fremde, bestehend aus Freiheitsgefühl plus Konsum. An die drei Millionen Marokkaner leben in Frankreich, Belgien, den Niederlanden, Spanien, davon ein Viertel illegal. Dieses knappe Zehntel des Volkes bringt dem Königreich mehr Devisen ein als Tourismus und Phosphatexporte zusammen. „Das Regime ist jedem Schmuggler dankbar und behilflich, der sein Boot mit Marokkanern füllt“, klagt ein Gewerkschaftler in Rabat. „Um sozialen Druck abzulassen, gibt es kein besseres Ventil als den Export der eigenen Landsleute.“ Nach einer Meinungsumfrage begehren 72 Prozent der Marokkaner die Auswanderung; unter den Jugendlichen sollen es 89 Prozent sein, die in Europas goldenen Westen wollen. Sind die Motive auch vorwiegend materiell, so steht der Glaube diesem Drang nicht unbedingt im Wege: Spanien hatte sieben Jahrhunderte unter muslimischer Herrschaft gelebt, ehe das Königspaar Fernando und Isabel 1492 die Reconquista vollendete. Der Gedanke einer Rückeroberung Iberiens durch den Islam ist den Mullahs unter den Einwanderern nicht fremd.

Auch die Amerikaner bekommen es mit dem Faktor Geschichte zu tun, wenn sie massenhaft Mexikaner einlassen. El Pueblo de Nuestra Señora La Reina de Los Ángeles de Porciúncula – selbst eingefleischte Latinos haben Mühe, sich den vollen Namen zu vergegenwärtigen, den Los Angeles im 18. Jahrhundert von den spanisch-mexikanischen Stadtgründern erhielt. Nicht viele US-Bürger wissen, dass einmal ihr ganzer Südwesten – vom südkalifornischen San Diego bis hinauf nach Colorado und vom texanischen Corpus Christi bis nach San Francisco – dem Vizekönigtum Neuspanien gehörte. Und wurde nicht Mexiko, legitimer Erbe dieser Kolonien, von den gierigen Gringos durch willkürliche Landnahme und Raubkriege seiner größten und reichsten Gebiete entledigt? Intellektuelle Latinos können den Anglos mit ihren revanchistisch klingenden Phantasien manchen Schrecken einjagen. Der Literatur-Nobelpreisträger Gabriel García Márquez meinte schon 1992: „Wir Hispanos sind dabei, die USA Stück für Stück zu übernehmen.“ Sein mexikanischer Kollege Carlos Fuentes prägte für die Ausbreitung der Hispanics die sarkastische Formel vom „Imperialismus der Chromosomen“. Geschehe den Gringos nicht recht, wenn sie von den Opfern ihrer Ausbeutung unterwandert und überfremdet werden? Eine Art Schadenfreude keimt da, als sei die amerikanische Dominanz mit den Waffen der Demographie zu besiegen. Schon um die Jahrtausendwende wurden die Schwarzen als zahlenstärkste Minderheit der USA von den Latinos abgelöst. Nicht nur durch Einwanderung: Von den chassidischen Juden (einer Mini-Minorität) abgesehen, ist die Geburtenrate der Hispanics weitaus die höchste in Amerika. Und die Fertilität der Neuzugänge übertrifft noch die der Angesiedelten. Wer will da bezweifeln, dass die Mauer am Rio Grande ihre große Zeit noch vor sich hat?

Gute Zäune, gute Nachbarn

„Something there is that doesn’t love a wall.“ Die erste Zeile des wohl bekanntesten Gedichts von Robert Frost wird in Amerika gerne zitiert, wenn von Mauern die Rede ist. Der Sinn scheint klar: „Etwas“ in ihm, dem Dichter, „etwas“ in uns, seinen Lesern, empfindet natürliche Abneigung gegen eine Mauer, einen Zaun, ein künstliches Hindernis, das trennend in die Landschaft eingreift. Wegen dieser Zeile meinen viele, es handle sich bei Frosts „Mending Wall“ um ein Anti-Mauer-Gedicht, und einige glauben gar, er habe diese Verse erst nach dem 13. August 1961 geschrieben. In Wirklichkeit stammt das Gedicht von 1913. Frost geht darin auf ein altes Frühjahrsritual in Neuengland ein: das gemeinsame Abschreiten des Zaunes mit dem Nachbarn, bei dem jeder auf seiner Seite die umgestürzten Steine wieder aufstellt und auch sonst für klare Verhältnisse sorgt. „Good fences make good neighbors“, ruft der Nachbar, und Frost träufelt milden Spott über den knorrigen Mann. Der aber geht darauf nicht ein und wiederholt unbeirrt die Weisheit seiner Vorfahren: „Gute Zäune schaffen gute Nachbarn.“ Das ist denn auch die Schlusszeile.

John F. Kennedy wünschte sich zur Amtseinführung den greisen Poeten und ein neues Gedicht. An jenem klirrenden Morgen im Januar 1961 aber konnte Robert Frost, vom Schnee auf dem Kapitolshügel geblendet, seine verwegenen Zeilen nicht zu Ende lesen. Das Rom des Kaisers Augustus beschwörend, rief er den Anbruch eines goldenen Zeitalters aus, in dem Amerikas „junger Ehrgeiz sich beweisen will in jedem Spiel, zu dem die Nationen aufgelegt sind“. Sieben Monate später waren Nikita Chru-sch-t-schow und Walter Ulbricht zum Spiel bereit: Die Nationale Volks-armee marschierte auf, Stacheldraht wurde ausgerollt, und in Berlin ging die Mauer hoch. Kennedy aber, von dem Ereignis nicht über Gebühr beeindruckt, ging mit Jackie auf Segeltour.

Weder der Präsident noch seine Berater hatten von der Gefühlswucht der Mauer-Bilder eine Ahnung. Das State Department beklagte nur „neue ostdeutsche Reisebeschränkungen“, und Sicherheitsberater McGeorge Bundy erklärte: „Alles in allem ist es eine gute Sache, wenn Ostdeutschland nicht ganz von den Leuten verlassen wird, die das kommunistische System ablehnen.“

Andere Kennedyaner meinten, die Deutsche Demokratische Republik werde durch die staatstragende Mauer berechenbarer werden. Dass diese ohne Schießbefehl nicht funktionstüchtig sein würde, wurde nicht bedacht. Aber wenn es um Gesten ging, war Jack Kennedy lernfähig. Nur ein paar Tage brauchte er, um die zunächst akzeptierte Mauer in die beste Propagandawaffe des Westens gegen den Sowjetblock umzuwandeln. Er selbst flog 1963 in die ummauerte Stadt, um „Ich bin ein Berliner“ zu rufen und anklagend auf Beton und Stacheldraht zu weisen. Noch ein Vierteljahrhundert später knüpfte Ronald Reagan vor dem Brandenburger Tor an jenes Pathos an: „Mr. Gorbachev, tear down this wall!“ So konnte das Bauwerk in den 28 Jahren bis zu seinem Abriss – und in unzähligen Rückblenden seither – sich weltweit einprägen als Symbol der Menschenfeindlichkeit. Abscheu gegen jede Mauer erfüllt politische Aktivisten heute mit zivilreligiöser Inbrunst. Der fundamentale Unterschied zwischen einer Gefängnismauer und ähnlich beschaffenen Sperren, die ganz andere Aufgaben wahrnehmen, wird durch dieses Sentiment verwischt. Auch Globalisierungstheoretiker bringen in eine Diskussion um Mauern und Zäune keine Klarheit. Eine US-Regierung, die ihre weit offene Staatsgrenze gegenüber Mexiko sichern und illegales Eindringen breiter Massen unterbinden möchte, „handelt, als ob es so etwas wie Globalisierung nicht gäbe“, spottet die Soziologin Saskia Sassen von der University of Chicago. Beim Thema Migration finden seltsame Bettgenossen zusammen: Gläubige Globalisten und ihre steinewerfenden Feinde treten mit gleicher Vehemenz für schrankenlose Völkerwanderung ein. Legal, illegal, scheißegal.

Ihr schärfster Widersacher ist die Realität – der Alltag an den Grenzen zwischen den Nationen, Regionen und Welten. Wie zum Hohn der Globalisierer und ihrer antikapitalistischen Gegner werden überall Mauern und Zäune hochgezogen. War es nicht voreilig und provinziell gewesen, ein in Jahrtausenden bewährtes Macht-, Schutz-, Kriegs- und Friedensinstrument für überholt zu erklären, nur weil ein größeres Exemplar davon in Berlin und Umgebung seine Schuldigkeit getan hatte? Wofür im 21. Jahrhundert ein ganz ordinärer Zaun noch gut sein kann, wurde jüngst in Deutschland vorgeführt. In peinlicher Nachbarschaft zur einstigen Zonengrenze und ihren Mauer-Museen ward ein zwölf Kilometer langer Eiserner Vorhang errichtet: Heiligendamm musste während des G-8-Gipfels schließlich gegen Protestler abgeschirmt werden, deren betont unzimperliches Auftreten gerichtsnotorisch ist. Selten hat ein Innenminister für eine – nach Seattle, Göteborg, Genua – obligate Sicherheitsmaßnahme so viel Häme eingesteckt wie Wolfgang Schäuble. Erst als autonome Gewalt die Bildschirme füllte, verstummten die Zäune-Geißler. Keiner fragte, was die Konferenzteilnehmer wohl erlebt hätten ohne die „Ausgrenzung“ der Globalisierungsfeinde. Paradox: Erst der Zaun ermöglichte Begegnungen zwischen Drinnen und Draußen. Staatschefs konnten von moralischen Instanzen zur Rede gestellt werden, die sonst mit wummernden Boxen und jaulenden Gitarren die Fußballstadien füllen. Nicht mehr Böll, sondern Bono.

Monstrum in Beton

Was in Heiligendamm nur kurz aufblitzte, hat sich längst in aller Welt breit gemacht: der Stacheldraht. Er nistet auf Tausenden von Kilometern neuer Mauern und Zäune und Sperren. Nicht mehr grau und dumpf wie Stalinismus und Kalter Krieg, sondern silberglänzend wie Disco-Dekoration schlängelt sich der federnde, rasiermesserscharfe „concertina wire“ – auf Deutsch schlicht NATO-Draht genannt – an neuen Hindernissen hoch oder gleitet wellenförmig an ihnen herunter, biegsam und garantiert rostfrei, bestückt mit Miniaturmessern in Schmetterlingsform, die sich wie Angelhaken im menschlichen Muskel festfressen. Erst dieser Draht verleiht einer Absperrung das moderne Profil und den besonderen Biss. Welchen Unterschied eine solide Mauer machen kann, wissen am besten die Israelis. Seitdem im Westjordanland monströse, sieben Meter hohe Betonwälle und Gitterzäune zwischen die Olivenhaine gestellt wurden, ist der Alltag des Judenstaats friedlicher geworden. Um 90 Prozent seien die Terroranschläge zurückgegangen, meldet das israelische Verteidigungsministerium, und das sei vor allem dem 680 Kilometer langen „Schutzzaun“ zu danken. Vorher gehörte es in Tel Aviv und Jerusalem zur alptraumhaften Routine, dass palästinensische Himmelfahrtsaspiranten mit ihren Dynamitgürteln jederzeit ein Tanzlokal oder eine Pizzeria in ein Schlachthaus verwandeln konnten. Nun aber ist der Märtyrer-Nachschub unterbrochen. Dass Israel mit seiner Mauer auch illegitime territoriale Ansprüche zementieren will, ist leider zu vermuten. Den aktuellen Anlass aber lieferte der Terrorismus, und gegen den hat das Betonmonstrum sich bewährt.

Von derart durchgreifender Wirkung können die vielen Mauer-Bauherren zwischen dem Jordan und dem Mekong allenfalls träumen. Sowohl in der arabischen Welt wie im Süden und Südosten Asiens sind im Eiltempo neue Barrieren entstanden oder im Entstehen. Die Amerikaner versuchen im Irak verzweifelt, den von ihnen selbst losgetretenen Bürgerkrieg zwischen Sunniten und Schiiten durch Beton zu begrenzen: wie fast alles, was die Supermacht dort unternimmt, mit vorerst ruinösem

Ergebnis. Die Errichtung von Mauern zwischen Sunni und Schia gibt in Bagdad dem beträchtlichen Hassvorrat nur eine andere Priorität: Dieser wendet sich auf beiden Seiten erst einmal gegen das Hindernis, das sie davon abhalten soll, übereinander herzufallen. Vertreter beider Glaubensrichtungen klettern auf die Palisaden und halten vor den Kameras von CNN und BBC ihre Banner hoch, auf denen einträchtig gegen „Separation Wall“ und „American Terrorism“ protestiert wird. Um kartesianische Logik unbekümmert wirkt auch das Verhalten des Königreichs Saudi-Arabien. Seine Führungsschicht betreibt mit ihren Petrodollars seit jeher die Terrorismusförderung in Palästina, vor den UN aber polemisiert es emphatisch gegen den israelischen Sicherheitszaun. Dabei haben die Saudis längst begonnen, ihre eigene Menschensperre zu bauen: Das Eindringen fanatisch islamistischer Jugendlicher aus dem demographisch hochexplosiven Jemen versucht das Königreich mit übereinander gestapelten, zementgefüllten Rohrleitungen zu verhindern. Elektronische Sensoren und Roboterfahrzeuge kommen bald dazu. Dieser „Filter“ habe jedoch, so betont Talal Anqawi, Staatssekretär für Grenzschutz in Riad, „nicht die geringste Ähnlichkeit mit einer Mauer“.

Etwas weiter östlich, in Teheran, geht es weniger heuchlerisch zu: Die Regierung von Präsident Machmud Achmadinedschad macht aus ihrem Herzen eine Mörtelgrube und baut ganz offiziell eine drei Meter hohe und 700 Kilometer lange Betonsperre an der Grenze zu Pakistan, um die Iraner vor wandernden Taliban und dem Drogenschmuggel abzuschirmen. Gegen die iranische Mauer kann wiederum die pakistanische Regierung von General Pervez Musharraf schwerlich moralische Einwände geltend machen, da sie – auf Drängen der USA – selber dabei ist, an der langen Grenze zu Afghanistan Kontrollsperren zu errichten. Nachdem der Militärgeheimdienst in Islamabad über Jahrzehnte die geistlich-militärische Ausbildung der Taliban gefördert hatte und (zeitweise mit dem Segen des Pentagons) in Afghanistan einsetzte, fürchten prowestliche Politiker wie Musharraf jetzt die Talibanisierung des eigenen Landes.

Natürlich wird – einen weiteren Schritt ostwärts – auch zwischen Pakistan und Indien beinahe seit der Unabhängigkeit intensiv mit Mauern und Zäunen und Tretminen gearbeitet. Seitdem diese beiden demographischen Supermächte aber auch über Atombomben und Trägerraketen verfügen, verdienen Grenzscharmützel und Terrorakte erhöhte internationale Aufmerksamkeit. Als erster US-Präsident hat Bill Clinton die Konsequenzen gezogen und den indischen Subkontinent „die gefährlichste Region der Welt“ genannt. Durch Pakistan strömten islamistische Freischärler in Indien ein, das seinerseits an der gemeinsamen Grenze eine halbe Million Soldaten zur Invasion bereithielt. Dort konnte jederzeit die Stichflamme der Apokalypse hochschießen: Ein erster „Schlagabtausch“ beider Nuklearmächte würde Megametropolen wie Kalkutta und Karachi in radioaktive Leichenfelder verwandeln. Vor allem in Pakistan, wo radikale Mullahs auf junge islamistische Offiziere einwirken, sind militärische Abenteuer immer möglich. Doch die von Bill Clinton eingeleitete, von George W. Bush fortgesetzte Sonderbeziehung zu Indien (nukleare Zusammenarbeit inbegriffen) hat die Lage erstaunlicherweise erst einmal beruhigt. Das radikal verbesserte Verhältnis zu Wa-shington ermöglicht Indien auch eine enge Kooperation mit Israel: Die Hochtechnologie des Schutzzauns von Palästina soll demnächst der indischen Abwehrmauer zugute kommen.

Auf der Anklagebank

Gibt es schon eine Art Domino-Theorie für die sukzessive Errichtung von Zäunen und Sperrmauern? Denn abermals eine Zeitzone weiter, nun schon in Südostasien, wiederholt sich das vertraute Spiel. An der Südgrenze des vorwiegend buddhistischen Königreichs Thailand wird eine kostspielige Brandmauer gebaut, damit die Flammen der Gewalt nicht den Tourismus gefährden. Die neue Sperre soll Freischärler der muslimischen Minderheit in Südthailand von ihren Zufluchtsgebieten abschneiden: Die liegen in der vorwiegend islamischen Nachbarmonarchie Malaysia.

Der Begriff „Brandmauer“ ist in dieser unvollständigen Aufzählung bisher nur einmal erwähnt worden. Er hätte zwischen Heiligendamm und Kota Baru aber mit größter Monotonie wiederkehren können. Diese Zäune, Mauern und Sperren aller Art sollen, in der Intention ihrer Erbauer, ein Überspringen des Feuers verhindern. Von der beklagenswerten Ästhetik einmal abgesehen, ist gegen solche Problemlösungsmauern schwer zu argumentieren. Bürgerkriegsparteien trennen, Feindberührung erschweren, Gewalttäter fernhalten, Drogenschmuggel eindämmen, grenzüberschreitenden Terrorismus bekämpfen, bewaffnete Aufständische isolieren – das sind vorderhand positive, Frieden stiftende Zwecke. Ob die Sperren funktionieren und ihren jeweiligen Zweck zumindest teilweise erfüllen – darüber ist zu streiten. Mauern abreißen aber kann nur, wer ihre Ursachen zu beseitigen vermag.

Der wildeste Protest gilt denn auch nicht den vielen Brandmauern in der weiten Dritten Welt. Auf der Anklagebank sitzen allein die USA und die EU, deren Mauern der Migration gelten. Die Supermacht und das Schengen-Reich sind des Delikts beschuldigt, ihre Souveränität ausüben und ihre Grenzen kontrollieren zu wollen. Von Seiten der davon betroffenen Länder sind diese Proteste ebenso begreiflich wie scheinheilig. Ohne das soziale Ventil des Menschenexports, ohne die Geldüberweisungen der Migranten in die Heimat stünden die Politiker von Ländern wie Mexiko und Marokko vor dem Nichts. Längst riegeln sie das eigene Staatsgebiet gegen Süden hin ab, um die nordwärts andrängenden Schwarzafrikaner und die Latinos aus Mittel- und Südamerika „auszugrenzen“. Die konkurrieren sonst nur mit den eigenen Landsleuten beim großen Hindernislauf in die Erste Welt.

Für Kontrollen, die an den Grenzen fehlen oder versagen, entsteht innerhalb der USA und des Schengen-Reichs allerhand unbefriedigender Ersatz. Mauern aller Arten: Gated Communities und Résidences sécurisées für reiche Einheimische – und die üblichen Ghettos für so viele, die oft auch in ihren Herkunftsländern Integrationsprobleme hätten. Banlieues sensibles um Paris herum, in die kein Flic sich hineintraut, insediamenti abusivi am Rande von Rom, Riesenslums wie die Cañada Real Galiana bei Madrid, wo über 40 000 Einwanderer vom Drogengeschäft, von Kleinkriminalität und Bettelei leben. Am anschaulichsten ist das Dilemma in einer mittelgroßen Stadt wie Padua zu beobachten, der Heimat des Heiligen Antonius im wohlhabenden Veneto. Keine 100 Meter lang, aber immerhin drei Meter hoch ist der hässliche Stahlplattenzaun, den die linke Stadtverwaltung voriges Jahr an der Via Anelli errichten ließ. Er schirmt die Bürger Paduas von einem sozialen Wohnungsbaukomplex ab, der als Hochburg von Drogenhandel und Prostitution gilt. Die Einwohner sind Immigranten, die Mehrheit stammt aus Afrika.

CARLOS WIDMANN, geb. in Buenos Aires, war Auslandskorrespondent der Süddeutschen Zeitung und Reporter des Spiegel. Seit 2003 lebt er als freier Autor in Paris und Umbrien.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar 2008, S. 108 - 127

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