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01. Dez. 2008

Koffer aus Caracas

Compañero Fidel, Hurrikan Hugo und die Grenzen des Linkspopulismus in Lateinamerika

Für Liebhaber der Kontinuität müsste die Regierung Kubas eine stete Quelle der Genugtuung sein. Am Neujahrstag 2009 wird die Zuckerinsel den 50. Jahrestag der Machtübernahme eines politisch unverwüstlichen Bruderpaares feiern können: Fidel Alejandro und Raúl Modesto Castro Ruz haben mit ihren bärtigen Kumpanen am 1. Januar 1959 den Diktator Fulgencio Batista ins Exil gejagt, sodann dessen Schergen und Getreue (und im selben Schwung auch viele Revolutionsgegner) erschießen lassen, um hinterher Schritt für Schritt die totale Kontrolle über Staat und Gesellschaft zu gewinnen. Sofern der „biologische Faktor“ nicht doch noch als Spielverderber ins Geschehen eingreift, werden sich die Gebrüder Castro – wie bisher schon 49 Mal – vom organisierten Massenjubel ins Neue Jahr begleiten lassen. Die große Mehrheit der heutigen Kubaner war bei ihrem Einmarsch in Havanna noch nicht geboren.

Die Kommentare des Compañero

Ein halbes Jahrhundert an der Macht, und das im sprichwörtlich labilen, lange Zeit putschfreudigen Lateinamerika, stellt eine erstaunliche Leistung dar. Länger schon als Lenin, Stalin und Hitler zusammen sind die Castro-Brüder die unangefochtenen Führer der herrschenden – und einzigen – Partei Kubas. Und wenngleich Fidel, 82, seit zwei Jahren im Krankenhaus liegt und die sichtbarsten Ämter – Vorsitzender des Staats- und des Regierungsrats sowie Oberkommandierender der Streitkräfte – an den kleineren Bruder Raúl, 77, übertragen hat, bleibt der Líder Máximo doch zumindest als mächtiger Schatten über der Insel präsent.

Dafür sorgt schon das KP-Zentralorgan Granma, das jede Woche die „Reflexionen des Compañero Fidel“ publik macht. Diese müssen nicht unbedingt von ihm selbst stammen: Jeder parodistisch begabte Kenner des Spanischen könnte den Stil des älteren Castro mühelos nachmachen. Die Kommentare des Compañero zum amerikanischen Wahlkampf etwa wirken im Rückblick kabarettreif: Im August machte der Genosse Fidel sich stark für ein Demokraten-Gespann „Hillary Clinton/Barack Obama“, wogegen er im Oktober dem schwarzen Kandidaten schon keine Chancen mehr einräumte – wegen des „profunden Rassismus des weißen Amerika“.

Doch Dr. jur. Fidel Castro Ruz tritt nicht nur als Zeitungskolumnist auf. Er bleibt – zumindest nominell – Erster Sekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Kubas. Und das Charisma nicht enden wollender Machtausübung, das etwa die Gründerväter Rotchinas und Nordkoreas noch auf der Totenbahre ausstrahlten, hat auch auf Kuba bannende Wirkung. Fidels physische oder auch nur virtuelle Anwesenheit in Havanna ist für das Regime unentbehrlich. Da Raúl Castros Machtapparat und persönliche Kontrolle über das Inselvolk so total sind wie zuvor die seines älteren Bruders, wird er letztendlich auch über die Leibärzte und selbst den Körper Fidel Castros verfügen können. Somit ist es möglich, dass eines Tages ein dementer oder hirntoter Comandante Fidel dank lebensverlängernder Maßnahmen dem Volk und der Partei auf unbestimmte Zeit erhalten bleibt – Kubas ewiger Großer Bruder in einer Dimension, die noch George Orwells düstere Phantasien übertreffen würde.

Dass es so weit noch längst nicht ist, bezeugte ein hoher Besucher: Luiz Inácio da Silva, genannt Lula, Präsident der Bundesrepublik Brasilien. Anfang November kam der joviale, populäre Brasilianer nach Havanna, um Raúl Castro zu einer ersten Auslandsreise als Staatspräsident zu bewegen – ins größte und volkreichste Land Lateinamerikas. Die Reise lässt sich leicht arrangieren, da Mitte Dezember in São Salvador da Bahía das Gipfeltreffen der 22 Staats- und Regierungschefs der Region über die Bühne geht. In Havanna wurde Lula auch – ein besonderes Privileg – in die Krankensuite Fidel Castros geführt, der den Brasilianer in seiner sportlichen, der Schleichwerbung für Adidas verdächtigen Konvaleszentenkluft empfing. Lula erzählte danach humorig, der alte Herr habe zwei Stunden lang geredet, während er sich selbst mit 30 Minuten habe begnügen müssen.

Diese Bemerkung war ein Freundschaftsdienst für den Hausherrn Raúl Castro: Die angebliche geistige Robustheit Fidels trägt zur Stabilität des Erbenregimes bei. Kein Kubaner auf Kuba – und wohl kaum einer unter der riesigen Exilgemeinde in Südflorida – rechnet damit, dass auf der Insel eine neue Ära beginnen könnte, ehe der Patriarch zu Grabe getragen wird. Für Raúl und den kubanischen Kommunismus ist der beschränkt weiterexistierende Comandante ein Kleinod, ein politischer Trumpf. Fidel darf, wie Serengeti, nicht sterben.

Lula und Fidel, Lula und Raúl: Die Bilder scheinen eine Entwicklung zu veranschaulichen, die in den Medien des Westens seit Jahren als „Linksruck des Südens“ propagiert wird. Über 40 Jahre nach dem Opfertod des Guerrilla-Apostels Che Guevara in Bolivien, fast zwei Jahrzehnte nach dem Fall der Berliner Mauer und dem Untergang des europäischen Kommunismus würden die Lehren von Marx und Engels nun unter armen, ausgegrenzten  Indios und landlosen Campesinos, unter peronistischen Proletariern, brasilianischen Favela-Bewohnern und venezolanischen Unteroffizieren Auferstehung feiern. Auch ein Kulturkampf der Ureinwohner gegen weiße Unternehmer und Grundbesitzer wird diesem Linksruck zugeordnet, und ebenso das Unbehagen der Mittelschichten an landesfremden Multis. Von Feuerland bis South of the border, also bis unter die Nase von Uncle Sam, würden Antikapitalismus und Antiimperialismus eine Blüte wie nie zuvor erleben.

„Fidel Castro übt in Lateinamerika heute größeren Einfluss aus als George W. Bush“, behauptete vor drei Jahren der Venezolaner Moisés Naím, der in Washington die angesehene Zeitschrift Foreign Policy leitet. Ein schwacher Superlativ: Der einstige Texas-Gouverneur Bush, der ein paar Wörter Spanisch kann und viel Sympathie für die Latinos in den USA empfindet, wollte ursprünglich seine Außenpolitik auf Lateinamerika und die Schaffung einer kontinentalen Freihandelszone konzentrieren; seine erste Präsidentenreise führte ihn nach Mexiko. Doch am 11. September 2001 machten die „Speerspitzen des Islam“ (Osama Bin Laden) und der Massenmord von Manhattan dieser Priorität ein Ende. Seither hat Bush kaum mehr ernsthaft versucht, Einfluss auf Lateinamerika zu nehmen. Dazu fehlten, dank Afghanistan, dank des Irak-Kriegs, auch die Mittel.

Nur: Hat deshalb das kommunistische Kuba tatsächlich wieder an Gewicht auf dem Festland gewonnen? Während der ersten 20 Revolutionsjahre, allenfalls bis 1980, war Havanna tatsächlich eine Macht, die auf Mittel- und Südamerika ausstrahlte und mit Moskaus Segen auch eine militärische Rolle in Afrika spielen durfte. Kubanisch inspirierte Guerrilla-Unternehmen in Venezuela, Bolivien, Argentinien, Uruguay, Guatemala und El Salvador scheiterten allerdings kläglich oder mündeten in einen Terrorismus, der die Machtergreifung der Militärs begünstigte. In Kuba selbst förderten die Kollektivierung und eine dilettantische Industrialisierung den wirtschaftlichen Ruin. Von Chruschtschow bis Tschernenko finanzierten die Kreml-Herren mit Rubel und Rohöl einen Vorzeigesozialismus von geringer Attraktivität. Die Zahl der Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt, die nach kubanischen Kämpfern verlangten, schrumpfte in den achtziger Jahren drastisch. Und die Regierungen der blockfreien Länder zeigten keinen Bedarf mehr nach dem Wortführer Fidel, der ihnen 1979, bei ihrer großen Konferenz in Havanna, die Welt vulgärmarxistisch erklärt und das Loblied der Sowjetunion angestimmt hatte.

Zehn Jahre später, nach dem Fall der Berliner Mauer, erlebte Kuba die Implosion. Michail Gorbatschow wollte Öl nur noch gegen Bezahlung liefern und überließ die Castro-Brüder ihrem Schicksal. Gleichwohl konnte das Regime sich durchwursteln – weil die Kubaner wenig Kinder haben, weil viel Bevölkerungsüberschuss in die USA abgewandert oder im Golf von Mexiko ertrunken ist, weil viele darben, aber niemand friert, weil Bürgerrechtler in Umerziehungslagern verschwinden, weil die besten Strände – wie unter Diktator Batista – für Kubaner gesperrt sind, weil die Salsa Touristen herbeilockt und die Prostituierten einen guten Ruf haben. Drogenschmuggel für das Medellín-Kartell brachte Devisen, bis die Amerikaner Alarm schlugen und Castro seinen besten General als Sündenbock hinrichten ließ. So überlebte das Regime recht prekär in der fotogenen Exotik des Verfalls – mit Fidel als grimmigem Museumswärter, der für seine gescheiterte Revolution Eintrittsgeld verlangte.

Putschen verboten

Doch immer wenn du glaubst, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her. Es kam 1998, in Gestalt des Fallschirmspringer-Oberstleutnants Hugo Chávez Frías. Die wundersame Glückssträhne dieses venezolanischen Offiziers, der Fidels Sohn sein könnte, hatte am 4. Februar 1992 eingesetzt, mit seinem blutigen und stümperhaften Putsch.

Alles ging daneben, doch alles schlug zu seinen Gunsten aus. Sein grüner Panzer kroch in Caracas wie ein Riesenkäfer die Marmorstufen des Präsidentenpalais hinauf, doch der Präsident war nicht zu Hause. Chávez, sofort von Regierungstruppen umringt, gab kampflos auf – und wurde gebeten, seine Kumpane zur Waffenniederlegung aufzufordern. Hierzu wurde das Fernsehen benutzt, und Hugo Chávez konnte erstmals vor großem Publikum seine Lieblingswaffe zum Einsatz bringen: ein Mundwerk stärksten Kalibers.

Putsche waren seit Ronald Reagan in Lateinamerika verboten. Von Kuba und Haiti abgesehen, herrschte überall formal Demokratie. Da wirkte Chávez wie ein Anachronismus. Nur war dieser augenrollende Putschist kein Zauberlehrling des Pentagons wie die Diktatoren der siebziger Jahre, sondern ein Heilsbringer in Kampfanzug und weinrotem Barett, der mit schwärmerischem Ernst und Wolken von Spucke anti-amerikanische Verwünschungen vortrug. Den Politikern der Hemisphäre wurde ganz flau, als der Alleinunterhalter – im Gefängnis zum Märtyrer aufgestiegen – Massen und Medien zu hypnotisieren begann. Seine „Bewegung“ räumte in fünf Jahren mit Venezuelas alten Parteien auf und errang 1998 durch freie Wahlen die ganze Macht in der ölreichsten Republik.

Die erste Auslandsreise führte Hurrikan Hugo nach Havanna. Bei Fidel schien dieser Chef einer geheimen und konfusen, nach Bolívar benannten Offiziersloge, der einen notorischen Antisemiten als „geopolitischen Berater“ beschäftigte, endlich weltanschaulich Halt zu finden. Im Gegenzug bekam Kuba das rettende Erdöl, und Fidel feierte eine der erstaunlichsten Auferstehungen seit Lazarus. Bald herrschte der Eindruck vor, die Kumpanei zwischen Chávez und Castro habe bei den Latinos eine schlummernde Sehnsucht nach charismatischer Führung, revolutionärer Rhetorik und nationaler Selbstverwirklichung wachgerufen – und einen kontinentalen Erdrutsch bewirkt, der Washington verstörte. „Drei Viertel Südamerikas sind seit Chávez’ Machtantritt nach links abgedriftet“, meldete alarmierend die New York Times.

Der Arbeiterführer Lula da Silva in Brasilien, die Linksperonisten Néstor und Cristina Kirchner in Argentinien, die gemäßigten Sozialisten Tabaré Vázquez in Uruguay und Michelle Bachelet in Chile – über den Daumen gepeilt, höchst undifferenziert, wurden sie alle als „links“ eingestuft und in der breiten Schaumspur des Populisten Chávez wahrgenommen. Dieser aber hatte in Wahrheit erst im Januar 2006 erstmals einem überzeugten Anhänger und Günstling an die Macht verhelfen können: dem Indio vom Stamme der Aymara und Führer der Kokabauern Boliviens, Evo Morales, der nach gewaltsamen Ausschreitungen in vorgezogenen Wahlen den Sprung auf den Präsidentensessel schaffte. Wie Chávez hat auch Morales keine Partei, sondern eine „Bewegung“ hinter sich – Movimiento al Socialismo –, und seine erste Auslandsreise führte ihn konsequenterweise sogleich zu den beiden Staatsführern hin, die für ihn den Zeitgeist verkörpern: Hugo Chávez und Fidel Castro.

„Glaubt den Meinungsforschern nicht“, hatte Evo Morales den Massen in der Wahlnacht zugerufen. „Glaubt an mich: Wir haben gesiegt!“ Und hat er nicht Recht behalten? Während die Demoskopen dem sozialistischen Präsidentschaftskandidaten des ärmsten südamerikanischen Landes am Wahltag nur einen mäßigen Vorsprung zubilligen wollten, war Evo Morales sich seines Triumphes gewiss. In Siegerpose breitete er über den Menschenmengen von La Paz die Arme aus, im weißen Hemd und mit seiner Sängerknaben-Frisur wie ein indigener Erzengel wirkend, dem Wunderkräfte zuzutrauen sind. Die Aymara-Matronen mit ihren steifen Filzhüten, die mit Grubenstaub bedeckten Kumpel aus den fernen Zinnminen und die mit Koka-Blättern geschmückten Bäuerinnen aus dem Chapare – alle jubelten über die Verheißung des Indio Evo: „Mit mir beginnt ein neues Zeitalter.“ Ein halbes Jahrtausend nach der Unterwerfung des Inka-Reiches durch den weißen Mann habe erstmals ein Repräsentant der unterdrückten Rasse die Macht in einer Andenrepublik erobern können.

Legitimierung aus grauer Vorzeit

„Indio“ scheint eine Frage der Selbstdefinition zu sein. Im Nachbarland Peru hatte sich Präsident Alejandro Toledo mit seinem Harvard-Diplom als Indio bezeichnet. Mexikos Staatspräsident Benito Juárez, der 1876 die französischen Besatzer verjagte und ihren Marionettenkaiser, den Habsburger Maximilian, trotz aller Gnadenappelle der Mächtigen Europas erschießen ließ, war ein lupenreiner Zapoteke. Dem strengen Juristen Juárez wäre es nie eingefallen, zu seinem Amtsantritt eine vermeintliche Zapotekenkluft anzulegen, auf Ruinenresten herumzutanzen und Legitimierung aus grauer Vorzeit zu beziehen. Evo Morales indessen ging in einer Robe aus bunter Lamawolle vor Pyramidenresten in die Knie und schritt barfuß auf Rosenblättern dahin, wozu Musik aus Muschelschalen ertönte. Fünf weißgewandete „Sonnenpriester“ übergaben Evo einen Holzstab, der ihn fortan als Häuptling aller bolivianischen Urvölker ausweist.

Das „umstrittene“, also wohl erfundene Brauchtum ist harmlos, die Mittel, mit denen Morales die Wahlen erzwang, waren es nicht. Zwei verfassungsmäßige Vorgänger sind durch „Volksputsche“ gestürzt oder am Amtsantritt gehindert worden: Es genügte, dass Zehntausende straff geführter Indios aus den Slums von El Alto nach La Paz strömten und die Hauptstadt lahmlegten. Diese Operation kostete Geld, das – wie inzwischen noch manch andere Subvention – aus Caracas gekommen sein soll. Die Wahlversprechen von Morales enthielten Bedrohliches. Die Freigabe des Koka-Anbaus und die Verstaatlichung der Erdgasquellen beschworen in Washington eine albtraumartige Vision herauf: den sozialistischen Rauschgiftstaat. Nach fast drei Jahren Evo-Herrschaft steht Bolivien vor dem Zerfall: Gegenüber der Willkür der indianischen Zentralregierung greifen die reichen „weißen“ Provinzen im Tiefland gleichfalls zur Gewalt.

Auch in Ecuador hat ein Chávez-Günstling die jüngsten Wahlen gewonnen, und in Nicaragua konnte – fast 30 Jahre nach der ruinösen Revolution der Sandinisten – der alte Linksdemagoge Daniel Ortega mit Petrodollars aus Caracas sein Comeback finanzieren. Dreht die Uhr der Geschichte sich bei den Latinos – gemessen an Ostasien und Osteuropa – also rückwärts? Sollte das, was Fidel mit dem Revolutionsexport, Ché Guevara mit dem Gewehr in der Hand und Salvador Allende mit seinem minoritären Volksfront-Regime in Chile erkämpfen wollten – ein antikapitalistisches, antiimperialistisches Lateinamerika – mit 40 Jahren Verspätung doch noch Wirklichkeit werden? Die Herzen deutscher Alt-achtundsechziger – und vieler, die gegen Globalisierung und Neoliberalismus rebellieren – schlagen höher.

Frühere Ziele des Revolutionstourismus haben ja bitter enttäuscht. Welcher Linke würde heute nach China oder Vietnam pilgern? Sogar Indiens Altkommunisten in Kalkutta setzen auf Globalisierung und Fremdkapital. In Lateinamerika aber sind Mythen stärker, und neue Heilsbringer knüpfen an Verflossenes an. Evo Morales hat seinen Che im Amtszimmer hängen, Hugo Chávez stellt bei hohen Anlässen einen leeren Sessel neben sich, damit Simón Bolívar im Geiste darauf Platz nehmen kann.

Aber bei der Beschwörung des „Linksrucks“ wird selten aufgezählt, wie viele der 22 Regierungen es denn sind, auf die das Prädikat anwendbar ist. Und schon gar nicht wird klar unterschieden zwischen Fassade und Wirklichkeit, Rhetorik und Realität, öffentlicher Gestikulation und politischer Praxis. Trotz seiner Besuche in Havanna wäre Brasiliens Präsident als Repräsentant des Linksrucks eine glatte Fehlbesetzung. Von Hungermärschen und berechtigtem sozialen Protest nicht zu erschüttern, führt der einstige Metalldreher und Gewerkschaftler von VW do Brasil seine inzwischen nahezu 200 Millionen Landsleute seit sechs Jahren auf dem gleichen Kurs weiter, den sein pragmatischer Vorgänger Fernando Henrique Cardoso vorgegeben hatte. Milde Reformen, rundum unternehmerfreundliche Wirtschaftspolitik, hohe Wachstumsraten, Beteiligung der Arbeitnehmer am Aktienkapital, fette Profite für alle, die mitmachen können – und Augen zu vor der Korruption der regierenden Arbeiterpartei. So herzlich wie von Lula da Silva ist George W. Bush sonst nirgends in Lateinamerika bewirtet worden.

In Porto Alegre war Lula Gastgeber des Weltsozialforums, das sich als globalisierungsfeindliche Alternative zum Weltwirtschaftsforum in Davos profiliert. Das hält den Brasilianer aber nicht davon ab, sich gleich darauf im Schweizer Winterparadies als Chef seines exportstarken Schwellenlandes mit den Mächtigen des Kapitals an einen Tisch zu setzen. Dass er in Porto Alegre für solche Beweglichkeit ausgepfiffen wurde, hat Lula mit Gleichmut ertragen – wie es ihn auch kaum zu stören scheint, wenn Menschenrechtler ihn angreifen. Ausgerechnet er, der als mutiger Regimegegner von den brasilianischen Militärdiktaturen der siebziger Jahre verfolgt, inhaftiert und misshandelt wurde, verweigert sich der Forderung, die Schergen von damals vor Gericht zu stellen.

Im Unterschied zu den Regierenden in Argentinien, Chile und Uruguay hält Brasiliens Präsident an einem Amnestiegesetz der Militärs von 1979 fest, das Stadtguerrillas ebenso wie für Staatsterror verantwortliche Offiziere vor Verfolgung schützt; er musste sich dabei gegen seinen Justizminister durchsetzen, der in jungen Jahren Terrorist war. Lula kennt nicht nur das Grauen der Folter, sondern erinnert sich auch an die wilde Demagogie der Linken, die 1964 die Militärs zum Eingreifen bewog.

Chronische Krisen

Lula in Brasilien, Michelle Bachelet in Chile, Tabaré Vázquez in Uruguay, Alán García in Peru – diese Demokraten mit linker Vergangenheit passen ebenso wenig zu Hugo Chávez und den Castro-Brüdern wie ihre konservativen Kollegen Álvaro Uribe in Kolumbien und Felipe Calderón in Mexiko. Gegen diese Länder fallen Armenhäuser wie Kuba, Bolivien, Ecuador, Nicaragua und Paraguay – wo kürzlich ein schlauer und sloganfreudiger Exbischof von der Linken ins Präsidentenamt gehoben wurde – nicht wirklich ins Gewicht. Der Petrodollar-Milliardär Hugo Chávez hat in Lateinamerika derzeit nur einen potentiellen Verbündeten, der das Prädikat „Schwellenland“ verdient. Das ist Argentinien.

Reich, ehrgeizig und dynamisch, aber auch labil und in alten Mythen gefangen, scheint die Republik am La Plata wieder in eine ihrer chronischen Krisen zu schlittern. Cristina Kirchner, die Präsidentin, und im Hintergrund ihr Vorgänger und Ehemann Néstor streben eine Dauerherrschaft bis Ende des nächsten Jahrzehnts an – ambitioniert und skrupellos wie einst der populäre Diktator Juan Perón (1946–1955) und dessen Gattin Evita, deren Partei die beiden zwei Generationen später in den Griff bekamen. Der „Linksperonismus“ des Kirchner-Paares ist durchaus verwandt mit dem Verbalsozialismus des Oberstleutnants Chávez, der sich bei Besuchen in Buenos Aires gerne mal als Verehrer von General Perón ausgibt; nur kann Frau Kirchner für ihre Wahlgeschenke an die breite Unterschicht nicht auf die Ölquellen von Maracaibo und dem Orinoco zurückgreifen.

In ihrer Not versuchen die Kirchners, die privaten Rentenfonds zu verstaatlichen, denen viele Argentinier ihre Ersparnisse – an die 20 Milliarden Euro – anvertraut haben. Panikstimmung greift um sich: Könnte das Geld nicht alsbald, wie bei der großen Staatspleite vom Dezember 2001, in dunkle Kanäle fließen? Durch puren Zufall war vor einem Jahr, bei der Landung eines Privatflugzeugs aus Venezuela, ein Koffer mit 800 000 Dollar in bar entdeckt worden – einer von vielen Koffern, mit denen Hugo Chávez den Wahlkampf und die Geschäfte des Kirchner-Paars unterstützte. Bis dahin war der rhetorische radical chic der peronistischen Politikerin nicht sehr ernst genommen worden, weil er so gar nicht zur vorherrschenden Kleptokratie zu passen schien. Doch die Koffer aus Caracas geben zu denken. Die weltweite Finanzkrise und der Preisverfall der Agrarprodukte haben Argentinien schneller und härter getroffen als das übrige Lateinamerika. In solcher Lage ist für Cristina Kirchner die Versuchung groß, sich in Radikalisierung und Demagogie zu flüchten. Da hätte Hugo Chávez leichtes Spiel, mit ein paar Koffern mehr eine willige Genossin zu gewinnen.

CARLOS WIDMANN war Reporter der  SZ und des Spiegel und lebt heute als Autor in Paris.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 12, Dezember 2008, S. 94 - 101

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