Geblendet vor Erleuchtung
Warum die Religion in Europas Politik auch weiterhin keine Rolle spielen sollte
Amerika, Islam, China: Die Rückkehr der Religion in die Politik hat selten Segen gebracht. Europa macht es anders – dabei sollten wir bleiben
Es war vornehmlich die Zivilisierung unseliger Religionskonflikte, welche die Herausbildung moderner Staaten und Republiken beförderte, Heilige Kriege eindämmte und das Völkerrecht festigte. Mit der Säkularisierung schienen religiöse Dimensionen aus den internationalen Beziehungen verschwunden zu sein. Wir wurden „Realisten“, und daher interessieren uns Streitigkeiten um Territorien, Rohstoffe und Minderheiten, aber kaum einmal religiöse Elemente, auch wenn solche in den Konflikten um den Libanon und Nord-irland unübersehbar waren. Nach 1989 haben Samuel Huntington und andere das Ruder herumgerissen: Sie erblicken nun allerorts und unablässig Kulturkämpfe und Religionskriege, durch die Ökonomie und Strategie angeblich verblassen und multireligiöse Einwanderungsgesellschaften in Identitätskonflikte geraten.
Die wirtschaftliche Globalisierung bringt auch die religiösen Verhältnisse zum Tanzen. Wir sind ins „postwestfälische Zeitalter“ eines globalisierten Religionsmarktes eingetreten. Der Weltmarkt verflüssigte alle territorialen Grenzen, und Arbeitsmigranten mit religiösem Gepäck bildeten Diaspora-Gemeinschaften, die sich im Fall des Islam nun zunehmend als Teil einer grenzenlosen „Umma“ betrachten und Loyalitäten ausbilden, die weder einem bestimmten Herkunftsland noch einer ultramontanen Kirche gelten. Für Europa ist die religiöse Transnationalisierung besonders gravierend, denn trotz formaler Entflechtung von Politik und Religion haben sich offene und versteckte Formen von Staatskirchen gehalten, die nun unter Druck geraten. Religion und (nationale) Kultur haben sich nicht nur bei Muslimen entkoppelt, evangelikale Sekten demonstrieren ihre globale, von ethnisch-nationaler Herkunft entbundene Präsenz besonders deutlich.
Wieviel Religion verträgt die Politik?
Was also – Säkularisierung der internationalen Beziehungen oder Entsäkularisierung der zwischenstaatlichen Politik? So lau die Antwort klingen mag: Beides findet statt. Wer sich auf die „Rückkehr der Religion“ und hier besonders auf fundamentalistische Strömungen fixiert, ist ebenso einäugig wie jene, die säkulare Handlungsmaximen bei den Bildungseliten und Entscheidungsträgern für irreversibel halten. Offenbar hängen empirische Diagnose (Was ist der Fall?) und normative Konsequenzen (Wieviel Religion verträgt die nationale wie internationale Politik?) unter anderem davon ab, wie man Religion differenziert.
Sammeln wir zunächst bemerkenswerte Erscheinungen religiösen Engagements in der internationalen Arena. Es sind sieben Phänomene, die einem hier spontan einfallen: So agiert in Deutschland ein staatliches Religionsamt der Türkei (Ditib), das sich für den Bau von Moscheen und die religiöse Instruktion von Migranten zuständig sieht – wobei das noch harmlos ist im Vergleich zu den entsprechenden Vorstößen staatlicher und parastaatlicher Akteure aus Saudi-Arabien oder Pakistan. Auch werden, zweitens, Gruppen wie Hamas oder Hisbollah von islamischen Regimen gesponsert, die eine klare theokratische Option verfolgen. Spiegelverkehrt nehmen christliche und jüdische Lobbies Einfluss auf die amerikanische und israelische Außenpolitik und suchen beide zur Deckung zu bringen. Seit langem verzeichnet man, drittens, religiös inspirierte Sozialbewegungen, ob in der Entwicklungszusammenarbeit oder in Menschenrechtsfragen. Zu Faktoren staatlicher Außenbeziehungen werden sie spätestens dann, wenn sie als Nichtregierungsorganisationen kooptiert oder in Kampfzonen als Geiseln genommen werden, wie zuletzt die südkoreanischen Freikirchler in Afghanistan.
Von Gewicht ist, viertens, die Außenpolitik des Vatikan, der sich unter Johannes Paul II. mit Kommunismus wie Kapitalismus anlegte und unter Benedikt XVI. einen kontroversen Diskurs mit dem Islam pflegt, aber auch im christlichen Lateinamerika um die bedrohte Hegemonie ringt. Im weitverzweigten Katholizismus treten, fünftens, Friedensstifter wie die Gemeinschaft Sant’Egidio als Vermittler im Nahostkonflikt auf, im protestantischen Spektrum missionieren, sechstens, Pfingstler und Wiedergeborene von Nordamerika aus machtvoll in Westafrika, Mittelamerika und Ostmitteleuropa, wo Staatlichkeit gescheitert ist oder posttotalitäre Vakuen zu füllen sind. Und schließlich gibt es explizit religiös titulierte Akteure der internationalen Politik wie die Konferenz islamischer Staaten oder religiöse Vordenker, die auf die internationale Normsetzung, eventuell Rechtsgestaltung abheben.
Diese Bandbreite und Intensität religiöser Motive in der internationalen Politik können nicht verwundern, wenn man den seit jeher grenzüberschreitenden Charakter der meisten Religionsgemeinschaften in Rechnung stellt. Sie gehörten neben den Unternehmen zu den frühesten Motoren der Globalisierung und haben, mehr als diese, den Vorteil, in der lokalen Lebenswelt „geerdet“ zu sein und gleichwohl für die Menschheit sprechen zu können. Dieser transnationale Grundzug der Weltreligionen ist heute wieder eine Quelle der Irrita-tion und möglicher Konflikte: Der Westfälische Frieden hatte die Religionen entpolitisiert, die nun, da die Globalisierung Nationalstaaten „postwestfälisch“ aufweicht, im Zuge einer generellen „Privatisierung der Politik“ wieder politisch auftreten – gegen, neben und mit den Staaten.
Den wesentlichen Unterschied macht dabei offenbar, ob dies eher Arbeitsteilung, Wettbewerb oder Konfrontation anzeigt und wie der Trennungsgrundsatz respektiert wird, also der Primat des Politischen in den Staatenbeziehungen. Der politisierte Fundamentalismus vor allem im Islam bestreitet diesen Grundsatz radikal. Der heutige dschihadistische Internationalismus geht darüber noch hinaus, da er Staatenbeziehungen selbst negiert. Die unüberwindbare, im Westen aber erfolgreich „heruntergedimmte“ Weltfremdheit religiöser Transzendenz radikalisiert sich im außenpolitischen Feld, wo die Checks and Balances einer politischen Gesellschaft fehlen und kein Leviathan zu fürchten ist. Hier ersetzt Anti-Politik Realpolitik, und das mögliche Schlachtfeld monotheistischer Intoleranz sind die Mega-Cities und Santy-Towns des Südens.
Am stärksten prosperieren auf den globalen Religionsmärkten neben esoterisch-spirituellen Strömungen derzeit evangelikale Freikirchen und charismatische Pfingstler-Bewegungen, die den Mainline-Protestantismus in den USA überholt haben und sich auch im katholisch geprägten Lateinamerika, in Westafrika, im postsowjetischen Osteuropa und in ganz Asien ausbreiten. Die Informalisierung des Glaubens – „believing without belonging“ – geht auch an der stabilsten Amtskirche der Welt nicht vorbei: Der Vatikan ist mit dem Schwung episodischer Bewegungen und dezentraler Netzwerke konfrontiert und zur Anpassung gezwungen.
In dieses Bild einer „amerikanisierten“ Religionslandschaft passt überraschend gut der neofundamentalistische Islam. Auch er agiert transnational, indem er sich von den arabisch-islamischen Kernländern emanzipiert und von seiner Diaspora-Identität löst; und er wird individualistisch, indem er die Autorität konservativer Theologen und Rechtsgelehrter bestreitet und statt der Orthodoxie religiöse Erfahrung ins Zentrum rückt. Der islamische Neofundamentalismus propagiert Glauben als individuelle Erfahrung und radikalen Bruch mit der Tradition. Das macht ihn anziehend für marginalisierte Migranten der dritten Generation in den Vorstädten, die sich einer Weltgemeinschaft des kämpferischen Islam anschließen. Um das zu bekennen, sind Zeichensetzung (Kopftuch), symbolische Präsenz (Moschee), vorschriftsmäßiges Handeln (Halal-Ernährung) bedeutsam – und zunehmend die Propaganda der Tat. Diese kann religiöse Intoleranz und politischen Fundamentalismus schüren.
Abhilfe schaffen, also die Anarchie der Weltgesellschaft durch supranationale Regulierung ablösen, wollen auch zahlreiche religiöse Initiativen, die friedensstiftend und normsetzend in der internationalen Politik wirken und deren pluralistische Grundstruktur anerkennen. Nicht zufällig sind sie auf Gebieten tätig und mit Agenden befasst, wo nationalstaatliche und herkömmlich internationale Politik zu kurz greifen: im Nord-Süd-Kon-flikt, im Umwelt- und Klimaschutz, beim Schutz von Menschenrechten und Minderheiten. Es ist kein Zufall, dass Positionen, die der Außenpolitik eine Wertegrundlage geben wollen (wie Hans Küngs „Weltethos“), überwiegend religiös-kirchlicher Provenienz sind und diese Färbung auch in durchsäkularisierten Milieus wie den Vereinten Nationen erkennbar bleibt. Unter solchen Vorzeichen ist Neben-Außenpolitik durchaus erwünscht.
Dass die damit verbundene Moralisierung der Politik keineswegs unproblematisch ist, demonstriert der Einfluss der Evangelikalen auf die Außenpolitik der Vereinigten Staaten. Deren Stärke wird notorisch unter- oder überschätzt: Wähnen die einen Amerika auf einem von „Theokonservativen“ entfesselten Kreuzzug, konstatieren andere nüchtern das Scheitern sämtlicher Essentials der christlichen Rechten. Beim ersten Anlauf in den achtziger Jahren unter Reagan konnten sie kaum ein innenpolitisches Ziel (allen voran die Revision der liberalen Abtreibungspraxis) verwirklichen, am Ende der Amtszeit von Bush jr. erscheinen sie entmachtet und deprimiert. Zwischenzeitlich hatten evangelikale Kreise nachhaltigen Einfluss gerade auf die außenpolitische Agenda gewonnen – konzeptionell, indem sie den immer schon manichäischen Zug zur Bekämpfung von Evil Empires nach 2001 radikalisierten, im Besonderen, indem sie Entwicklungshilfe, Aids-Bekämpfung, Menschenrechtspolitik und zuletzt den Umweltschutz christlich kodierten und konditionierten.
Nicht nur die US-Innenpolitik wurde bis an die Grenze des Verfassungsbruchs „glaubensbasiert“. Besonders betroffen ist die Nahostpolitik, wo der christliche Zionismus einflussreicher sein dürfte als die ominöse Jewish Lobby. Beigetragen hat dazu, dass die soziale Bewegung der christlichen Rechten sich erheblich professionalisiert und in der Republikanischen Partei verankert hat, dass sie dabei ins katholische und nicht-christliche Milieu ausgreift und sozial fest in der Mittel- und Oberschicht verankert ist.
Und wie steht es mit der deutschen Außenpolitik? Deutschland gehört zu den am stärksten säkularisierten Gesellschaften des Westens, was vor allem dem Wohlstandsniveau geschuldet ist. Eine Rückkehr des Religiösen geschieht hier zu Lande am ehesten einwanderungsbedingt, durch den Zuzug von Spätaussiedlern aus Osteuropa und von türkischen und arabischen Muslimen. Letztere pflegen ethnisch-religiöse Loyalitäten, so dass im Umkehrschluss nun die christlichen Grundlagen der Europäischen Union herausgestrichen werden und reziproke Religionsfreiheit für die christliche Minderheit in der Türkei als informelles Beitrittskriterium eingeführt worden ist, zunehmend in kulturkämpferischer Weise.
Eine umfassende Politisierung ist mit diesem Rekurs auf das christliche Abendland nicht verbunden, doch abgesunkene, bisher unbewusste christliche Traditionen fließen als Leitlinie ethisch-moralischer Überzeugungen deutlicher in die außenpolitische Agenda und europäische Identitätspolitik ein. Angesichts fundamentalistischer Exzesse und der Ambivalenz glaubensbasierter Politik in den USA, aber auch eines interessegeleiteten Konfuzianismus in der Weltpolitik Chinas, das im Inneren umfassende Religionsfreiheit verweigert, besteht nicht die geringste Veranlassung, die Moderation religiöser Ansprüche aufzugeben, auch wenn die historische Ausnahmestellung Europas damit noch deutlicher hervortritt. Wir Europäer hatten uns, daran sei erinnert, entschlossen, unsere Politik nicht mehr durch göttliche Offenbarung erleuchten zu lassen.
Prof. Dr. CLAUS LEGGEWIE ist Direktor des Kulturwissenschaftlichen Instituts in Essen.
Internationale Politik 9, September 2008, S. 98 - 101