Kommentar

01. Mai 2020

Der Westen sollte sich nicht unterschätzen

Ein Kommentar

Westlessness“ hieß das Motto der diesjährigen Münchner Sicherheitskonferenz. Der Titel war gut gewählt, suggerierte er doch sowohl die innere Zerrissenheit des Westens als auch seine Unersetzbarkeit für eine gerechte und stabile Weltordnung. Dass der Westen global an Einfluss verlieren wird, lässt sich kaum bezweifeln. So nimmt der Anteil nichtwestlicher Staaten an der Weltwirtschaft stetig zu. Der wirtschaftliche Aufstieg des Westens, der um die Mitte des 18. Jahrhunderts begonnen hatte, ist zu Ende. 2030 wird China die USA wirtschaftlich überflügelt haben. Asien wird dann stärker sein als Nordamerika und Europa zusammen. Der relative wirtschaftliche – und damit wohl auch politische – Abstieg des Westens ist also eine Tatsache. Und mit diesem Abstieg, so befürchten viele, wird auch eine Verdrängung der Werte einhergehen, für die der Westen steht: Demokratie, Offenheit und Toleranz.



Doch ist die Katerstimmung, die derzeit das politische Feuilleton durchzieht, berechtigt? Mehrere Gründe sprechen jedenfalls dafür, dass der Westen seinen eigenen Abstieg durch kurzsichtige und übertrieben pessimistische Analysen regelrecht selbst herbeischreibt.



Erstens, Statistiken sind nicht alles. Der noch in den 1980er Jahren prophezeite Aufstieg Japans zur neuen Supermacht endete abrupt, und von den fünf BRICS-Staaten haben weder Brasilien noch Indien oder Südafrika so reüssiert wie vorhergesagt. Russlands einseitig auf Rohstoffexport ausgelegte Wirtschaft stagniert auf dem Niveau Italiens. Lediglich China kann einen echten wirtschaftlichen, technologischen und militärischen Aufstieg vorweisen. Allerdings flacht die Wachstumsrate ab, das Land ist mit praktisch allen Nachbarn in territoriale Streitigkeiten verwickelt, und eine alternde Gesellschaft und seine immer restriktiver werdende Innenpolitik werfen die Frage auf, ob der expansive wirtschaftliche wie auch außenpolitische Kurs beliebig lange durchzuhalten sein werden. Am wirtschaftlichen Aufstieg Asiens zweifelt niemand; an der Stabilität einer Region, in der sich durch Nationalismus, gesellschaftliche Spannungen und rasante militärische Aufrüstung Konfliktmuster herausbilden, die fatal an die europäischen Großmachtrivalitäten des späten 19. Jahrhunderts erinnern, bleiben dagegen Zweifel angebracht.



Zweitens, der Westen definiert sich im Vergleich zu seinen Herausforderern nicht so, wie er ist, sondern so, wie er glaubte, einst gewesen zu sein. Der Westen, dessen Krise heute beklagt wird, ist ein imaginärer Westen, den es so nie gab. Wenn manche heute den Brexit für die größte Krise in der Geschichte des europäischen Einigungsprozesses halten oder die NATO-Schelte von Trump oder Erdoğan als Anfang vom Ende des Bündnisses interpretieren, dann vergessen sie, dass die Suez-Krise oder der Austritt Frankreichs aus der Militärstruktur der NATO den Westen in viel tiefere Krisen gestürzt hatten. Innerhalb des Westens waren Kontroversen über politische, wirtschaftliche und militärische Fragen nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Kurzum: Ein „goldenes Zeitalter“ des Westens gab es nie. Wenn man es dennoch zum Vergleichsmaßstab für das Abschneiden Europas gegenüber seinen neuen globalen Konkurrenten macht, nimmt es kaum Wunder, dass der Westen unterliegen muss.



Dies führt zum dritten intellektuellen Kurzschluss der aktuellen Debatte: der Annahme, es mit höchst raffinierten, unfehlbaren Gegnern zu tun zu haben. Die Tendenz, seine Herausforderer überzubewerten, zeigt sich besonders deutlich im militärischen Bereich. Hier haben sich Teile der westlichen Strategic Community ohne Not auf eine Debatte eingelassen, die den Westen schwächer aussehen lässt, als er wirklich ist. So werden die Streitkräftevergleiche zwischen den USA und China nach wie vor rein quantitativ und ohne Einbeziehung qualitativer Faktoren vorgenommen. Das Ergebnis fällt entsprechend alarmistisch aus, spiegelt aber nicht annähernd die realen militärischen Fähigkeiten der Kontrahenten wider. Russland wiederum ist zwar der NATO militärisch unterlegen, doch durch zynische Fake-News-Kampagnen, Cyber-Angriffe und Wahlkampfbeeinflussung, so das neue Narrativ, spalte Russland die westlichen Gesellschaften und unterlaufe so den Zusammenhalt von NATO und EU. In dieser Argumentation werden übliche innerwestliche Auseinandersetzungen und bekannte strukturelle Schwächen offener Gesellschaften zum Ergebnis erfolgreicher russischer Strategie. Moskau wird damit ein Einfluss auf den Westen zugeschrieben, der nicht annähernd der Realität entspricht.



Der vierte Kurzschluss der Debatte besteht in der Behauptung, der Westen sei nur durch ein Vereinigtes Europa zu retten. Nur ein Europa, das vor allem auch sicherheitspolitisch mit einer Stimme spreche, habe in einer Welt der „Fleischfresser“ (Sigmar Gabriel) noch eine Chance, seine Interessen durchzusetzen. Offensichtlich hoffen manche, durch die dramatische Beschwörung des Abstiegs des Westens eine neue Aufbruchstimmung in Europa zu erzeugen. Doch Europa ist kein Nationalstaat, der das Machtvakuum, das ein sich zurückziehendes Amerika hinterlassen würde, kompensieren könnte. Europa mag seine aktuellen wirtschaftlichen Krisen und populistischen Versuchungen irgendwann wieder hinter sich lassen, aber ein Konsens in der Außen- und Sicherheitspolitik, der auch militärische Einsätze und sogar das nukleare Dossier einschließen müsste, ist nirgendwo in Sicht. Aus diesem Grund sind derlei Forderungen – einschließlich der obligatorischen Forderung nach einem Deutschland, das endlich „mehr Verantwortung“ übernehmen müsse – im Kontext der „Westlessness“-Debatte kontraproduktiv. Wer Unerreichbares zur Bedingung des Erfolgs macht, muss scheitern.



Weniger Panik, mehr Gelassenheit

Fünftens, der Westen lernt. Auch wenn den westlichen Wohlstandsgesellschaften immer wieder vorgeworfen wird, sich gegen den unbequemen Wandel zu stellen, zeigt sich nicht erst seit der Corona-Pandemie, dass der Westen auf tiefgreifende Veränderungen reagieren kann. Im Gegensatz zu „gelenkten Demokratien“ (Putin)  wie Russland oder Ein-Parteien-Staaten wie China verfügen die westlichen Demokratien zwar nicht über alle Hebel der Macht, doch der Westen ist deshalb noch lange nicht wehrlos. Beispiele hierfür sind die neue Debatte über die Beschränkung chinesischer Investitionen in kritische westliche Infrastruktur, die schnellere und offensivere Reaktion auf russische und chinesische Propaganda, die Anerkennung des Cyberspace als eigenständiges Operationsgebiet, die Entwicklung von Cyber-Sanktionen, die Intensivierung der nachrichtendienstlichen Zusammenarbeit und schließlich die Erhöhung der Militärhaushalte. Das alles zeigt, dass der Westen nicht gewillt ist, seinen Herausforderern die Initiative zu überlassen.



Gründe, um den Westen an den Rand des Scheiterns zu schreiben, finden sich immer. Dennoch ist das düstere Bild eines erschöpften und uneinigen Westens, der sich einer Phalanx von ebenso raffinierten wie rücksichtslosen Herausforderern gegenübersieht, nicht nur falsch, sondern schädlich. Es verführt dazu, die Schwächen dieser Herausforderer zu unterschätzen, und lässt sie mächtiger erscheinen, als sie in Wahrheit sind. Umgekehrt verkauft es den Westen unter Wert, indem es ihn an perfektionistischen Maßstäben misst. Wenn der Westen in einem von Konkurrenz geprägten internationalen Umfeld bestehen will, bedarf es weniger Panik und etwas mehr Gelassenheit.



Michael Rühle leitet das Referat „Hybride Herausforderungen und Energiesicherheit“ im Internationalen Stab der NATO. Er gibt hier ausschließlich seine persönliche Meinung wieder.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, Mai/Juni 2020, S. 110-111

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