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01. Juni 2003

Zukunftsgedanken

Aufstieg oder Niedergang amerikanischer Macht?

Der militärische Sieg über Irak hat die Sonderrolle der Vereinigten Staaten in der Weltpolitik demonstriert. Werden in Zukunft die USA ihre Macht fast uneingeschränkt zu einer Neuordnung der gefährlichsten Krisenherde der Welt einsetzen können? Stephan Bierling stellt zwei Bücher vor, in denen zwei führende Köpfe der neokonservativen bzw. neoliberalen Denkschule in den USA versuchen, auf diese Frage eine Antwort zu geben.

Mit dem militärisch überzeugenden Sieg gegen Irak und der Entmachtung Saddam Husseins haben die USA ihre Sonderrolle in der heutigen Weltpolitik so deutlich demonstriert wie nie zuvor. Stehen wir also vor einem Jahrhundert, in dem die Vereinigten Staaten ihre Macht fast uneingeschränkt zu einer Neuordnung der gefährlichsten Krisenherde der Welt einsetzen werden, ohne auf Bündnispartner und Rivalen Rücksicht nehmen zu müssen? Oder erleben wir im Moment den Zenit amerikanischen Einflusses, von dem aus der Weg nach unten führt?

Mit Robert Kagan und Charles Kupchan geben zwei der profiliertesten Vertreter der jüngeren Generation außenpolitischer Denker in den USA Antworten. Wie nicht anders zu erwarten, wenn zwei führende Köpfe der neokonservativen und liberalen Denkschule indirekt die intellektuellen Klingen kreuzen, fallen jene ganz unterschiedlich aus.

Robert Kagan, dessen Buch eine erweiterte Version seines aufsehenerregenden Aufsatzes „Power and Weakness“ darstellt, meint, „dass wir gerade erst in eine lange Ära amerikanischer Hegemonie eingetreten sind“ (S. 104). Der Hauptgrund dafür liegt nach Kagan darin, dass die Europäische Union – die einzige Macht mit dem ökonomischen Potenzial, den USA in der Weltpolitik Partner zu sein bzw. Paroli zu bieten – weder den dafür nötigen Gestaltungswillen aufbringt noch die notwendigen militärischen Ressourcen bereit stellt. Die Kontinentaleuropäer vor allem richten es sich gemütlich ein in ihrem (durch die Vereinigten Staaten) befriedeten Teil der Welt, ihre Vorstellungen werden geprägt von der Erfahrung des langen Friedens der letzten mehr als fünfzig Jahre, den sie in Anlehnung an Immanuel Kant als „ewigen Frieden“ empfinden. Die Gefahren außerhalb Europas, wie die Entwicklungen der neunziger Jahre auf dem Balkan gezeigt haben, unmittelbar vor den EU-Grenzen, wo Despoten und Gewalt oft den Ton angeben, nehmen sie kaum wahr. In dieser Hobbesschen Welt zählt auch nur, so Kagan, wer den Unruhestiftern in einer Sprache entgegentreten kann, die diese auch verstehen: jener der Drohung mit militärischer Macht.

Da die Europäer aber nach 500 Jahren globaler Dominanz durch zwei Weltkriege zu bestenfalls regionalen Akteuren abgestiegen sind, zimmern sie sich eine Ideologie, die diese machtpolitischen Realitäten spiegelt. Die weltpolitischen Aufsteiger des 20. Jahrhunderts, die Amerikaner, entwickeln ebenfalls eine ihre Machtposition reflektierende Weltanschauung. Kagan analysiert: „Diese ganz unterschiedlichen Blickwinkel haben naturgemäß unterschiedliche strategische Einschätzungen hervorgebracht, unterschiedliche Beurteilungen von Bedrohungen und den geeigneten Mitteln, diesen zu begegnen, unterschiedliche Interessenkalküle und schließlich unterschiedliche Einschätzungen des Völkerrechts und internationaler Institutionen“ (S. 15).

Da Europa seinen Abstieg abfedern möchte und den eigenen Einflussverlust fürchtet, versucht es, die Supermacht mit aller Kraft durch Verweise auf die Bedeutung von Multilateralismus, internationalen Institutionen und Regimen sowie das Völkerrecht zu fesseln. Die Vereinigten Staaten hingegen betrachten diese Einbindungsversuche als Schmälerung ihrer Handlungsfreiheit und wollen sich wie Gulliver einst aus dem von den (europäischen) Liliputanern geschnürten Geflecht von Stricken lösen. Das schürt auf beiden Seiten Ressentiments. Kagan lässt keinen Zweifel daran, dass sich in diesem ungleichen Kampf letztlich der stärkere, sprich: Washington, durchsetzen wird. Aber selbst der Verfechter amerikanischer Suprematie gibt sich in den letzten Sätzen des Buches versöhnlich: Die USA sollten auf die Europäer zugehen und ihre Wünsche nach Multilateralismus und einer Herrschaft des Rechtes so weit wie möglich respektieren, schon um international Kapital an gutem Willen anzuhäufen für die Fälle, wo unilaterales Vorgehen unvermeidbar ist.

Charles Kupchan könnte Kagans letzter Forderung nach einer atlantischen Annäherung nur zustimmen. Allerdings lautet seine Begründung, dass die USA die Europäische Union eher früher denn später als wichtigen weltpolitischen Partner brauchen werden, weil sich die amerikanische Hegemonie unweigerlich ihrem Ende zuneigt. Drei Gründe macht er dafür verantwortlich:

Erstens sei die EU kein weltpolitischer Zwerg, wie Kagan behauptet, sondern ein wichtiger Spieler in der globalen Politik: Beim Handel und in Währungsfragen sind Brüssel bzw. Frankfurt zum Konkurrenten Washingtons aufgestiegen, auf dem Balkan und in Afghanistan spielen die Europäer eine wichtige diplomatische Rolle und sichern mit ihren Streitkräften den Frieden. Gegen den Widerstand der USA hat die Europäische Union geschlossen die Etablierung eines Internationalen Strafgerichtshofs und das Kyoto-Protokoll unterstützt. Schließlich stellen die Europäer den Vereinigten Staaten auch in der Wertefrage ein eigenes Konzept gegenüber, verfolgen eigene soziale Modelle und organisieren ihre Gesellschaften anders. Der einst in Interessen und Werten vereinte Westen zerfällt immer mehr in zwei rivalisierende Hälften, die amerikanische Vormachtstellung in der freien Welt gehört bald der Vergangenheit an.

Zweitens ist die amerikanische Bevölkerung immer weniger bereit, ihre internationalistische Ausrichtung aus den Jahren des Kalten Krieges beizubehalten. An ihre Stelle treten unilaterale und neoisolationistische Verhaltensmuster, die einer Fortsetzung der Rolle als Weltpolizist zuwiderlaufen. Die Reaktion auf die Terrorattacken vom 11. September 2001 wird diese Rückzugslust vom globalen Engagement nur kurzfristig dämpfen. Angesichts populistischer Forderungen, sich aus weltweiten Verpflichtungen zu verabschieden, angesichts der wachsenden ethnischen Heterogenität der USA, angesichts der wachsenden regionalen Diversifizierung in Amerika wird es zudem immer schwieriger, einen innenpolitischen Konsens für die dauerhafte Teilnahme an der internationalen Politik zu erreichen.

Drittens schließlich wirkt sich der Übergang vom industriellen zum digitalen Zeitalter auf die amerikanische Hegemonialstellung aus. Unternehmensskandale, abnehmende Bürgerbeteiligung, politischer Zynismus, eine Verwässerung der nationalen Identität der USA schwächen die Demokratie und damit die Fähigkeit ihrer Führer, an der internationalen Politik mitzuwirken.

„Die USA können und sollten dem Ende der amerikanischen Ära keinen Widerstand entgegenbringen“, folgert Kupchan aufgrund seiner Analyse (S. 247). Jeder Versuch, dies zu tun, würde nur die Konflikte mit Europa und Asien verstärken. Vielmehr müssen die Vereinigten Staaten alles daran setzen, den Übergang von der Uni- zur Multipolarität mit „the right politics and the right policies“ zu gestalten, so dass Stabilität und Wohlstand auch in Zukunft gesichert sind. Um die mit multipolaren Systemen unweigerlich verbundenen Machtrivalitäten zu reduzieren, sollten die USA auf strategische Zurückhaltung, den Aufbau neuer und die Stärkung alter multilateraler Organisationen sowie auf soziale Integration bauen. Konkret heißt das: aufsteigenden Mächten, insbesondere den Europäern, ein größeres Gewicht beim Management der internationalen Politik einräumen; ein Direktorat der Großmächte mit den USA, Europa, Russland, China, Japan und einigen Entwicklungsländern als Teilnehmern einrichten, die weltpolitische Probleme beraten und im Konsens entscheiden; Demokratie und Menschenrechte fördern, weil sie das Gemeinschaftsgefühl zwischen Staaten fördern. Dies alles könne den USA aber nur gelingen, wenn sie die bröckelnden Fundamente ihrer eigenen Gesellschaft und ihrer demokratischen Institutionen zu stärken vermögen.

Wer hat nun Recht in diesem Disput, um den sich die Auseinandersetzung zwischen Europäern und Amerikanern, aber auch zwischen Europäern und zwischen Amerikanern auf Jahre hinaus drehen wird? Zunächst ist festzuhalten: Beiden Autoren sind brillante Analysen gelungen, die so kraftvoll, klar und bestechend argumentieren, wie man es in der amerikanischen außenpolitischen Debatte seit Jahren nicht erlebt hat, von der europäischen ganz zu schweigen. Allerdings fußt ein Teil der Dynamik ihrer Thesen darauf, dass sie auf Prämissen basieren, die bei näherem Hinsehen brüchig scheinen: Kagan, indem er annimmt, die USA verfügten über den Willen und die Kapazitäten, die Neugestaltung der Welt im Alleingang zu schultern. Wer sich aber an die ursprünglichen Ideen von George W. Bush erinnert, die geringes Interesse an globalen Problemen erkennen ließen, und die hohen Kosten weltpolitischen Engagements mit einbezieht, wird zweifeln, wie lange sich Washington außenpolitischen Aktivismus leisten kann und will. Kupchan, indem er den Aufstieg Europas als unabänderlich und nur als eine Frage der Zeit ansieht; wer sich die frustrierenden Bemühungen der EG bzw. EU um außen- und sicherheitspolitische Handlungsfähigkeit vergegenwärtigt, wird wohl zu dem Schluss gelangen, dass ein globaler Akteur Europa – wenn überhaupt – eher in der zweiten als in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts Gestalt annehmen wird. Wessen Vorhersagen eher zutreffen werden, hängt wesentlich auch davon ab, ob die Welt in den nächsten Jahren sich in eine Hobbessche oder Kantsche Richtung bewegen wird. Europa dürfte sich Kupchans Szenario wünschen, sollte aber auf das von Kagan vorbereitet sein.

Robert Kagan, Macht und Ohnmacht. Amerika und Europa in der neuen Weltordnung, Berlin: Siedler 2003, 127 S., 16,00 EUR.

Charles A. Kupchan, The End of the American Era. U.S. Foreign Policy and the Geopolitics of the Twenty-first Century, New York: Knopf 2002, 391 S., 27,95 $.