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28. Juli 2011

Ideen und Macht

Was definiert die relative Gewichtsverteilung in der Welt?

Gestaltungskraft beruht nicht nur auf harter Macht. Wichtig ist auch, wie Gesellschaften die Welt deuten. Ist das westliche Narrativ von Demokratie plus Marktwirtschaft noch gültig? Gewinnt das chinesische Modell einer weisen, aber nicht notwendig demokratischen Führung an Attraktivität? Und welche Zukunftsbilder ergeben sich daraus?

Mit der Veränderung globaler Machtbeziehungen bröckelt das Vorrecht des Westens, definieren zu können, welche universalen Werte die Gestaltung globaler Ordnung leiten und welche Rahmenerzählung die Interpretation von Weltereignissen bestimmt. Nicht wenige haben in der Finanzmarktkrise eine Manifestation der Krise des Kapitalismus und damit auch der Werte gesehen, die mit ihm eng verbunden sind: Demokratie, Marktwirtschaft, Individualismus.

Die Fähigkeit Chinas, die Krise schneller als die USA und Europa zu bewältigen, ist von Machthabern und Intellektuellen anderer Regionen zum Indiz für die Überlegenheit des chinesischen Ordnungsmodells erklärt worden. Dabei sind Demokratie- und Freiheitswillen, wie sich seit Anfang 2011 in der arabischen Welt zeigt, so lebendig wie Ende der achtziger Jahre. Nur haben die etablierten westlichen Demokratien offensichtlich wenig Einfluss auf Zeitpunkt und Verlauf demokratischer Umbrüche. So hatte die amerikanische Irak-Invasion von 2003 den autoritären arabischen Regimen – mit Ausnahme des irakischen – zunächst eine Lebensverlängerung beschert.

Demokratiebewegungen in den arabischen Ländern wurden abgewürgt; die USA gaben ihre Hoffnung auf einen Dominoeffekt der Demokratie rasch auf; und auch die Staaten der Europäischen Union akzeptierten in den folgenden Jahren eine Einteilung der arabischen Welt in „radikale“ und „moderate“ Staaten. Damit machte man die geopolitische Orientierung dieser Staaten zum Unterscheidungsmerkmal, ließ aber ihre innenpolitischen Verhältnisse unberücksichtigt. Deshalb waren Europäer wie Amerikaner auch unvorbereitet, als die Bürger anderer arabischer Staaten acht Jahre nach dem von außen erzwungenen Regimewechsel in Bagdad begannen, das Schicksal ihrer Länder selbst in die Hand zu nehmen.

Der Westen kontrolliert also den Gang der Geschichte nicht – und schon gar nicht allein. Er wird auch machtpolitisch und ideell herausgefordert. Dabei ist er keineswegs chancenlos: Die künftige Gestalt der Welt wird sowohl von den Kräfteverhältnissen zwischen den Machtpolen als auch von den Ideen abhängen, die globale Ordnungsvorstellungen prägen.

Der Status quo

In den internationalen Beziehungen hat sich die Unterscheidung zwischen harter und weicher Macht etabliert. Harte Macht äußert sich in der Ausübung von militärischem und wirtschaftlichem Zwang, um das Verhalten anderer zu beeinflussen. Weiche Macht bezeichnet nach Joseph Nye die Fähigkeit, die Präferenzen anderer zu formen – durch die Attraktivität der eigenen Modells, kulturellen Austausch, die Bildung von Allianzen, öffentliche Diplomatie, Setzung von Agenden, Normen und Regeln. Aber es sind nicht nur die Mittel, die Machtbeziehungen strukturieren, sondern auch die Bereitschaft, sie anzuwenden.

Sie drückt sich im politischen Gestaltungswillen, in der räumlichen Reichweite dieses Gestaltungswillens und in der Bereitschaft aus, Vorleistungen zu übernehmen, d.h. die politischen, finanziellen und wirtschaftlichen Kosten internationaler Verantwortung zu tragen. Schon seit Längerem misst man nicht mehr allein Staaten und den von ihnen getragenen multilateralen Institutionen Macht in den internationalen Beziehungen bei. In den siebziger und achtziger Jahren diskutierte man verstärkt den grenzüberschreitenden Einfluss multinationaler Unternehmen; in den Neunzigern waren es vor allem die spektakulären Aktionen von Greenpeace, die international tätige Nichtregierungsorganisationen (wie eben Greenpeace, aber auch Amnesty International, Human Rights Watch oder Transparency International) als nicht zu vernachlässigende Größe in das Bewusstsein der Öffentlichkeit rückten. Dagegen wird der internationale Einfluss von Interessenverbänden eher vernachlässigt. Seit Mitte der neunziger Jahre und ganz besonders nach dem 11. September 2001 wird die Macht nichtstaatlicher Gewalttäter – Terroristen, Kriegsherren und organisierte Kriminalität – in den internationalen Beziehungen thematisiert. Ein weiterer international bedeutsamer nichtstaatlicher Machtfaktor sind die Medien, seit mehr als 20 Jahren insbesondere die elektronischen, in den vergangenen zehn Jahren im wachsenden Maße das Internet.

Noch immer aber sind es allein Staaten, die über die ganze Palette der oben angeführten Machtmittel verfügen können bzw. sie effektiv anwenden. Andere Akteure weisen in der Regel zentrale Defizite auf. Nur wenige multilaterale Institutionen verfügen beispielsweise über wirtschaftliche, militärische und technologische Fähigkeiten zugleich. Eine Ausnahme und sicherlich ein Fall sui generis unter den multilateralen Institutionen ist die EU. Von nichtstaatlichen Gewalttätern abgesehen, mangelt es fast allen anderen nichtstaatlichen Mächtigen an militärischen Fähigkeiten. Nichtstaatliche Gewaltakteure wiederum strahlen in der Regel keine besondere Attraktivität aus, noch verfügen sie über große wirtschaftliche Fähigkeiten.

Es ist wohl die Besonderheit des Al-Kaida-Netzwerks, Zugang zu allen oben genannten Machtmitteln zu haben, die es für viele Staaten so gefährlich macht. Hinzu kommt, dass diese Form des Terrorismus über keine Skrupel zu verfügen scheint, diese Mittel auch in aller Radikalität anzuwenden. Bei allen anderen gibt es in der Regel mehr oder weniger ausgeprägte ethische Grenzen bei der Ausübung von Macht.

Ohne Zweifel sind trotz des relativen Einflussverlusts der vergangenen Jahre die USA noch immer Maßstab aller Dinge in den internationalen Beziehungen. Die EU würde ihnen nur wenig nachstehen, wenn sich ihre Mitglieder entschließen könnten, der Union substanzielle militärische Fähigkeiten zu übertragen, ihr vor allem aber die Gestaltung der Außenbeziehungen zu überlassen. China, Frankreich, Großbritannien und Deutschland könnten aufgrund ihrer Fähigkeiten als klassische Großmächte agieren; Deutschland schied bisher aufgrund des gering ausgeprägten Gestaltungswillens aus diesem Kreis aus. Ähnlich ist der Fall Japan gelagert. Ganz anders Russland: Hier ist die Bereitschaft zur Machtpolitik ungebrochen, immer deutlicher aber fehlt es an den dafür nötigen Mitteln. Wogegen Indien diese Mittel mehr und mehr zuzuwachsen scheinen. Das Bild für die anderen Schwellenländer ist differenziert. So hat Brasilien durchaus das Potenzial und zeigt die Bereitschaft, zu einer zentralen Größe in den internationalen Beziehungen zu werden; für Südafrika ist dies weniger zu erwarten.

Die Bedeutung von Narrativen

Politische Systeme und Gesellschaften, aber auch internationale Machtbeziehungen brauchen Deutung: Narrative sind jene großen Erzählungen, mit denen Gesellschaften ihre Vergangenheit und Gegenwart verstehen und in deren Licht sie ihre Zukunft antizipieren. Das Ende der Ost-West-Blockkonfrontation beendete auch die Konkurrenz zweier Erzählungen, die die ideologische Gegenüberstellung im 20. Jahrhundert bestimmten: dem Narrativ von der ultimativen Durchsetzung von Demokratie und individueller Freiheit, die notwendig mit Marktwirtschaft einhergeht; und dem Narrativ von Gleichheit und Fortschritt, in dem eine Avantgarde-Partei Staat, Gesellschaft und Wirtschaft schließlich zum Kommunismus führt. Mit dem Ende der „realsozialistischen“ Systeme setzte sich das westliche Freiheitsnarrativ unübersehbar durch: Individuelles Freiheitsstreben erwies sich als stärker denn staatliche Bevormundung; die freiheitliche Wirtschaftsordnung stärker als eine staatlich gelenkte sozialistische. Das Freiheitsnarrativ wurde in der Folge von ungeheurem Selbstbewusstsein getragen.

Letztlich, so die Überzeugung, sei die Durchsetzung von liberaler Demokratie und Marktwirtschaft nur eine Frage der Zeit (historischer Automatismus), des Entwicklungsstands (entwicklungspolitischer Automatismus) oder der wohlmeinenden politischen Hilfestellung (politischer Voluntarismus in Form von „Demokratisierungshilfe“ etc.) durch die USA, die EU oder die internationalen Finanzinstitutionen. Die Normen und Standards, die die westliche Erzählung von Demokratie, Marktwirtschaft und Individualismus beinhaltet, wurden auch von vielen als Vorgabe akzeptiert, die sie in der Praxis nicht umsetzen wollten: Selbst autoritär regierte Staaten stimmten politischen Erklärungen und Resolutionen zu, die Demokratie, Menschenrechte und Rechtssicherheit als Norm definierten, fanden aber Gründe dafür, wieso bestimmte Standards noch nicht voll auf das eigene Land anwendbar seien.

Um überzeugend und glaubwürdig zu bleiben, müssen Erzählungen von Erfolg getragen sein. Von 1989 bis 2003 lässt sich von einer Hegemonie des westlichen Narrativs sprechen. Seine Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft wurden danach allerdings durch bestimmte Ereignisse und durch strukturelle Entwicklungen unterminiert. Die große westliche Erzählung über den Lauf der Geschichte, der zufolge sich Freiheit und Demokratie cum Marktwirtschaft notwendig und nur in dieser Kombination durchsetzen, scheitert zwar nicht wie die kommunistische Erzählung, aber sie gerät unter Konkurrenzdruck.

Die amerikanische Irak-Invasion von 2003 strafte den wohlmeinenden Charakter westlicher Demokratisierungshilfe Lügen und zeigte die Grenzen auch überlegener militärischer Macht, fremde Regionen nach eigenen Vorstellungen zu ordnen. Die Finanz- und Wirtschaftskrise stellte die Fähigkeit der liberalen Marktordnung in Frage, sich selbst zu kontrollieren, nachhaltiges Wachstum zu generieren und wirtschaftliche und gesellschaftliche Gleichgewichte zu wahren.

Dagegen schien das chinesische Entwicklungsmodell, das stetiges Wachstum, effektive Armutsbekämpfung im großen Stil, technologischen Fortschritt und politische Unabhängigkeit verspricht, für politische Eliten außerhalb Europas und Amerikas an Attraktivität zu gewinnen. Zudem zeigt die Entstehung eines globalen multipolaren Systems, dass die Gewichte in der Welt sich trotz der fortbestehenden absoluten Überlegenheit des alten Westens (USA, EU, Japan) neu verteilen. Es zeigt auch, dass Krisen und Probleme nicht nur alle gemeinsam betreffen, sondern auch nur noch durch Formen globaler Regierungsführung gemeinsam zu bewältigen sind. Die USA und der alte Westen können das Weltklima und den Grad der Erderwärmung allenfalls noch in Kooperation mit China, Indien und anderen beeinflussen. Sie können auch die Freiheit der Meere nicht mehr allein garantieren oder die Proliferation von Massenvernichtungswaffen ohne die Mithilfe anderer stoppen. Die Notwendigkeit, weltumspannend mit allen zur Bewältigung globaler Probleme zusammenzuarbeiten, schränkt auch die Möglichkeiten ein, zwischenstaatlichen Druck auszuüben. Wer wollte von China die Einhaltung individueller Menschenrechte einklagen, wenn sich gleichzeitig die Lebensgrundlagen und der Wohlstand der Menschheit nur noch im Einvernehmen und in der Zusammenarbeit mit China erhalten lassen? Kurzfristig ist es die Bewältigung der Finanz- und Wirtschaftskrise, mittel- bis langfristig die des Klimawandels, die eine Kooperation des Westens mit China und anderen aufstrebenden Mächten unverzichtbar machen.

Machtverschiebungen

Natürlich ist es gewagt, eine Prognose darüber anzustellen, wie sich Macht in den nächsten zehn bis zwanzig Jahren verschieben wird und welche Narrative dabei Geltung erlangen. Dennoch gibt es bei Beobachtern und Planern einen recht weit reichenden Konsens bezüglich der Fortschreibung eines seit einigen Jahren zu beobachtenden Trends: Man geht davon aus, dass die Macht der USA im Vergleich zu anderen stagnieren, die der europäischen Staaten deutlich weiter schwinden, die Chinas definitiv, die Indiens und anderer Schwellenländer wahrscheinlich wachsen werde. Andere Machtakteure stehen derzeit zwar nicht so sehr im Fokus der Trendanalysen wie die genannten Staaten, doch gibt es auch hier einen gewissen Grundkonsens: Demnach verringert sich die Macht internationaler Organisationen eher zugunsten von Staatenclubs; die Macht nichtstaatlicher Gewaltakteure, internationaler Nichtregierungsorganisationen, der Medien und multinationaler Unternehmen hingegen wächst generell zu Lasten von Staaten.

Jede Fortschreibung dominanter Trends der vergangenen Jahre beruht auf einer problematischen Annahme: dass sich die Bewegungsrichtung zentraler Einflussfaktoren für internationale Beziehungen nicht verändert, sondern sich deren Dynamik eher noch verstärken wird. Dass also China und andere Schwellenländer aus der gegenwärtigen Finanz- und Wirtschaftskrise gestärkt hervorgehen werden; dass der Klimawandel alle zentralen Machtakteure gleichermaßen betreffen und somit zu keinen signifikanten relativen Verschiebungen führen wird; dass der Fortbestand eines grundsätzlich freien globalen Handelsregimes weiterhin jene profitieren lässt, die bisher Nutznießer der Globalisierung sind; dass demografischer Wandel vor allem Europa und Japan schwächt; dass die Verknappung von Ressourcen am wenigsten jene betrifft, die bereit sind, sich mit allen Mitteln Zugang zu ihnen zu verschaffen; dass die Chancen des technologischen Wandels in den aufstrebenden Staaten entschlossener genutzt werden, während sich die „satten“ Gesellschaften Europas gegen Neuerungen stemmen; dass die Stabilität Chinas und Indiens nicht grundsätzlich gefährdet ist; oder dass der Integrationsprozess in der EU, insbesondere hinsichtlich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, wenig über den erreichten Stand hinauskommt.

Nach allgemeinem Dafürhalten sind dies alles wahrscheinliche Entwicklungen. Aber auch in den internationalen Beziehungen bzw. in den sie prägenden Faktoren tritt bisweilen das weniger Wahrscheinliche ein oder schieben sich Entwicklungen in den Vordergrund, auf die die Sicht zuvor verstellt war. Der Klimawandel könnte Russland einen enormen wirtschaftlichen Aufschwung verschaffen; ein Kollaps des Golfstroms Nordwest-Europa in die Krise stürzen; eine energische Einwanderungspolitik Europa, Japan und Russland verjüngen, aber auch destabilisieren; die Verteilungskonflikte zwischen chinesischer Küstenregion und Hinterland könnten in einem Bürgerkrieg enden; der gesellschaftliche Wandel in den USA könnte das Land in einen neuen Isolationismus führen; afrikanischer internationaler Terrorismus könnte ein neuer Machtakteur werden; ein Durchbruch in der Wasserstofferzeugung und -verwendung würde die internationale Machtkonfiguration weitgehend verändern; die arabische Welt könnte zu einem neuen, eng mit Europa assoziierten Wachstumspol werden. Dies sind die bekannten unbekannten Größen. Noch dramatischere Veränderungen könnten die im Rumsfeldschen Sinne „unknown unknowns“ hervorbringen.

Konkurrierende Erzählungen

Aber nicht nur Ereignisse werden die künftigen internationalen Machtverhältnisse prägen, sondern auch die Filter, durch die sie wahrgenommen werden. Es wurde bereits festgestellt, dass das westliche Narrativ den Monopolanspruch verloren hat. Der Konkurrenzdruck, den andere große Erzählungen ausüben, könnte sich verschärfen. Diese erklären die westliche Erzählung nicht unbedingt für falsch. Sie stellen auch Globalisierung und eine marktorientierte Ordnung der Wirtschaft nicht in Frage, wohl aber die im westlichen Narrativ behauptete notwendige demokratische Wertegebundenheit globaler Marktwirtschaft.

Statt Demokratie und individueller Freiheit werden andere Begriffe in den Vordergrund gestellt: Gerechtigkeit etwa, oder Harmonie.

Gerechtigkeit gilt als zentraler Wert im islamischen Raum, das Gegensatzpaar Gerechtigkeit/Ungerechtigkeit dominiert politische und gesellschaftliche Diskurse – und die Debatten in den sozialen Netzwerken, in denen sich die Revolutionen in Tunesien und Ägypten vorbereiteten. Dem entsprechenden Narrativ zufolge werden nur gerechte Herrschaft und eine gerechte Ordnung einzelne Gesellschaften, aber auch das internationale System im Gleichgewicht halten. Ein Mangel an Gerechtigkeit verursacht Unruhe und Instabilität. Diese Botschaft kommt religiös verbrämt in islamischen Gesellschaften besonders an, hat aber nicht nur dort Überzeugungskraft: Mangel an Gerechtigkeit wird auch in den westlichen Industriestaaten selbst wieder zu einem Thema, wo die Abstände zwischen Arm und Reich größer werden und die „Reichen“ nicht mehr in erster Linie als besonders erfolgreich, sondern als gierig gelten. Und es wird zum Thema zwischen den alten Industriestaaten einerseits und den Schwellen- und Entwicklungsländern andererseits – bei der Fortentwicklung internationaler Regime wie dem Atomwaffensperrvertrag, bei angeblichen doppelten Standards im Umgang mit Verletzern internationaler Normen und nicht zuletzt in der Debatte um gerechte Lösungen bei der Verteilung von Verschmutzungsrechten, einschließlich der Berücksichtigung historischer Verantwortlichkeiten.

Ein islamisch inspiriertes Gerechtigkeitsnarrativ hat jedoch bislang kein überzeugendes staatliches Modell vorzuweisen. Das belegen einmal mehr die Revolutionen in Tunesien und Ägypten. Der Verweis auf die gute Herrschaft unter den rechtgeleiteten Kalifen, den verschiedene islamistische Strömungen bemühen, ist eben eine nicht nur verklärende, sondern vor allem vergangenheitsorientierte Utopie. Viele Muslime mögen dem Westen vorwerfen, ungerechte Verhältnisse in der Welt aufrechtzuerhalten, erkennen gleichzeitig aber, dass die inneren Verhältnisse in westlichen Demokratien oft dem Ideal von Gerechtigkeit näher kommen als die in den eigenen Staaten. Anders als China können die Staaten im islamischen Raum auch nicht als Erfolgsmodelle in der globalisierten Welt dienen. Das Gerechtigkeitsnarrativ beflügelt deshalb eher die Sehnsucht nach einer besseren, gerechten Welt, den Zorn auf die ungerechten Verhältnisse und einen Diskurs des „Widerstands“. Es wird auch eher von nichtstaatlichen Akteuren genutzt, als dass es Staaten bei der Förderung ihrer Soft Power dienen würde.

Im ostasiatischen Raum spielt Harmonie eine große Rolle; sie ist zentraler Begriff im innen- und außenpolitischen Diskurs der aufstrebenden Macht China. Innergesellschaftliche Harmonie und Harmonie zwischen den Völkern, so das chinesische Narrativ, sichern Entwicklung und friedliche internationale Beziehungen. Harmonie wird geschaffen, indem Staaten sich nicht in die Angelegenheiten anderer einmischen, und durch weise Führung im Innern, die meritokratisch, aber nicht notwendigerweise demokratisch ist. Wichtiger als demokratische Partizipation seien Stabilität, Entwicklungsfortschritt, Wachstum und Wohlstand für alle. Individualitätsbedürfnisse, die mit wachsender Entwicklung steigen, realisieren sich nicht über politische Differenz, sondern über Konsum. Die große Erzählung vom autoritären Wachstumskapitalismus, der die Entstehung schädlicher politischer Divergenzen verhindert, gleichwohl aber individuelle Entfaltung (Bildung, Reisen, Wohlstand) ermöglicht, dürfte nicht nur für politische Eliten attraktiv sein, die ihre Herrschaft durch interne und externe Demokratisierungsforderungen bedroht sehen, sondern auch für weite Teile krisengeschüttelter Gesellschaften in armen und schwachen oder gar bürgerkriegsbedrohten Staaten. Hier wie im Ursprungsland des Harmonienarrativs dient es aber auch dazu, reale gesellschaftliche Konflikte zu verschleiern und politische Opposition zu unterdrücken. International impliziert das Narrativ in der Regel Harmonie mit den Herrschenden und nicht mit den von diesen Unterdrückten. Der wahre Lackmustest für die Tragfähigkeit des Konzepts der harmonischen Gesellschaft wird jedoch dann anfallen, wenn seine

Verfechter das Versprechen der ungebremsten Wohlstandsmehrung nicht mehr einlösen können.
Eine westliche Antwort auf die Krise kapitalistischen Wirtschaftens, aber auch auf das asiatische Harmoniemodell heißt Nachhaltigkeit und gutes Leben. Auch hier wird gewissermaßen Harmonie beschworen – innergesellschaftlich und im Verhältnis zu anderen Gesellschaften –, aber auch sehr viel weiter gefasst: Harmonie mit der Natur und den menschlichen Lebensgrundlagen. Harmonie bedeutet hier Relativierung des Konsumverhaltens und stattdessen Selbstverwirklichung über politische und gesellschaftliche Teilhabe. Während das chinesische Harmonienarrativ politische Konkurrenz als zentralen Störfaktor wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Vervollkommnung begreift, wird diese Rolle in der westlichen Harmonieerzählung einer uneingeschränkten, unregulierten wirtschaftlichen Gewinnmaximierung zugewiesen. Das westliche Narrativ wird Strahlkraft sicherlich zurückgewinnen, wenn die Staaten und Gesellschaften, die es vertreten, beweisen, dass sie sowohl innovativ bleiben und stabiles Wachstum schaffen können als auch sozialen und internationalen Frieden aufrechterhalten und bei der Bearbeitung von Konflikten und von globalen Problemen gerechte und weitgehend als gerecht empfundene Lösungen finden können. Damit hätte das westliche Narrativ eine zentrale Stärke unter Beweis gestellt: korrekturfähig zu bleiben und via kritischer Hinterfragung der eigenen Erzählung diese an neue Gegebenheiten anzupassen. Die große Krisenresistenz der deutschen Variante des westlichen Narrativs, der sozialen Marktwirtschaft und deren Fähigkeit, schnell nach der Krise Wachstum und neue Arbeitsplätze zu schaffen, deutet diese Stärke an. Der große Vorzug des westlichen Narrativs ist, dass es über mehrere, offen konkurrierende Spielarten verfügt, die eine evolutionäre Entwicklung erlauben.

Zukunftsbilder

Nachdenken über die Zukunft sollte sich nicht darin erschöpfen, erkennbare dominante Trends fortzuschreiben. Dann nämlich ist die Gefahr groß, subtile, auf den ersten Blick marginale Veränderungen zu vernachlässigen, die sich später als zentrale Parameter einer Zeitenwende erweisen. Deshalb soll das Spektrum möglicher Entwicklungen in fünf alternativen Bildern skizziert werden. Die Bilder sind nach der Grundfrage organisiert, ob künftig ein, zwei oder mehrere Pole die internationalen Beziehungen dominieren werden bzw. ob Pole ganz verschwinden werden. Im Verhalten der Pole zueinander spielen Narrative eine wesentliche Rolle.

Unipolarität

Dieses Bild ist in zwei Varianten entwickelbar: in einer Renaissance der USA einschließlich der transatlantischen Allianz (USAplus) und in einer Dominanz Chinas. Die erste Variante beruht auf der Annahme, dass die USA und die EU aufgrund ihrer überragenden staatlichen Steuerungsfähigkeit, ihrer diversifizierten Wirtschaft, ihrer menschlichen und technologischen Fähigkeiten in der Lage sind, die Wirtschafts- und Finanzkrise nicht am schnellsten, aber am effektivsten zu überwinden sowie die Folgen des Klimawandels zu verkraften. Technologische Durchbrüche im transatlantischen Wirtschaftsraum vermindern die Abhängigkeit von strategischen Rohstoffen, von Öl und knappen Metallen. Eine Verlangsamung des Wirtschaftswachstums und der Klimawandel verschärfen die gesellschaftlichen Konflikte in China, Indien, Russland und anderen aufstrebenden Mächten und beeinträchtigen deren internationalen Gestaltungsanspruch. Das erneuerte westliche Narrativ, das Demokratie und individuelle Freiheit mit nachhaltigem Wirtschaften verbindet, erweist sich als außerordentlich attraktiv. Die USA und die EU erneuern ihre Partnerschaft und sind unter Führung der USA gemeinsam in der Lage, internationale Organisationen und Staatenclubs zu dominieren und ihr Regelwerk zu erneuern. Aufstrebende demokratische Schwellenländer wie Brasilien und Südafrika verstehen sich immer deutlicher als Teil eines erweiterten Westens. Die internationale Finanz- und Wirtschaftskrise stärkt die Staaten in Relation zu internationalen  Nichtregierungsorganisationen und multinationalen Unternehmen.

Unter Führung der USA und der EU gelingt ein Zurückdrängen nichtstaatlicher Gewaltakteure. Die zweite Variante geht davon aus, dass die USA und die EU geschwächt aus der Wirtschafts- und Finanzkrise hervorgehen. Daraus resultiert auch ein Verlust von Machtmitteln. Die USA ziehen sich aus den internationalen Beziehungen zurück, die EU zerbricht faktisch an sich intensivierenden Auseinandersetzungen zwischen ihren Mitgliedsländern über die Lastenverteilung bei der Bewältigung der anhaltenden Wirtschafts- und der sich zuspitzenden Euro-Krise. Der Westen ist nicht in der Lage, die Kräfte auf den Finanzmärkten effektiv zu regulieren und steuert auf eine neue Wirtschaftskrise zu. Marktliberale, demokratische Ordnungsvorstellungen verlieren entsprechend weltweit an Attraktivität, an ihre Stelle tritt das Narrativ der Harmonie. China kann die Wirtschafts- und Finanzkrise am schnellsten überwinden. Allerdings sind der daraus hervorgehende Machtzuwachs und auch der Gestaltungswille Chinas nicht groß genug, um die USA in ihrer internationalen Ordnungsfunktion zu ersetzen. Internationale Organisationen, Staatenclubs und globale Ordnungspolitik werden deshalb eine deutlich verminderte Rolle spielen, was letztendlich bedeutet, dass der Klimawandel weitgehend ungebremst verläuft. Wegen der Krise marktorientierter Politik stagniert die Macht der Privatwirtschaft und die Medienfreiheit wird international beschnitten. Globalisierungskritische Nichtregierungsorganisationen gewinnen an Einfluss, Menschenrechtsorganisationen erleiden einen Bedeutungsverlust. Durch den Ausfall der USA und der EU als Ordnungsmächte erfahren nichtstaatliche Gewaltakteure einen Machtzuwachs.

Ideologische Polarisierung

In globalen Ordnungsfragen bilden sich zwei Lager heraus: Das westliche unter Führung der USA fördert aktiv liberal-demokratische Ordnungsvorstellungen. Diese Bemühungen könnten durch die Verschärfung globaler Bedrohungen (Klimawandel, Terrorismus, Migration) oder durch aggressive Akte regionaler Staaten im Süden forciert werden. Ein Lager der Harmonie unter Führung Chinas wird machtpolitisch aktiver. China lehnt „westlichen Universalismus“ explizit ab und fördert stattdessen „Ideologiefreiheit“, Harmonie zwischen den Völkern und Werteordnungen – unterstützt und begünstigt damit aber faktisch autoritäre Systeme und seine eigenen Anstrengungen, Märkte und Ressourcen zu sichern. Das führt zu einer neuen Teilung der Welt. Nach dem endgültigen Scheitern der Doha-Runde geht die ideologische Blockbildung mit der Ausbildung von zwei großen Freihandelszonen einher, die jeweils Industrie- und Schwellenländer zusammenbringen: Nordamerika-Zentralamerika-Japan-EU-Balkan-Mittelmeer, unter Umständen mit der Assoziation von Indien, und China-Russland-Zentralasien-Pakistan-Iran. Südostasien, Lateinamerika, der Nahe und Mittlere Osten und Afrika sind in sich polarisiert. Einzelne Staaten bieten sich als Teil der Einflusszone der USA, Chinas oder regionaler Hegemone an. Der Nahe Osten und weite Teile Afrikas bleiben internationale Bruchzonen: Objekte der Ressourcenkonkurrenz und Ort ungeregelter Konflikte sowie regionaler Polarisierungen, die nicht kooperativ gelöst werden. Die Gefahr von Machtkonflikten an den Nahtstellen der Einflusszonen neuer und alter Großmächte wächst: zwischen China und Indien, Südkorea und China; im Grenzbereich zwischen der EU-Integrationszone und der Fragmentierungszone an den südlichen und südwestlichen Rändern Russlands. Internationale Organisationen verfallen, globale Ordnungspolitik ist nicht mehr möglich und der Klimawandel verläuft ungebremst. Regionalorganisationen und ideologisch fundierte Staatenclubs erfahren einen Aufstieg. Vom wachsenden Gegensatz zwischen den Polen profitieren besonders nichtstaatliche Gewaltakteure, die sich als Stellvertreter in Konflikten anbieten. Der Welthandel leidet unter der Polarisierung und entsprechend multinationale Unternehmen, die an ihm ausgerichtet sind. Auch global orientierte Nichtregierungsorganisationen und Medien erfahren eine Schwächung.

Kooperative Multipolarität

Den USA, Europa, China und anderen gelingt gemeinschaftlich und gleichermaßen die Bewältigung der Finanz- und Wirtschaftskrise. Die Macht der USA stagniert, die Chinas und Indiens steigt deutlich, die EU kann durch eine verstärkte Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik den individuellen Bedeutungsverlust ihrer Mitgliedstaaten mehr als ausgleichen. Europa betont allerdings auch stärker seine eigenständige Rolle gegenüber den USA. Global bilden sich dadurch mit den USA, der EU, China und Indien vier Machtpole heraus. Das internationale System ist allerdings auf mehreren Ebenen polarisiert: Die Vorherrschaft der globalen Pole wird durch weitere relative Machtzuwächse Russlands, Brasiliens, Indonesiens und Irans deutlich gemildert, und in Regionen wie dem Nahen und Mittleren Osten, Südostasien oder Lateinamerika werden Machtgleichgewichte durch regionale Pole aufrechterhalten. Die verschiedenen Wertesysteme koexistieren, die Konkurrenz zwischen zwei dominanten Ordnungsmodellen wird friedlich ausgetragen: pluralistischer Autoritarismus und autoritärer Kapitalismus einerseits, liberale Demokratie und soziale Marktwirtschaft andererseits.
Trotz unterschiedlicher Ordnungsvorstellungen kommt es zu Kooperation, wo immer globale Herausforderungen dies verlangen: Umweltfragen, bestimmte Sicherheitsprobleme, das Funktionieren der Weltwirtschaft. Die globale wirtschaftliche Verflechtung verdichtet sich weiter und politische Kooperation wird überall dort betrieben, wo sie zur Ausschaltung von „Störern“ oder zur Bewältigung von Störungen notwendig ist. Es kommt aber nicht zu einer politisch- normativen Globalisierung im Sinne einer echten Universalität von Werten. Stattdessen wird Souveränität stärker betont: Rechtsgarantien zwischen Staaten statt universaler Rechtsstaatlichkeit. Die Pole und die Mächte in der zweiten Reihe engagieren
sich aufgrund der Erfahrung bei der gemeinschaftlichen Bewältigung der Finanzkrise für einen effektiven Multilateralismus, der insbesondere die UN, den IWF, die WTO und die UNEP stärkt. Technologischer Fortschritt mindert die Konkurrenz um knappe Ressourcen und im Verein mit effektivem Multilateralismus den Klimawandel. Die Staatenwelt bemüht sich um die Einbindung von gesellschaftlichen Gruppen bei der Entscheidungsfindung, wendet sich aber gleichzeitig entschlossen gegen nichtstaatliche Gewaltakteure.

Die „Weltregierung“

Effektiver Multilateralismus, technologischer Fortschritt und die wechselseitige Annäherung der Ordnungsvorstellungen – Harmonie und Nachhaltigkeit, mehr politische Partizipation, weniger politische Konkurrenz – führen dazu, dass die Staaten immer mehr Souveränitätsrechte und Machtmittel an multilaterale Organisationen übertragen. Die Vereinten Nationen üben militärische Macht aus und übernehmen die Verantwortung für die globale Sicherheitspolitik, der IWF jene für die internationalen Finanz- und Kapitalmärkte, die WTO ordnet die Handelspolitik, die UNEP den globalen Umwelt- und Klimaschutz und die Weltbank sorgt für den sozialen Ausgleich zwischen reichen und armen Ländern. Staatenclubs und Regionalorganisationen werden überflüssig, multinationale Unternehmen unterliegen uniformen internationalen Rechtsstandards, nichtstaatliche Gewaltakteure werden wirksam bekämpft. Internationale Nichtregierungsorganisationen, Interessenverbände und elektronische Medien sind neben den Staaten nahezu gleichberechtigte Säulen der gesellschaftlichen Partizipation bei der Ausgestaltung der globalen Ordnung.

Fragmentierung

Den extremen Gegenpunkt zur Weltregierung setzt die vollkommene Fragmentierung der internationalen Ordnung. Als Folge der internationalen Finanzund Wirtschaftskrise sowie des nicht zu bremsenden Klimawandels flüchten sich die USA in die Isolation, zerbricht die EU, zerfallen China und Indien. Kein anderer Staat kann diese Pole ersetzen. Das chinesische und westliche Narrativ sind gleichermaßen diskreditiert, kein anderes bietet Orientierung. Auch das Gerechtigkeitsnarrativ dient allenfalls der Begründung von Widerstand unterschiedlicher Formen – seien dies staatliche „Achsen des Widerstands“ (Venezuela, Iran, Simbabwe oder ähnliche Kombinationen) oder gewaltbereite transnationale Netzwerke, die stellenweise mit organisierter Kriminalität kooperieren. Ohne politische Führung treiben globale Ordnungspolitik und multinationale Organisationen vor sich hin, ein Minimum an grenzüberschreitenden Aufgaben wird von Staatenclubs wahrgenommen. Internationale Nichtregierungsorganisationen und Medien versuchen, die Lücke zu füllen, sind dabei aber im hohen Maße überfordert. Die größten Nutznießer der Fragmentierung des internationalen Staatensystems sind nichtstaatliche Gewaltakteure, denen sich immer größere Freiräume für einen ungeminderten Einsatz ihrer Machtmittel bieten.

Wohin will Deutschland?

Der Aufstieg neuer Mächte in einem internationalen System bringt immer ein Element von Unruhe und Risiken mit sich, ist aber grundsätzlich ein positiver Faktor. Das multipolare System wird allmählich auch den europäischen Blick auf die Welt verändern und verändern müssen. So wird Europa sich daran gewöhnen müssen, ein Pol in der internationalen Ordnung zu sein. Dies verlangt mehr, nicht weniger Integration in Europa selbst, und es verlangt die Fähigkeit, überall in der Welt anschlussfähige Partner zu finden. Die USA exerzieren dies bereits mit einem Pragmatismus vor, der manche europäische Verbündete verunsichert. Europa muss allerdings auch lernen, dass neue Partner– Staaten wie Indien, Brasilien, Südafrika, die Türkei oder Indonesien – ihre eigene Agenda für die Gestaltung internationaler Verhältnisse oder für die Lösung von internationalen und regionalen Konflikten verfolgen und dass sie nicht immer in dem Maße fähig oder bereit sind, Verantwortung zu übernehmen, wie dies von den Europäern erwartet wird.

Dies macht die Debatte über die Institutionen des globalen Regierens so wichtig. Wenn die neuen Machtverhältnisse zu einer kooperativen Bearbeitung internationaler und globaler Probleme beitragen sollen, dann bedarf es internationaler Foren und Institutionen, die sowohl repräsentativ als auch effektiv genug sind. Sie müssen in der Lage sein, Kompromisse zu finden und Regeln zu setzen, die weitestmöglich akzeptabel und deshalb auch durchsetzbar sind. Das gilt für den Umgang mit dem globalen Klimawandel und mit der Konkurrenz um knappe Ressourcen, für Währungsfragen oder Welthandelsregeln, für den Zugang zu Rohstoffen und Technologie genauso wie für das Management harter Sicherheitsprobleme in einzelnen Regionen oder solchen mit weltweiter Bedeutung wie der Proliferation von Massenvernichtungswaffen oder dem internationalen Terrorismus. Mit der Bildung neuer Clubs der Mächtigen, wie der G-20, wird versucht, den neuen Machtbeziehungen und Herausforderungen gerecht zu werden. Die Reform des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen wird notwendig folgen, wenn er seine Stellung als wichtigste internationale Entscheidungsinstanz behalten will. Europa wird hier wie in anderen Institutionen nicht mehr überall in bisheriger Stärke vertreten sein können, denn Repräsentativität bzw. Legitimität einerseits und Effektivität andererseits stehen in einem engen Wechselverhältnis. Es ist beispielsweise kaum vorstellbar, dass ein Staatenclub dauerhaft effektiv sein kann, der 20 und mehr Mitglieder umfasst, auf informellem Austausch beruht und über keine eigenen Umsetzungsstrukturen verfügt. Repräsentativität, Legitimität und Effektivität sind auch die zentralen Kriterien, wenn die stärkere Beteiligung von gesellschaftlichen Gruppen – insbesondere Interessenverbände und Nichtregierungsorganisationen – an globaler Steuerung in Betracht gezogen wird.

Letztlich stellt sich die Frage, was für eine Welt wir wollen: eine Welt, die nicht nur multipolar ist, sondern auch eine multilaterale Ordnung aufweist, die sich auf die Verrechtlichung internationaler Beziehungen gründet – oder eine Balance-of-Power-Ordnung, die durch das harte Ausspielen nationaler Interessen in einem weitgehend rechtsfreien internationalen Raum gekennzeichnet ist.

Europa und insbesondere die Europäische Union haben sich trotz mancher Verzögerungen und Defizite als lebendiges Beispiel dafür erweisen, dass Krisen Lernprozesse fördern, dass Staaten eben auch lernen können. Und dafür, dass europäische Ideen und Eigenheiten – auch wenn Europa wie der alte Westen insgesamt relativ zu den globalen Aufsteigern an Macht verliert – ihren Wert deshalb nicht einbüßen. Ob Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, soziale Marktwirtschaft, nachhaltiges Wirtschaften oder die doch sehr abstrakte Idee vom guten Leben, die Verrechtlichung und Institutionalisierung zwischenstaatlicher Beziehungen (internationale Rechtsstaatlichkeit also), Problemlösung durch Multilateralisierung,

Integration und Offenheit oder das Bündeln von Souveränität: Diese Postulate europäischer Politik verleihen dem alten Kontinent durchaus Anziehungskraft und die Fähigkeit, auch in einer multipolaren Welt weiterhin eine mit-führende Rolle zu spielen. Aber nicht nur die Fähigkeiten entscheiden über die künftige Stellung Europas und Deutschlands in der Welt. Sondern auch die Bereitschaft, sie auszuschöpfen.

Prof. Dr. VOLKER PERTHES ist Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin.

Dr. STEFAN MAIR ist Mitglied der Hauptgeschäftsführung des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI).

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, April 2011, S. 10-23

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