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01. Mai 2003

„Winds of Change“

Nach dem Irak-Krieg steht eine Neuordnung der Politik im Nahen und Mittleren Osten an

Der Irak-Krieg wird eine Neuordnung in der Region nach sich ziehen. Mit einer umfassenden Demokratisierung ist indes nicht zu rechnen. Wahrscheinlicher sind Formen eines konstitutionellen Autoritarismus à la Marokko. Voraussetzung ist jedoch, dass der israelisch-palästinensische Konflikt gelöst wird, der die Staaten der Region bisher davon abgehalten hat, sich ihren inneren Problemen zuzuwenden. Auch die Entwicklung Saudi-Arabiens wird von entscheidender Bedeutung sein.

Mit dem Ende des Irak-Krieges, wenn das Chaos und die unmittelbaren Nachkriegsfolgen bewältigt oder zumindest eingedämmt sind, wird eine Reihe harter Fragen auf die regionale Tagesordnung kommen, die von Arabern und Israelis sowie von der internationalen Gemeinschaft bislang unzureichend beantwortet wurden. Bei dieser Neuvermessung der Politik im Nahen und Mittleren Osten geht es sowohl um die inneren, politischen und sozialen Verhältnisse in den einzelnen Staaten wie um die zwischenstaatlichen Beziehungen und die regionale Ordnung – vor allem um eine Regelung des arabisch-israelischen Konflikts und um Fragen der regionalen Sicherheit und Zusammenarbeit.

Auch die Beziehungen externer Akteure zu den verschiedenen politischen Handlungsträgern in der Region dürften in Bewegung geraten. Derzeit lassen sich die Dynamik der regionalen Entwicklungen nach dem Krieg noch nicht übersehen; die Agenden der relevanten Akteure geben aber Aufschluss darüber, welche Initiativen zu erwarten sind.

Der Sieg der Amerikaner in Irak wird zunächst die regionale Machtbalance verschieben – prinzipiell nicht nur zugunsten der USA, die noch stärker als bislang zum regionalen Machtfaktor werden, sondern auch zugunsten ihrer regionalen Verbündeten, jedenfalls derjenigen, die diesen Status behalten werden. Die aggressive regionale Agenda der Regierung von Präsident George W. Bush beinhaltet schließlich, deklaratorisch zumindest, eine Absage an die langjährige Praxis amerikanischer Nah- und Mittelostpolitik, auch autoritäre und diktatorische Regime zu Partnern zu erklären und notfalls zu stützen, wenn diese zur Wahrung der als vital definierten amerikanischen Interessen in der Region – Sicherheit und Wohlfahrt Israels, sicherer Zugang zum Öl des Persischen Golfes zu akzeptablen Preisen – beizutragen bereit waren.1

Bush hat sich im Vorfeld des Irak-Krieges auch persönlich zu einer Neuordnungsperspektive bekannt, die mit einem Regimewechsel in Irak beginnen soll, um anschließend politische Reformen in den palästinensischen Gebieten und den arabischen Staaten und, darauf aufbauend, eine Wiederaufnahme des Friedensprozesses zu fördern.2 Eine „Pax americana“ im Mittleren Osten, so das Versprechen, werde nicht nur auf dem neuen machtpolitischen Gleichgewicht beruhen, das durch eine amerikanische Besetzung Iraks entsteht, sondern auch auf veränderten politischen und gesellschaftlichen Strukturen in den Staaten der Region. Wenn diese Perspektive mehr als einen Versuch darstellen sollte, eine hegemoniale Agenda „liberal“ zu begründen, würden also auch heute den USA verbündete oder befreundete arabische Staaten wie Saudi-Arabien sich ändern müssen oder aber amerikanisches Wohlwollen verlieren. In der Realität allerdings dürften Staaten, die – wie etwa Ägypten – die regionalen Ordnungsvorstellungen der USA aktiv unterstützen, nicht zu sehr unter amerikanischen Reformdruck geraten.

Amerikanische Agenda

Wenn die amerikanische Politik nicht bereits in Irak scheitert, wenn es ihr vielmehr gelingt, das besiegte Land zu stabilisieren und dort ein pluralistisches Regime zu etablieren, das Vertreter aller Bevölkerungsgruppen an der Regierung beteiligt und auch die kurdische Selbstverwaltung erhält, wird der Druck auf Staaten wie Saudi-Arabien, Syrien oder andere, ebenfalls eine breitere Partizipation an politischen Entscheidungsprozessen zuzulassen, zweifellos zunehmen. Dabei wird man allerdings kaum auf rasche, umfassende Demokratisierung setzen. Man wird wohl schon zufrieden sein, wenn Formen eines konstitutionellen Autoritarismus mit weitgehend freien Wahlen à la Bahrain oder Marokko entstehen, in denen ein Monarch (oder notfalls das Militär) bestimmte außenpolitische Konstanten garantiert. Wahrscheinlich ist, dass Washington dabei ein positiveres Verhältnis zu konservativen, gemäßigt islamistischen Gruppen entwickelt. Dies setzt allerdings voraus, dass diese bereit sind, ihre Energien auf die inneren Reformen politischer, wirtschaftlicher und sozialer Fragen zu richten und nicht die Auseinandersetzung mit Israel in den Vordergrund zu rücken. Keineswegs ausgeschlossen ist der Erfolg einer Öffnung hin zu moderaten Islamisten: Die Gesellschaftsvorstellungen dieser Gruppen sind schließlich nicht allzu weit von denen eines religiös begründeten „compassionate conservatism“, wie der amerikanische Präsident ihn vertritt, entfernt. Weitere Reformforderungen werden Bildungsinhalte und eine schnellere wirtschaftliche Öffnung in arabischen Staaten betreffen.

Die primäre Ausrichtung dieser Neuordnungsagenda auf die Reform arabischer Staaten stützt sich argumentativ auf ein wichtiges, von arabischen Intellektuellen für das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen erarbeitetes Dokument, den „Arab Human Development Report“. Dieser Bericht unterstreicht, dass wirtschaftliche und soziale Missstände in der arabischen Welt und die relative Rückständigkeit dieser Staatengruppe gegenüber anderen Weltregionen weniger mit fehlenden Ressourcen zu tun haben als mit Autoritarismus, patriarchalischen Verhältnissen und mangelnden Kenntnissen und Fähigkeiten.3 Entsprechend werden eine grundlegende Bildungsreform, der Aufbau einer innovationsfreundlicheren Umgebung und „bessere Regierungsführung“ angemahnt. Amerikanische Politik greift somit wesentliche Inhalte des Berichts auf, missbraucht ihn aber gleichzeitig, um die Prioritäten im Nahen Osten umzudefinieren. Die „Reform“ arabischer Staaten wird zur vordringlichen Aufgabe erklärt, die dringlicher sei als die Beilegung des arabisch-israelischen Konflikts, wenn nicht sogar deren Voraussetzung: Wenn, so heißt es, die arabischen Staaten demokratischer wären und ihre Bürger sich um Bürgermeisterwahlen und Schulpolitik kümmerten, anstatt für Palästina zu demonstrieren, würde es letztlich auch leichter werden, den arabisch-israelischen Konflikt zu regeln.4

Arabische Anpassung

Die amerikanische Agenda ignoriert damit bewusst oder unbewusst den engen Zusammenhang zwischen dem arabisch-israelischen Konflikt und dem Fortbestand autokratischer Strukturen in der arabischen Welt, den der arabische Entwicklungsbericht gerade nicht unterschlägt. Er unterstreicht vielmehr, dass der ungelöste Konflikt die Bevorzugung von Rüstungsausgaben gegenüber Entwicklungsausgaben fördert, die Stellung des Militärs in der Politik begünstigt und autoritären Herrschern dazu dient, Widerspruch und Liberalisierungsforderungen zu deligitimieren.5 Der Nahost-Konflikt ist zudem ein wesentliches Hindernis für regionale Zusammenarbeit. Interessanterweise gerieten die meisten arabischen Staaten unter Reformdruck, als sich Anfang der neunziger Jahre mit dem Madrid- und Oslo-Prozess eine Regelung des Konflikts abzuzeichnen schien: Sie mussten sich schließlich wirtschaftlich und gesellschaftlich auf die erwartete Integration Israels in die Region und damit auf friedliche Konkurrenz mit dem jüdischen Staat einstellen. Mit der Stagnation des Friedensprozesses nahm dieser Reformdruck wieder ab; gleichzeitig erhielten friedens- und meist auch reformfeindliche Kräfte in allen Staaten des Nahen Ostens Auftrieb.6

Kurzfristig zumindest entfaltete der Irak-Krieg eine ähnliche Wirkung – stärkte also eher nationalistische und antiwestliche als liberale Elemente. Der schnelle Fall des Regimes in Bagdad wirkte dann allerdings wie ein politisches Erdbeben. Er schockierte einen großen Teil der arabischen politischen und gesellschaftlichen Akteure und gab dem Gefühl Auftrieb, dass innenpolitische Veränderungen auch in anderen arabischen Ländern unvermeidbar sein würden. Wenn in Irak unter amerikanischer Führung und mit internationaler Unterstützung tatsächlich ein sichtbar besseres Regime entsteht, wird dies jene neu angestoßene arabische Reformdebatte beflügeln. Wenn die USA dagegen als Besatzungsmacht wahrgenommen werden, der es nur um die Ressourcen Iraks geht, oder wenn gar ein neues autoritäres Regime installiert werden sollte, würden solche Reformtendenzen untergraben. Ähnliches dürfte gelten, wenn der geopolitische Umbruch nicht durch eine schnelle Wiederaufnahme des nahöstlichen Friedensprozesses ergänzt wird. Tatsächlich hat der Nahost-Konflikt die Agenden der arabischen Staaten im Nahen und Mittleren Osten über Jahrzehnte geprägt. Insbesondere für die „Frontstaaten“ stellen die arabisch-israelischen Kräfteverhältnisse bis heute einen dominierenden Referenzpunkt für außen- und teilweise auch für innenpolitische Überlegungen dar. Wer derzeit eine Demokratisierung des Landes fordere, so etwa argumentieren Mitglieder der syrischen Führung, der verkenne die geopolitischen Realitäten: Angesichts der Bedrohung durch Israel könne man nicht erlauben, dass innere Fronten aufbrächen.

Aber auch in der arabischen Welt hat schon vor der jüngsten Krise ein Umdenken begonnen, nicht nur bei den „üblichen Verdächtigen“ – den Menschenrechtsorganistionen, Intellektuellen oder zivilgesellschaftlichen Vereinigungen – , sondern zum Teil auch bei politischen Führungseliten in Staaten, die gemeinhin nicht als Hort des Fortschritts gelten. Besonders interessant ist, was aus den Golf-Monarchien kommt. So sind in den Kleinststaaten Katar und Bahrain konstitutionelle Prozesse eingeleitet worden, die eine größere Beteiligung der Bürger (und prinzipiell auch der Bürgerinnen) am politischen Leben versprechen. Im Oktober 2002 fanden in Bahrain Parlamentswahlen statt; obwohl diese wegen der weitgehenden Prärogativen, die der König sich vorbehielt, von Teilen der Opposition boykottiert wurden, wurde eine Kammer gewählt, die ihre Kontrollaufgaben gegenüber der Regierung ernst nimmt.

Bewegung in Saudi-Arabien

Bahrain und Katar werden allein keinen regionalen Trend setzen; wichtiger ist, was in Saudi-Arabien geschieht. Politische Veränderungen innerhalb dieses Schwergewichts der arabischen Staatengemeinschaft zeitigen immer auch Auswirkungen auf politisch-strukturelle Entwicklungen in anderen arabischen Ländern.

Die saudische Regierung hat einen graduellen, aber erkennbaren Reformprozess eingeleitet, den sie auch fortsetzen dürfte. Dazu gehören Schritte in Richtung wirtschaftliche Öffnung und eine vorsichtige Modernisierung des Bildungssektors, durch die nach und nach der Einfluss religiöser Autoritäten auf Schulen und Universitäten vermindert wird. Institutionell gibt es eine klare Tendenz zur stärkeren Beteiligung gesellschaftlich relevanter Akteure, beispielsweise von Unternehmern oder Intellektuellen, an Entscheidungsprozessen. Es gibt mittlerweile eine offene Debatte darüber, ob die Mitglieder des bislang vom König ernannten Konsultativrats zukünftig gewählt werden sollen.

Die politische Kultur des Königreichs verlangt die Suche nach größtmöglichem Konsens. Veränderungen werden deshalb voraussichtlich zögerlich vonstatten gehen, etwa indem die Rolle des Rates schrittweise erweitert wird.7 Kronprinz Abdullah, der faktische Herrscher Saudi-Arabiens, hat jedoch keinen Zweifel daran gelassen, dass er auf gesellschaftliche und politische Modernisierung drängt. Saudische Intellektuelle, die in einer Petition eine Erweiterung politischer Rechte einforderten, wurden vom Kronprinzen ausdrücklich ermutigt – anders als nach dem letzten Golf-Krieg, als teilweise dieselben Personen für solche Forderungen noch abgestraft wurden.

Wenn die saudische Führung sich heute reformorientiert gibt, dann spielt natürlich das veränderte außenpolitische Umfeld eine Rolle, namentlich die seit dem 11. September 2001 plötzlich kritische Haltung der USA zum jahrzehntelang so unkritisch gesehenen Verbündeten Saudi-Arabien und die infolge des Irak-Krieges erwartete geopolitische Kräfteverschiebung. Wenn es den USA mittelfristig gelingen sollte, Irak zu kontrollieren oder dort ein amerikafreundliches Regime zu installieren, würde die Bedeutung des Königreichs für Washington abnehmen: als regionaler Alliierter, als militärischer Stützpunkt und langfristig vielleicht auch als Energielieferant. Deutliche Reformanstrengungen könnten zumindest helfen, amerikanisches Wohlwollen zurückzugewinnen und damit auch das implizite Schutzversprechen der USA aufrechtzuerhalten.

„Rentier“-Staat

Neben solch äußeren Faktoren gibt es allerdings einen strukturellen inneren Reformdruck, den die saudische Führung erkannt hat. Das politisch-ökonomische Modell eines „Rentier“-Staates, der sich aus Ölexporten finanziert, seine Staatsangehörigen subventioniert (anstatt sie zu besteuern) und ihnen deshalb auch keine Bürgerrechte einräumt, wird auf Dauer nicht mehr funktionieren, weder in Saudi-Arabien noch in den meisten anderen Öl exportierenden Staaten. Bei langjährig stagnierenden oder ihrem Wert nach sinkenden Öleinnahmen und einer rasch wachsenden Bevölkerung wird der Anteil des Einzelnen an der „Öl-Rente“ immer geringer.

Tatsächlich ist das Pro-Kopf-Einkommen in Saudi-Arabien im Laufe der achtziger und neunziger Jahre um mehr als 40 Prozent gefallen. Die Arbeitslosigkeit nimmt zu, weil der Staat nicht mehr jeden Arbeit suchenden Saudi beschäftigen kann. Wenn der Staat nun die Bürger zu wirtschaftlicher Initiative ermutigen will, wird er nicht nur wirtschaftspolitische Reformen durchführen, sondern auch ein besseres Ausbildungssystem, Rechtsstaatlichkeit und Transparenz des Regierungshandelns sowie eine breitere Beteiligung an Entscheidungen auf den Weg bringen müssen. Der Erfolg ist dabei keineswegs garantiert; schließlich gibt es gesellschaftliche und politische Interessengruppen, die sich den als notwendig erkannten Anpassungsschritten entgegenstellen.8

Die regionale Bedeutung der Entwicklung in Saudi-Arabien wurde durch eine Initiative unterstrichen, die der Kronprinz Anfang 2003 lancierte. In seinem Entwurf einer Charta für Arabische Aktion, den er auch beim arabischen Gipfel von Scharm-el-Scheich am 1. März erläuterte, spricht Abdullah von der „definitiven Notwendigkeit“ innerer Reformen und der „Entwicklung politischer Partizipation innerhalb der arabischen Länder“.9 Eine Diskussion über die Initiative fand nicht statt: Die Irak-Krise dominierte die Tagesordnung.

Bevor sie über Reformen nachdenken, werden die Regierungen der einzelnen arabischen Staaten versuchen, sich den neuen, infolge des Irak-Krieges erwarteten geopolitischen Realitäten entsprechend zu positionieren. Das heißt, dass auch Staaten, die den Krieg verurteilt haben, sich um die Aufrechterhaltung guter Beziehungen zu den USA bemühen und zum Beispiel in der Terrorismusbekämpfung Kooperationsbereitschaft signalisieren werden. Insofern war es kein Wunder, dass kein anderer arabischer Staat die irakische Forderung nach einem Ölboykott gegen die USA aufgriff. Denn keiner dieser Staaten (und genauso wenig Iran) will als nächstes in die Schusslinie amerikanischer Politik geraten. Und außerdem wissen die arabischen Staaten auch, dass ohne die Vereinigten Staaten eine friedliche Regelung des Nahost-Konflikts nicht zu erwarten ist.

Israel/Palästina

Nach zweieinhalb Jahren blutiger israelisch-palästinensischer Auseinandersetzungen ist es tatsächlich unvorstellbar geworden, dass die Konfliktparteien ohne externe Hilfe zu einer dauerhaften Lösung finden werden. Die Formel für eine Regelung, die prinzipiell von beiden Gesellschaften akzeptiert werden kann, liegt zwar spätestens seit den Vorschlägen des damaligen amerikanischen Präsidenten, Bill Clinton, vom Dezember 2000 vor: ein palästinensischer Staat, der weitest gehend die seit 1967 besetzten palästinensischen Gebiete umfasst, eine administrative Teilung Jerusalems, die Aufgabe der meisten israelischen Siedlungen in den besetzten Gebieten, ein begrenzter Gebietsaustausch, der einige größere Siedlungen bei Israel belässt, und eine Regelung der Flüchtlingsfrage, die eine „Rückkehr“ vor allem in den zukünftigen Staat Palästina vorsieht. Die vom Nahost-Quartett (USA, EU, UN und Russland) erarbeitete Wegskizze („roadmap“) beschreibt einen Weg, über den bis 2005 ein Friedensabkommen und ein palästinensischer Staat zustande kommen sollen. Präsident Bush hat seiner Überzeugung Ausdruck gegeben, dass ein amerikanischer Sieg am Golf die Chancen für eine Wiederaufnahme nahöstlicher Friedensbemühungen erhöhen werde.

Dies allerdings wird nicht automatisch passieren. Schließlich wird Israels gegenwärtig vom Likud geführte Regierung besetztes Territorium nicht einfach aufgeben, weil Israels regionale Gegner geschwächt sind. Das Gegenteil könnte eher der Fall sein. Ohne Druck auf die Beteiligten werden sich die „roadmap“ oder andere Friedenspläne kaum umsetzen lassen. Bislang ist solcher Druck vor allem auf die palästinensische Seite ausgeübt worden. Diese hat dementsprechend Reformen, vor allem im Finanzwesen, eingeleitet und die Stellung von Präsident Yasser Arafat durch die Einsetzung von Mahmud Abbas als Ministerpräsident beschränkt. In einer ersten Machtprobe über die Bildung einer neuen Regierung setzte Abbas sich gegen Arafat durch. Auch in Israel wird es wahrscheinlich eine zumindest partiell andere Regierung geben müssen, um einen akzeptablen Friedensschluss möglich zu machen.

Zudem wird eine stärkere direkte Verantwortung externer Akteure notwendig sein: In der gegenwärtigen Atmosphäre des Misstrauens wird Israel, selbst unter amerikanischem Druck, kaum bereit sein, größere Gebiete an palästinensische Sicherheitskräfte zu übergeben. Denkbar dagegen wäre die Aufstellung einer multinationalen Friedenstruppe, die – analog zur Regelung in Ost-Timor – das besetzte Gebiet mandatorisch übernimmt und einem palästinensischen Staat übergibt, sobald dieser stabile Institutionen entwickelt hat.

Auch für eine solche Regelung wird vor allem amerikanisches Engagement notwendig sein – politisch, um sie Israel gegenüber durchzusetzen, und materiell durch die Bereitstellung eines großen Teiles dieser Truppe. Die Europäer haben einigen Einfluss auf die Palästinenser, aber wenig auf Israel; und Israels Bereitschaft, europäischem Drängen in Sachen Friedensprozess nachzugeben, wird nach dem Irak-Krieg nicht höher sein als vorher. Das liegt nicht zuletzt daran, dass allein die USA Israel implizite oder explizite Sicherheitsgarantien geben können: Die EU wäre dazu nicht in der Lage, und Israel würde sich auf europäische Garantien auch nicht verlassen.

Dies heißt nicht, dass Europa keine nahostpolitische Rolle spielen kann, wohl aber, dass ein wesentlicher Teil europäischer Nahost-Politik transatlantische Politik bleiben wird. Dabei wird es vor allem darum gehen, Washington deutlich zu machen, wie sehr die Umsetzung jeder politischen Reformperspektive in der Region von einer Regelung des Nahost-Konflikts abhängt, die es der arabischen Welt und Israel erlauben würde, sich auf Fragen der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung zu konzentrieren.

Eine europäische Strategie

Die EU und ihre Mitgliedstaaten sind von der so aggressiv vorgetragenen amerikanischen Agenda, auf der ein Regimewechsel in Irak nur als erster Schritt zur regionalen Neuordnung figuriert, einigermaßen überrumpelt wurden. Zumindest sind sie nicht in der Lage gewesen, eine eigene vorausschauende Agenda zum Umgang mit Irak oder mit den Strukturproblemen des Mittleren Ostens zu entwickeln.Um solche Situationen zukünftig zu vermeiden, wird Europa seine eigene Perspektive für politischen Wandel im Nahen und Mittleren Osten entwickeln müssen. Im Unterschied zur amerikanischen Agenda wird eine solche Perspektive die enge Verbindung zwischen politischer und wirtschaftlicher Unterentwicklung einerseits und dem seit einem halben Jahrhundert ungelösten arabisch-israelischen Konflikt anderseits nicht übersehen. Es sollte eine politische Perspektive sein, die auf nichtmilitärische Mittel und nicht auf die vorgeblich revolutionären Effekte eines Krieges setzt.

Um eine dauerhafte Regionalordnung vorzubereiten, wird ein Einstieg in regionale Rüstungskontrollbemühungen notwendig sein. Dabei kann es nicht mehr nur um die Potenziale eines Staates gehen; vielmehr müssten Rüstungsdynamiken in ihrem regionalen Kontext behandelt werden. Eine europäische Perspektive für den arabisch-nahöstlichen Raum darf sich schließlich nicht auf jene „Deckel-drauf“-Stabilität verlassen, die die autokratischen arabischen Regime so lange praktiziert haben. Echte Stabilität lässt sich nur mit Wandel erhalten.

Zwar verfügt die Europäische Kommission seit Jahren über Programme, mit denen zivilgesellschaftliche Aktivitäten, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in arabischen Staaten des Mittelmeer-Raums gefördert werden sollen. Diese Programme sind aber von den EU-Mitgliedstaaten nie sonderlich ernst genommen und gewissermaßen ins „Damenprogramm“ der Euro-Mediterranen Partnerschaft verwiesen worden. Wenn dies so bleibt und die EU es auch weiterhin nicht schafft, eine klare Perspektive für politische Veränderung (und nicht nur für wirtschaftliche Liberalisierung) in der Region zu entwickeln, wird sie wohl auch beim nächsten Mal, wenn die Vereinigten Staaten den Sturz eines der dortigen Regime planen, überrascht und uneinig dastehen.

Anmerkungen

1  Vgl. etwa Perthes, The advantages of complementarity: US and European policies towards the Middle East Peace Process, in: ders. (Hrsg.), Germany and the Middle East. Interests and Options, Berlin 2002, S.53–75.

2  Vgl. die Rede von Bush auf dem Jahrestreffen des American Enterprise Institute in Washington, 28.2.2003, <http://www.aei.org/news/newsID.16197/news_detail.asp&gt;. Mit dem Sturz Saddam Husseins, so heißt es darin, verschwinde auch ein Patron des Terrorismus; andere Regime wären gewarnt, terroristische Organisationen nicht zu unterstützen; die Palästinenser würden sich auf innere Reform konzentrieren, und von Israel könne man dann erwarten, die Entstehung eines lebensfähigen palästinensischen Staates zu unterstützen.

3  Vgl. UNDP, Arab Human Development Report 2002, New York 2002.

4  Vgl. Roula Khalaf, Arabs and Democracy, in: Financial Times, 16.1.2003.

5  Vgl. UNDP, a.a.O., (Anm. 3), S. 2.

6  Zur regionalen politischen Entwicklung ausführlicher Perthes, Geheime Gärten. Die neue arabische Welt, Berlin 2002.

7  Vgl. Iris Glosemeyer, Saudi-Arabien: Wandel ohne Wechsel?, in: Perthes (Hrsg.), Elitenwandel in der arabischen Welt und Iran, Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, 2002 (Studie 41), S. 172–188.

8  Vgl. George Joffé, Ungewisse Zukunft für Saudi-Arabien, in: Internationale Politik, 3/2002, S. 19–26.

9  Der englische Text der Initiative findet sich in: Arab News (Dschidda), 15.1.2003 („A pact for reforming the Arab condition“); Abdullahs Rede beim Arabischen Gipfel ist abgedruckt in der in London und Beirut erscheinenden arabischen Tageszeitung Al-Hayat, 2.3.2003.