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01. Nov. 2008

Der Klügere rüstet nach

Warum atomare Abschreckung angesichts neuer Gefahren unverzichtbar ist

Taten statt Warten, forderte Oliver Thränert in der letzten Ausgabe dieser Zeitschrift – und skizzierte die Vision einer atomwaffenfreien Welt. Lieber Realist als Utopist, antwortet an dieser Stelle Michael Rühle: Vor einem militärischen Wandel muss der politische Wandel stehen. Bis dahin bleibt der atomare Schutzschild der USA zwingend – auch für Europa.

Nukleare Fragen sind Glaubensfragen jenseits der empirischen Wissenschaft. Das vorrangige Ziel von Nuklearwaffen ist die Verhinderung eines Konflikts durch die Abschreckung des Gegners. Da sich jedoch nie eindeutig beweisen lässt, weshalb ein Konflikt nicht eintrat, bleibt die kriegsverhindernde Funktion dieser Waffen letztlich eine bloße Annahme.

Bei Fragen, die nicht abschließend beweisbar sind, ist intellektuelle Disziplin in besonderem Maße gefordert. Dies gilt auch für das Nachdenken über die Zukunft der „erweiterten Abschreckung“ – eines Konzepts, das zu einem zentralen Pfeiler westlicher Sicherheits- und Ordnungspolitik geworden ist. Angesichts einer neuen Debatte über die Zukunft von Rüstungskontrolle und nuklearer Nichtverbreitung, in der wesentliche Merkmale der erweiterten Abschreckung bereitwillig zur Dis-position gestellt werden, ist es daher besonders wichtig, zwischen Fakten und Fiktionen zu unter-scheiden.

Den Rufen nach weltweiter nuklearer Abrüstung haftete stets etwas Naives an. Auf die drei entscheidenden Fragen nuklearer Totalabrüstung hatten ihre Apologeten keine wirklich überzeugenden Antworten: Wie kommt man auf Null? Wie bleibt man auf Null in einer Welt, in der das Wissen um den Bau von Kernwaffen fort besteht? Und wie garantiert man wirksame Abschreckung ohne Kernwaffen? Ungeachtet ihrer moralischen Integrität scheiterten die „Abolitionisten“ regelmäßig an dieser realpolitischen Hürde.

Seit sich aber mit Henry Kissinger, Sam Nunn, William Perry und George Shultz vier lupenreine Realisten mit der Forderung nach der Abschaffung aller Nuklearwaffen hervorgetan haben, steht die Welt Kopf. Die Vision einer nuklear-waffenfreien Welt ist buchstäblich über Nacht zum intellektuellen Mantra geworden. Manchen politischen Parteien in Europa kommt diese Entwicklung sehr gelegen: Wie oft passiert es schon, dass man seinen Abrüstungsimpulsen freien Lauf lassen kann und dabei die USA auf seiner Seite weiß? Die Atlantiker hingegen geraten unter Druck. Wer will schon nörgeln, wenn Amerika sein Herz für die Abrüstung entdeckt?

Die entscheidenden Thesen der neuen Debatte sind ebenso einfach wie eingängig: Um den Alptraum einer unberechenbaren multi-nuklearen Welt zu verhindern, müssten die Kernwaffenmächte über ihren Schatten springen und sich die Vision einer nuklear-waffenfreien Welt zu eigen machen. Nur so könne man den Vorwurf vieler Nicht-Kernwaffen-Staaten, man betreibe eine Politik der „double standards“, entkräften und die moralische Autorität wieder gewinnen, die für eine dynamische und weitreichende Abrüstungspolitik erforderlich sei. Auch wenn das Ziel der völligen Abschaffung nuklearer Waffen vielleicht nie erreicht werden könne, so gelte es jetzt, zu handeln.1

Als ersten Schritt müssten die Kernwaffenmächte ihre eigene Abhängigkeit von Nuklearwaffen reduzieren. Für den Westen bedeute dies vor allem den Abzug der im Rahmen der NATO in Europa stationierten Atomwaffen, die ihre militärische Bedeutung durch das Ende des Ost-West-Konflikts ohnehin längst verloren hätten. Das Prinzip der nuklearen Teilhabe, demzufolge sich europäische NATO-Staaten durch die Stationierung einer geringen Zahl amerikanischer Nuklearwaffen und Trägerflugzeuge an der nuklearen Mission des Bündnisses beteiligen, habe sich in einem bedrohungsfreien Europa überlebt. Bis zur weltweiten Abschaffung aller Nuklearwaffen bliebe die „erweiterte Abschreckung“ der USA für Europa auch ohne derartige militärische Symbolik glaub-würdig. Der Abzug dieser Relikte des Kalten Krieges wäre hingegen ein positives Signal, um die Bedeutung der nuklearen Nichtverbreitung zu untermauern.

Doch ganz so eindeutig ist die Sache nicht. Für die Logik der nuklearen Teilhabe sprechen auch nach dem Ende des Kalten Krieges gute Gründe. Und auch der Zusammenhang zwischen erweiterter Abschreckung und Nichtverbreitung ist weitaus komplexer, als es die neue Nukleardebatte vermuten lässt. Das Urteil, die in der NATO institutionalisierte erweiterte Abschreckung sei kontraproduktiv, weil abrüstungsfeindlich, greift jedenfalls zu kurz. Bei näherer Betrachtung entpuppt es sich als eine eklatante Fehleinschätzung der nuklearen Realität.

Neue nukleare Realität

Natürlich ist die militärische Implementierung der erweiterten Abschreckung, wie sie im Rahmen der NATO praktiziert wird, nicht zwingend. In anderen Teilen der Welt ist das Konzept nicht an die Stationierung von Nuklearwaffen oder an komplexe politische Teilhabemechanismen geknüpft. Warum also nicht wie Japan, Taiwan und andere Länder mit einer amerikanischen Sicherheitsgarantie leben, die nicht auf vor Ort stationierter nuklearer Hardware beruht?

Die Option einer rein „virtuellen“ Nukleargarantie hat jedoch ihre Tücken. Gerade das Beispiel Japan zeigt, dass das amerikanische Schutzversprechen keineswegs als umfassend glaubwürdig empfunden wird. Bei jeder Nordkorea Krise wird das amerikanische Commitment aufs Neue hinterfragt – und eine Debatte über die Vor- und Nachteile einer nationalen nuklearen Option löst in Japan inzwischen keinen politischen Skandal mehr aus. Auch andere Verbündete der USA trauten dem Schutz des großen Bruders nicht immer. Sowohl Taiwan als auch Südkorea gaben nur nach massivem amerikanischen Druck ihre atomaren Ambitionen auf.

Die neue nukleare Realität zeigt sich nirgendwo deutlicher als im Nahen Osten und am Golf. So haben als Reaktion auf das iranische Nuklearprogramm inzwischen zwölf Staaten aus der Region angekündigt, zivile Nuklearprogramme betreiben zu wollen. Nicht alle diese Programme werden am Ende in militärische münden. Europa hätte dann aber eine Nachbarregion, in der jeder konventionelle Konflikt nuklear eskalieren könnte.

Mehr noch. Von der deutschen Sicherheitsdebatte nahezu unbemerkt hat die Globalisierung im Laufe der letzten beiden Jahrzehnte nahezu alle traditionellen Vorstellungen über die nukleare Nichtverbreitung außer Kraft gesetzt. Durch das Entstehen privater transnationaler Liefernetzwerke sind Staaten mit nuklearen Ambitionen längst nicht mehr auf die Hilfe traditioneller Nuklearmächte angewiesen. Ein Regime, das sich Zentrifugen oder sogar Baupläne von Sprengköpfen beschaffen will, kann sie auf dem Schwarzmarkt erwerben oder von anderen nuklearen Emporkömmlingen, etwa im Austausch gegen die Lieferung eigener ballistischer Raketen, erhalten. Der Iran, Libyen und Pakistan haben dies längst vorexerziert. Man kann auch, wie der Irak, das spaltbare Material aus „For-schungsreaktoren“ plündern, oder, wie es Nordkorea und der Iran getan haben, Urananreiche-rungsprogramme über Jahre im Verborgenen betreiben. Die sich abzeichnende Renaissance ziviler Kernkraft wird viele dieser Probleme noch verschärfen. Das Ergebnis: kein sprunghafter Anstieg bei der Zahl erklärter Nuklearmächte, aber eine Zunahme „virtueller“ Nuklearmächte, die ihr ziviles Nuklearprogramm binnen kürzester Zeit militärisch nutzen können.

Amerikanische Ordnungspolitik

Diese Entwicklungen zeigen, wie fragwürdig die weit verbreitete Annahme ist, die Nichtverbreitungserfolge der Vergangenheit seien in erster Linie dem Atomwaffen-Sperrvertrag zu verdanken. Für die meisten Nationen war ein nuklearer Status schlicht kein erstrebenswertes Ziel. Ändern sich jedoch die politischen und militärischen Rahmenbedingungen, so ändert sich auch das Kosten-Nutzen-Kalkül. Die nukleare Abstinenz vieler Staaten in geo-politischen Schlüsselregionen ist eben kein Naturzustand, sondern stand und steht unter dem Vorbehalt einer berechenbaren, de facto von Amerika garantierten internationalen Ordnung. Es ist daher kein Zufall, dass sich Indizien eines nuklearen Dominoeffekts genau dort zeigen, wo die Zweifel an der Wirksamkeit der amerikanischen Ordnungsrolle besonders ausgeprägt sind.

Vor diesem Hintergrund wird zugleich deutlich, weshalb die Logik der nuklearen Teilhabe ihre Bedeutung nicht verloren hat. Sie soll sicherstellen, dass Europa die Nervosität erspart bleibt, die man gegenwärtig in Asien und dem Nahen Osten beobachten kann. In einem sicheren Europa scheinen derlei Überlegungen ohne Belang. Doch bereits die russische Überreaktion im Konflikt mit Georgien zeigte, wie schnell sich Wahrnehmungen ändern können. Obwohl die Ereignisse im Kaukasus keine unmittelbaren militärischen Auswirkungen auf Europa hatten, reagierten die mittel- und osteuropä-ischen NATO-Staaten mit der Forderung nach einer Revision der Verteidigungsplanung des Bündnisses sowie nach der Einrichtung militärischer Installationen auf ihrem Territorium. Hier zeigen sich die Grenzen einer „virtuellen“ Bündnispolitik, in der Bündnissolidarität weitgehend ohne militärische Symbolik definiert werden soll. Noch wagt niemand vorherzusagen, wie die Lage nach einem iranischen Nukleartest und einem anschließenden nuklearen „coming out“ Israels aussehen wird.

Kurzum: In einer Welt, in welcher der technische Fortschritt unaufhaltsam voranschreitet, in der sich der Nahe Osten zu nuklearisieren droht, in der neue aufstrebende Mächte eine riskante Balance-of-power-Politik betreiben, in der die Konkurrenz um Rohstoffe sogar eine Zunahme zwischen-staatlicher Kriege befürchten lässt und in der Terrorgruppen nach Massenvernichtungswaffen streben, ist es nur eine Frage der Zeit, bis sich Europa in einer weit weniger komfortablen Lage wiederfinden wird. Der Ruf nach amerikanischem Schutz würde wieder lauter. Und die zentrale Funktion der nuklearen Teilhabe, Nordamerika und Europa demonstrativ als einheitlichen Sicherheitsraum zu definieren, erschiene plötzlich nicht mehr als ein Überbleibsel des Kalten Krieges, sondern als zukunftsfähige, weil nichtprovokative Form kollektiver Sicherheitsvorsorge.

Doch sind derartige Überlegungen nicht geradezu obszön angesichts der neuen globalen Abrüstungschancen? Keineswegs. Denn der Zusammenhang zwischen Abrüstung und Nichtver-breitung ist alles andere als eindeutig. Die weitreichenden nuklearen Abrüstungsschritte der USA und Russlands nach dem Ende des Kalten Krieges hatten jedenfalls keinen erkennbaren Einfluss auf die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen in anderen Regionen der Welt.

Der Iran wird seine nuklearen Ambitionen nicht deshalb aufgeben, weil die USA die Raison d’être von Kernwaffen in Frage stellen oder weil die NATO ihre nukleare Teilhabe aufgibt. Und auch Indien, Pakistan oder China werden sich von derlei Schritten kaum beeindrucken lassen, ganz zu schweigen von Russland, das die Rolle von Nuklearwaffen in seiner Sicherheitsdoktrin sogar noch herausgehoben hat und dessen Verteidigungshaushalt längst wieder zweistellige Wachstumsraten auf-weist. Aus diesen Gründen spricht vieles dafür, dass der geforderte globale Abrüstungsdialog schon bald zum westlichen Selbstgespräch verkümmern wird.

Die Hoffnung, durch das eigene Beispiel eine positive und unumkehrbare Abrüstungsdynamik in Gang setzen zu können, scheiterte schon einmal. Bereits in den achtziger Jahren glaubten viele, den Ost-West-Konflikt durch einseitige Veränderungen im westlichen Rüstungsdispositiv über-winden zu können. Doch der Kalte Krieg endete nicht durch westliche Selbstentwaffnung, sondern durch den politischen Wandel in Osteuropa und der Sowjetunion. Politischer Wandel führte zu militärischem Wandel – und nicht umgekehrt. Die überzogenen Erwartungen an die politische Signalwirkung einseitiger Maßnahmen entpuppten sich am Ende als negativer Militarismus, der den Zusammenhang zwischen Politik und Rüstung auf den Kopf stellte und folglich zum Scheitern verurteilt war.

Im globalen Zusammenhang gilt dies ebenso: Eine nachhaltige Veränderung der internationalen Sicherheitslandschaft ist nicht in erster Linie durch eine neue westliche Sicherheits- und Rüstungspolitik zu erreichen, sondern nur durch eine Politik des demokratischen Wandels, die langfristig jene Sicherheitsdilemmata auflöst, aus denen nukleare Ambitionen entstehen.

MICHAEL RÜHLE ist stellvertretender Leiter der Politischen Planungseinheit des NATO-Generalsekretärs. Der Autor gibt seine persönliche Meinung wieder.

  • 1Vgl. Oliver Thränert: Abschied von der Abschreckung. Amerika läutet den Kurswechsel zur atomaren Abrüstung ein, Internationale Politik, Oktober 2008, S. 90–95.