Wenig Staat, viele Schurken
Brennpunkt
Pakistan hat die Atombombe, doch mit Präsident Zardari keine verantwortliche Führung mehr, die für ihre Kontrolle haften könnte
Oh, East is East, and West is West, and never the twain shall meet, dichtete pessimistisch der in Bombay geborene Brite Rudyard Kipling vor über 100 Jahren. Da erscheint eine Gestalt wie Bashiruddin Mahmood, ausgebildet in Großbritannien und als Atomphysiker erfolgreich, wie die leibhaftige Widerlegung von Kiplings düsterer Vision. In Dr. Mahmood, dem frommen Muslim und tüchtigen Nuklearingenieur, sind Ost und West eine Symbiose eingegangen – allerdings keine beruhigende. Die Atomkraftwerke von Kahuta und Khushab wurden von diesem Pionier des pakistanischen Kernwaffenprogramms errichtet, das schließlich 1998 in den Bergen von Belutschistan in sechs unterirdischen Knallern kulminierte – dem Durchbruch Pakistans zur Atommacht. Mahmood war ein führender Kopf des Teams, das 1972 vom westlich geprägten Staatspräsidenten Zulfikar Ali Bhutto mit dem Bau der „islamischen Bombe“ beauftragt wurde. Das Volk der Pakistaner, so Bhutto damals, würde „lieber Gras fressen“, als auf das begehrte Massenvernichtungsmittel zu verzichten.
Drei Jahrzehnte später, kurz nach dem 11. September 2001, wurde Mahmood verhaftet und nach Angaben seiner Familie „unmenschlich intensiven Verhören“ unterzogen. Für das Regime von General Pervez Musharraf, das im Krieg gegen den Terror gute Noten bei der Regierung von George W. Bush anstrebte, war der islamistische Wissenschaftler zur Belastung geworden. Mahmood hatte 1999 die Atomkommission unter Protest verlassen, um an Pakistans Universitäten für den Heiligen Krieg gegen die USA zu agitieren. Verdächtig oft war die Atomkoryphäe auch nach Kandahar gepilgert, ins Hauptquartier des einäugigen Mullah Omar – dem Taliban-Häuptling und Schwiegersohn Osama Bin Ladens.
Schillernde Gestalten wie Mahmood sind in Pakistan auf allen Machtebenen anzutreffen. Darum stellt sich seit dem Sturz des Militärherrschers Musharraf dringender denn je die Frage, in wessen Hände die Massenvernichtungswaffen dieser demografischen Großmacht wohl geraten könnten. Schon bei seinem Machtantritt hatte Musharraf den als „Vater der Bombe“ gefeierten Abdul Qadir Khan kaltgestellt, der Jahre später öffentlich zugab, nukleares Material und Waffentechnik mit „Schurkenstaaten“ wie Nordkorea, dem Iran und Libyen ausgetauscht zu haben. Dass dies nur in Komplizenschaft mit dem allgegenwärtigen pakistanischen Geheimdienst ISI (Inter-Services Intelligence) gelingen konnte, blieb bei der Enthüllung unerwähnt. Auch der „starke Mann“ Musharraf schaffte es nicht, die radikalen Islamisten in den eigenen Reihen zu kontrollieren.
Wächter ohne Autorität
Von seinem Nachfolger Asif Ali Zardari ist solches noch weniger zu erwarten. Der Schwiegersohn des gehenkten Zulfikar Ali Bhutto und Witwer der ermordeten Benazir – selber angeklagt, deren Bruder Murtaza umgebracht zu haben –, wäre mit dem Begriff „schillernd“ allzu dezent beschrieben. Zardari wurde nicht vom Volk zum Präsidenten gewählt. Laut Umfragen lehnen ihn zwei Drittel der Pakistaner ab. Vielmehr votierten für ihn Parlamentarier, die nur an der Ausweitung der eigenen Pfründe interessiert sind. Der General konnte – gerade noch – als Wächter des Atomarsenals gelten; bei Zardari, einem Archetypen politischer Skrupellosigkeit und Korruption, ist diese prinzipielle Verlässlichkeit nicht gegeben. Nun hängt alles davon ab, wieviel Einfluss die amerikanischen Militärs noch auf ihre pakistanischen Waffenbrüder haben. Die jüngeren Offiziere hören längst auf radikale Mullahs, und auch die Generäle sind nicht immun. Gewiss, der wendige Witwer Zardari erklärte schon beim Amtsantritt, der Krieg gegen den Terror sei nicht nur Sache der Amerikaner, sondern auch Pakistans. Zur Quittung jagten die Islamisten in der Hauptstadt Islamabad prompt das Marriott-Hotel in die Luft. Über die entscheidenden Kräfte – Militärs, Mullahs, Geheimdienstler – hat der neue Präsident weder persönliche noch gar moralische Autorität.
Die Raison d’être Pakistans, Heimstatt aller Muslime des Subkontinents zu sein, ging 1971 mit der Abspaltung von Bangladesch zu Bruch. Die Entwicklung zum Failed State wurde seither intensiver, ein weiterer Verfall in Richtung Schurkenstaat ist nicht auszuschließen. Der Reporter Seymour Hersh hat dafür schon vor Jahren einen Eventualplan enthüllt: US-Einheiten würden gemeinsam mit den Israelis die Atomsprengköpfe „exfiltrieren“, also rauben. Vorstellbar wäre aber auch eine Zweckentfremdung von radioaktivem Müll durch Terroristen: Der könnte mit gewöhnlichem Sprengstoff zu einer primitiven Vernichtungs- und Verseuchungswaffe verwandelt werden. „So etwas lässt sich leicht in einen Koffer packen“, erläuterte ein Militärexperte in Neu-Delhi. „Oder es könnte in einem dieser wackligen, bunt bemalten Lastwagen auf indisches oder afghanisches Gebiet rollen.“
CARLOS WIDMAN Reporter der SZ und des Spiegel und lebt heute als Autor in Paris.
Internationale Politik 10, Oktober 2008, S. 4 - 5