Syrien zuerst
Was die USA und Europa jetzt im Nahen Osten tun sollten
Eine europäisch-amerikanische Initiative zur Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts müsste eine neue Machtteilung zwischen Hamas und Fatah, die Umsetzung der Gaza-Vereinbarung von 2005 sowie eine zeitnahe Friedensperspektive für die ganze Region beinhalten. Von zentraler Bedeutung ist dabei die Einbindung Syriens.
Die am 27. Dezember 2008 eingeleitete israelische Offensive im Gaza-Streifen endete nach gut drei Wochen. Allerdings wird der Krieg nur durch eine prekäre Waffenruhe abgelöst, die nicht ausreicht, um auch nur mittelfristig Stabilität und Sicherheit zu gewährleisten. Für einen dauerhaften Waffenstillstand, Sicherheit für die Bevölkerungen in Israel und den palästinensischen Gebieten und ein friedliches (wenn nicht Mit- so doch zumindest) Nebeneinander werden tragfähigere politische und sicherheitspolitische Arrangements nötig sein.
Nach den kriegerischen Auseinandersetzungen sind die Ausgangsbedingungen für eine Konfliktregelung nicht besser geworden: Die politische Spaltung der Palästinenser dauert fort. Mahmud Abbas, der seit dem 9. Januar 2008 von der Hamas nicht länger als Präsident anerkannt wird, ist durch den Konflikt weiter geschwächt worden, und die Hamas selbst bleibt ein Faktor. Israel befindet sich im Wahlkampf. Die Umfragen sagen Zugewinne für den Likud voraus. Der neue US-Präsident wird sich nahezu unmittelbar nach der Amtsübernahme dem Nahen Osten widmen müssen. Angesichts der Wirtschaftskrise und anderer außenpolitischer Herausforderungen wird allerdings auch Barack Obama nicht all seine Energien auf ein Konfliktfeld richten, an dem schon manch ein amerikanischer Präsident gescheitert ist. Rasches Engagement aber hat er versprochen; und er dürfte auch einige wichtige Akzente anders setzen als sein Vorgänger. Das gilt konkret mit Blick auf Syrien, allgemeiner gesprochen mit Blick auf die erklärte Bereitschaft Obamas, auch Kräfte, die bislang unter Gesprächsvorbehalt standen, zumindest indirekt in diplomatische Bemühungen einzubeziehen.
Die Hoffnung auf eine amerikanische Initiative sollte die Europäische Union aber nicht dazu verleiten, Washington das Politische zu überlassen und den eigenen Beitrag auf eine zweifellos notwendige Wiederaufbauhilfe oder auf Almosenvergabe zur Linderung der humanitären Notlage im Gaza-Streifen zu beschränken. Natürlich würde es auch zu kurz greifen, wenn die Europäer vor allem technische Hilfestellungen leisten würden, um die Zugänge zum „Gefängnis Gaza“ möglichst effizient zu kontrollieren und die Tunnels, die sowohl dem Waffenschmuggel als auch – und vor allem – der Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln und Gütern des alltäglichen Bedarfs gedient haben, zu versiegeln. Im Gaza-Krieg hat Europa keine gute Figur gemacht. Individuelle Vermittlungsversuche verliefen weitgehend im Sande; die EU im Ganzen hat sich als unfähig erwiesen, rasch geeint und tatkräftig aufzutreten, die Lücke auszufüllen, die in der Übergangsphase zwischen den amerikanischen Administrationen so deutlich klaffte, und sich überzeugend für einen friedlichen Konfliktaustrag und die Wahrung internationalen Rechts einzusetzen.
Deutsche und europäische Politiker sollten sich bewusst sein, dass ihr Bekenntnis zu Israels Sicherheit als Lippenbekenntnis empfunden wird, solange sie nicht deutlich stärker als bislang Verantwortung für eine politische Regelung des Konflikts übernehmen und sich an deren Kosten beteiligen. Jetzt muss es darum gehen, gemeinsam mit der neuen US-Administration konsequent auf eine tragfähige und umfassende Konfliktregelung hinzuarbeiten. Denn arabische Unterhändler wie Ägypten können zwar zwischen den palästinensischen Gruppierungen beziehungsweise zwischen der Hamas und Israel vermitteln, aber nicht einmal ansatzweise ein konsequentes und intensives internationales Engagement ersetzen.
Eine entsprechende europäisch-amerikanische Initiative müsste auf jeden Fall drei Hauptelemente beinhalten: 1. ein neuerliches Machtteilungsarrangement zwischen der Hamas und Fatah; 2. die Umsetzung der Vereinbarung von 2005 (Agreement on Movement and Access), die nach dem israelischen Abzug darauf abzielte, den Zugang für Personen und Waren nach Gaza offen und die Verbindung zwischen Gaza und West Bank zu erhalten, ergänzt durch Maßnahmen, die Waffenschmuggel effektiv verhindern können; sowie 3. eine politische Perspektive, also die Umsetzung einer Zwei-Staaten-Lösung und einer umfassenden Friedenslösung in der Region in absehbarer Zeit. Eine solche Initiative kann nur gelingen, wenn wichtige Konfliktparteien, insbesondere die Hamas und Syrien, einbezogen werden.
Hamas bleibt Akteur
Selbst wenn es Israel gelungen sein sollte, der Hamas einen „entscheidenden Schlag“ zu versetzen, also die militärische Infrastruktur der „Islamischen Widerstandsbewegung“ zerstört und wichtige Führungspersonen getötet zu haben, selbst wenn die Zustimmung der Bevölkerung im Gaza-Streifen zur Herrschaft der Hamas deutlich schrumpft, bleibt die Bewegung politisch relevant. Die Hamas ist durch ihre religiösen und sozialen Aktivitäten gesellschaftlich tief verwurzelt. Nicht zuletzt aufgrund des Scheiterns des 1993 in Oslo begonnenen Friedensprozesses hat die Hamas bei den Parlamentswahlen 2006 einen Erdrutschsieg und die absolute Mehrheit im Palästinensischen Legislativrat errungen. Und sie konnte ihre Herrschaft im Gaza-Streifen nach der gewaltsamen Machtübernahme im Juni 2007 konsolidieren. Es wäre illusionär zu glauben, dass Mahmud Abbas und seine Fatah infolge des Krieges einfach wieder die Macht im Gaza-Streifen übernehmen oder dort gar von Israel oder der internationalen Gemeinschaft installiert werden könnten.
Dass die Hamas geschwächt, aber nicht vernichtet werden soll, hat Israels Regierung schon dadurch unterstrichen, dass sie zeitgleich zur militärischen Eskalation in indirekten, von Ägypten vermittelten Gesprächen mit den Islamisten über eine Waffenruhe verhandelt hat. Die Hamasführung hat wiederholt unter Beweis gestellt, dass sie – anders als Fatah – einen Waffenstillstand sowohl in den eigenen Reihen als auch bei den anderen Gruppierungen weitgehend durchsetzen kann. Die Zerstörung palästinensischer Regierungs- und Sicherheitseinrichtungen und ziviler Infrastruktur hat allerdings die Ausübung jeglicher effektiver Autorität im Gaza-Streifen weiter kompliziert. Die Hamas hat zwar den Krieg nicht gewonnen; aber der Krieg dürfte auch nicht die Kräfte im politischen Spektrum Palästinas gestärkt haben, die ein Ende der Besatzung durch Verhandlungen erreichen wollen. Der Zorn auf Israel ist auch bei Fatah-Anhängern und anderen Gegnern der Hamas gewachsen. Damit hat das Risiko zugenommen, dass dschihadistische (am Vorbild der Al-Kaida orientierte) Gruppierungen Zulauf erhalten und ihr Unwesen ausweiten.
Neue Machtteilung
Europäische und amerikanische Politik, die auf eine dauerhafte Konfliktregelung abzielt, wird die Hamas nicht länger ignorieren können. Dabei geht es zunächst darum, neue ägyptisch oder saudisch vermittelte Gespräche, die eine Aussöhnung und ein neues Machtteilungsarrangement zwischen Fatah und Hamas auf den Weg zu bringen versuchen, nicht zu blockieren, sondern zu unterstützen. Europa sollte dazu die Bereitschaft signalisieren, mit einer palästinensischen Übergangsregierung zu kooperieren, die von allen relevanten politischen Gruppierungen getragen wird. Das schließt die finanzielle Unterstützung ein, selbst wenn man dazu die Hürde der „Listung“ einer der Regierungsparteien als terroristische Organisation überwinden muss.
Tatsächlich werden Fatah und Hamas kooperieren müssen, um eine Neuwahl des Präsidenten und des Parlaments möglich zu machen. Nur ein so legitimierter Präsident wird den notwendigen Rückhalt für Verhandlungen mit Israel haben. Machtteilung ist auch die Voraussetzung dafür, dass die europäischen Maßnahmen zum Aufbau eines palästinensischen Staates nicht länger ins Leere laufen. Denn es ist unmöglich, demokratische, effiziente und legitime Regierungs- und Sicherheitseinrichtungen aufzubauen, solange die politisch-territoriale Teilung andauert. Und: Frieden ohne den Gaza-Streifen wird es nicht geben.
Ein tragfähiger Waffenstillstand
Ein Waffenstillstand wird nur tragfähig sein, wenn er das Sicherheitsbedürfnis beider Seiten berücksichtigt und wirtschaftliche Entwicklung im Gaza-Streifen zulässt. Letzteres aber kann unter den Bedingungen einer nahezu vollständigen Blockade nicht stattfinden, unter der das Gebiet seit der Entführung des israelischen Soldaten Shalit im Juni 2006 und, weiter verschärft, seit der gewalttätigen Machtübernahme der Hamas im Juni 2007 steht. Eine dauerhafte Öffnung der Grenzübergänge zum Gaza-Streifen, wie sie das 2005 von US-Außenministerin Rice verhandelte Agreement on Movement and Access vorsieht, gehört zu den elementaren Voraussetzungen für Wiederaufbau und wirtschaftliche Entwicklung. Dies wird auch ein Arrangement zwischen allen beteiligten Parteien (Israel, Palästinensische Autorität, Hamas, Ägypten, EU) erfordern, das es erlaubt, den Grenzübergang Rafah zwischen dem Gaza-Streifen und Ägypten wieder zu öffnen und die Tätigkeit der europäischen Grenzmission (EU BAM Rafah) wieder aufzunehmen. Sinnvollerweise würde die Mission ergänzt durch eine weitere Beobachtermission, deren Aufgabe es wäre, auf ägyptischer Seite der Grenze darüber zu wachen, dass bestehende Tunnels geschlossen und keine neuen Schmuggelwege geöffnet werden. Letztlich muss ein Waffenstillstand, um tragfähig zu sein, auch die West Bank einschließen.
Zwei-Staaten-Lösung
Mit dem Scheitern des Annapolis-Prozesses ist einmal mehr deutlich geworden: Der von der internationalen Gemeinschaft verfolgte Ansatz, dass eine Konfliktregelung in Nahost das Ergebnis von bilateralen Verhandlungen zwischen den Konfliktparteien ohne internationale Vorgaben sein müsse, hat bisher nicht zum Erfolg geführt. Seine Erfolgschancen sind auch künftig gering. Denn Vetogruppen in beiden Bevölkerungen haben sich als zu stark und die gewählten Führungen als zu schwach beziehungsweise in ihren Bemühungen um friedlichen Ausgleich als zu wenig konsequent erwiesen, so dass auch künftig nicht damit zu rechnen ist, dass die notwendigen „schmerzhaften Kompromisse“ ohne internationalen Druck zustande kommen. Dabei liegen die Grundzüge einer Konfliktregelung mit den Clinton-Parametern vom Dezember 2000, den Ergebnissen der Verhandlungen von Taba im Januar 2001 und dem inoffiziellen Genfer Abkommen vom Herbst 2003 längst vor.
Der Übergang zu einer Vermittlung, die den Konfliktparteien aktiv hilft, ihre Differenzen zu überwinden, statt wie bisher vornehmlich auf die Förderung von Gesprächen zu setzen, ist daher überfällig. Zu einem solchen Ansatz gehören ein konsequentes Monitoring, wie beide Seiten ihre Verpflichtungen erfüllen, genauso wie die Vorlage einer Blaupause für ein Endstatusabkommen durch das Nahost-Quartett und konkrete Angebote für eine internationale Truppenpräsenz, die die Umsetzung eines solchen Abkommens überwacht und mittelfristig den Frieden sichert.
Die regionale Dimension
Die neue US-Regierung müsste zudem auch auf einer anderen Schiene eines neuen nahöstlichen Friedensprozesses aktiv werden. Tatsächlich sind die Chancen, die bislang indirekten, von der Türkei vermittelten Gespräche zwischen Israel und Syrien in direkte Verhandlungen unter amerikanischer Ägide zu überführen und zu einem erfolgreichen Abschluss zu bringen, derzeit größer als die Aussichten auf einen Friedensvertrag zwischen Israelis und Palästinensern. Damaskus ist genuin nicht nur am Prozess, sondern an einem Frieden interessiert: Die Isolation des Landes würde damit beendet, seine wirtschaftlichen Aussichten würden sich verbessern und Präsident Assads Popularität im eigenen Land würde wachsen, wenn es ihm gelänge, die israelisch besetzten Golan-Höhen zurückzugewinnen, die sein Vater 1967 verlor.
Israel, die USA und auch Europa sollten sich in diesem Zusammenhang konzeptionell wie praktisch vor dem Fehler hüten, eine Aufkündigung des durchaus engen syrisch-iranischen Verhältnisses zur Vorbedingung eines Ausgleichs zwischen Israel und Syrien zu erklären. Die Logik nahöstlicher Dynamiken funktioniert umgekehrt: Wenn Syrien Frieden mit Israel schließt, wird das nicht nur insgesamt zur Beruhigung der Region beitragen, sondern auch eine dauerhafte Befriedung der israelisch-libanesischen Front erlauben. Zudem werden die Interessen Syriens und des Iran im Nahen Osten automatisch weniger stark überlappen als heute. So wird Syrien die libanesische Hisbollah nicht mehr brauchen, um indirekt Krieg gegen Israel zu führen, und sein Interesse an der Unterstützung der Hamas wird schwinden. Schon heute, mit Blick auf die relativ erfolgreichen indirekten israelisch-syrischen Gespräche des vergangenen Jahres, ist Syrien eher an einer Beruhigung der Lage in Palästina und an einer Wiederherstellung palästinensischer Einheit interessiert als an einer Ausweitung eines Konflikts, in dessen Schatten eine Fortführung der Verhandlungen mit Israel politisch unmöglich ist. Man kann davon ausgehen, dass Syrien auch die Hisbollah in diesem Sinne „beraten“ und keine Anstalten gemacht hat, aus dem Libanon eine zweite Front zu eröffnen. Bereits 2007, im Vorfeld des kurzlebigen saudisch vermittelten innerpalästinensischen Abkommens von Mekka, hatte Syrien sich konstruktiv eingebracht und seinen Einfluss auf die in Damaskus ansässige Exilführung der Hamas genutzt.
Dr. MURIEL ASSEBURG ist Leiterin der Forschungsgruppe Naher / Mittlerer Osten und Afrika in der SWP.
Prof. Dr. VOLKER PERTHES ist Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin.
Internationale Politik 2, Februar 2009, S. 61 - 66.