IP Special

03. Jan. 2022

Warnung vor dem Déjà-vu

Deutschland und Frankreich brauchen 2022 einen echten Neuanfang. Sollten sich die Enttäuschungen von 2017 wiederholen, wäre das eine schlechte Nachricht – für beide Länder und für Europa.

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Bild: Annalena Baerbock mit Ihrem französischen Amtskollegen Le Drian
Als Kanzlerkandidatin wollte Annalena Baerbock zuerst nach Brüssel, als Bundesaußenministerin – hier mit ihrem französischen Amtskollegen Jean-Yves Le Drian – ging die erste Auslandsreise dann doch nach Paris.
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"Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“, heißt es in der bekannten Verszeile Hermann Hesses. Bundeskanzlerin Angela Merkel zitierte sie beim ersten Berlin-Besuch des frischgewählten Emmanuel Macron. Tatsächlich setzte der französische Staats­präsident vor fünf Jahren mehrmals auf diesen Zauber des Anfangs. Seine Siegesrede nach der gewonnenen Präsidentschaftswahl hielt er im Mai 2017 vor dem Louvre, sorgfältig in Szene gesetzt vor dem architektonischen Sinnbild französischer Geschichte und Kultur. Zur Überraschung vieler Zuschauer im europäischen Ausland erklang aber zu den Fernsehbildern aus Paris noch vor der „Marseillaise“ Ludwig van Beethovens „Ode an die Freude“ – die Europa-Hymne als Kontrapunkt zur erdrückenden Symbolik des französischen Präsidialsystems. Einige Monate später folgte der zweite Auftritt Macrons in geschichtsträchtigem Rahmen. Zwei Tage nach der Bundestagswahl forderte er an der altehrwürdigen Pariser Sorbonne-Universität angesichts der Dauerkrise der EU einen Neuanfang für Europa.



2017 hatte Macron die Rechnung allerdings ohne die deutsche Kanzlerin gemacht. Merkel, die nie viel für Inszenierungen übrig hatte, fehlte die Fantasie oder der politische Wille für eine große europäische Renaissance. Zahllose Erklärungsversuche und Kritiken hat es seitdem für das Ausbleiben der deutschen Antwort auf die französischen Vorschläge gegeben. Nun steht mit der von Olaf Scholz geführten Bundesregierung wieder ein politischer Neuanfang im Raum – allerdings unter anderen Vorzeichen: Machte Macron 2017 selbstbewusst ein europapolitisches Angebot an Deutschland, wartet er nun auf die ersten Schritte der neuen Bundesregierung; zudem steht im April 2022 in Frankreich die nächste Präsidentschaftswahl an. Der Zauber eines Anfangs droht in den deutsch-französischen Beziehungen von der Angst vor dem Ungewissen getrübt zu werden.



Präsident Macron und seiner Partei La République en Marche! (LREM) steht in der ersten Jahreshälfte 2022 ein Balanceakt bevor. Angesichts der im Januar beginnenden französischen EU-Ratspräsidentschaft gilt es, ein Gleichgewicht zwischen nationaler Wahlkampfrhetorik und der Verantwortung als „honest broker“ in einer EU der fortwährenden Krise zu finden. Die Opposition, vor allem die von rechts, die zugleich die größte Gefahr für Macrons Wiederwahl ist, hat hier eine offene Flanke der Regierungspartei und des Amtsinhabers erkannt.



Von den Rechtsaußen Éric Zemmour und Marine Le Pen über die Bewerber der konservativen Les Républicains, darunter Valérie Pécresse, Xavier Bertrand und Michel Barnier, der in den vergangenen Jahren noch das Gesicht europäischer Geschlossenheit in den Brexit-Verhandlungen war: Sie alle betonen mit Blick auf den Streit zwischen der polnischen Regierung und der EU die Unantastbarkeit der nationalen Souveränität der Mitgliedstaaten. Stellenweise ist von einem „föderalistischen Putsch aus Brüssel“ die Rede. Insgesamt wird versucht, Macron als Verräter der gaullistischen Vision eines „Europas der Vaterländer“ hinzustellen.

Angesichts dieser Angriffe, die bis zu den Wahlen im April zweifellos noch an Schärfe gewinnen werden, hofft Macron auf Schützenhilfe aus Deutschland. Die Signale, die die neue Bundesregierung nach Paris schickt, könnten maßgeblichen Einfluss auf die französische Ratspräsidentschaft und den Präsidentschaftswahlkampf haben.



Hoffnungsträger Scholz

Drei Monate bleiben Macron zu Beginn des Jahres, bevor er im März die Rolle als europäischer Visionär gegen die des französischen Wahlkämpfers eintauscht. Grundsätzlich dürfte das Bundestagswahlergebnis im Elysée-Palast gemischte Gefühle ausgelöst haben. Mit Olaf Scholz hat sich der Anwärter auf die Kanzlerschaft durchgesetzt, der im In- und Ausland gleichermaßen als derjenige mögliche Nachfolger Angela Merkels angesehen wurde, der ihr am meisten ähnelt. Dass der SPD-Kandidat Scholz mit seiner Nachahmung der Merkel’schen Raute im Wahlkampf die Macht der Symbolik entdeckte, wurde in Frankreich ausgiebig kommentiert. Auch die Duzfreundschaft zwischen den Finanzministern Olaf Scholz und Bruno Le Maire dürfte die französische Regierung als gute Voraussetzung für zukünftige Zusammenarbeit deuten.



Denn die französische Hoffnung in Scholz erklärt sich nicht nur aus dem Versprechen auf Kontinuität. Schon seit Monaten signalisiert der neue deutsche Regierungschef dem Elysée seine Bereitschaft, in der kommenden Legislaturperiode große Herausforderungen anzugehen. Das fängt bei Anekdoten und der Frage aus dem Wahlkampf an, wohin die erste Dienstreise den nächsten deutschen Kanzler führen würde. Während Anna-Lena Baerbock als Kanzlerin wohl zuerst nach Brüssel gefahren wäre und Armin Laschet keine Antwort hatte, nannte Scholz ohne zu zögern Paris. Entscheidend ist aber, dass Scholz als Finanzminister der letzten Bundesregierung maßgeblich zum Gelingen des größten europapolitischen Erfolgs Macrons beigetragen hat: dem Hunderte Milliarden Euro schweren EU-Wiederaufbaufonds, der im Sommer 2020 nur dank eines deutsch-französischen Kompromisses möglich wurde. Pariser Regierungskreise deuteten die Einigung als Einschwenken Deutschlands auf den wirtschaftspolitischen Kurs Frankreichs und sprechen seitdem von einer historischen Chance. Entsprechend groß war der Beifall für Scholz’ Rede vom „Hamilton’schen Moment“ der EU in Anspielung auf den ersten Finanzminister der Vereinigten Staaten, Alexander Hamilton.



Die Forderung nach der Verstetigung des Fonds samt gemeinsamer europäischer Schuldenaufnahme über die pandemiebedingte Ausnahmesituation hinaus könnte zu einem Kernanliegen der französischen EU-Ratspräsidentschaft werden. Wie offensiv Macron im Präsidentschaftswahlkampf für das „schützende Europa“ (l’Europe qui protège) wirbt, dem Slogan seines Europa-Wahlkampfs von 2019, hängt maßgeblich vom Spielraum ab, den er aus Berlin bekommt.



Sorgen wegen Lindner

Mit einem verstetigten Wiederaufbau­fonds, so oder so ähnlich könnte die Erzählung lauten, wäre die EU in der Lage, wichtige Zukunftsinvestitionen zu tätigen, um die europäische Wettbewerbsfähigkeit in einer immer stärker antagonistischen internationalen Ordnung zu sichern. Diese Überlegungen erklären, warum sich die Aufmerksamkeit des Elysée-Palasts nun verstärkt auf die kleinste der drei Koalitionsparteien richtet.

Die FDP mit ihrem Parteichef und dem neuen Finanzminister Christian Lindner müssten der Verstetigung des Wiederaufbaufonds zustimmen. Mindestens muss es einen Kompromiss oder Zugeständnisse geben, die Macron im französischen ­Präsidentschaftswahlkampf dann vor der Kulisse der EU-Ratspräsidentschaft für sich nutzen kann.



Viele Streitthemen

Die Verstetigung des EU-Wiederaufbaufonds ist aktuell wohl die wichtigste ungelöste Frage der deutsch-französischen Beziehungen. Diese und die Diskussionen um gemeinsame europäische Schulden und eine Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts haben andere Themen zuletzt in den Hintergrund rücken lassen.

Für die französische Regierung ist die Wirtschafts- und Finanzpolitik mit Blick auf die EU-Ratspräsidentschaft und die Präsidentschaftswahl offensichtlich das wichtigste Thema. Diese Priorisierung wurde bereits im September 2021 im Rahmen der Berichterstattung über die Besuche der Wahlkämpfer Olaf Scholz und Armin Laschet in Paris deutlich. Rund um das Treffen mit ­Scholz wurde die Frage, wie ernst es der SPD-Kanzlerkandidat mit seinen Hamilton-Anspielungen meine, in Frankreich intensiv diskutiert. Armin Laschets Vorschlag, die EU als „Sicherheitsunion“ handlungsfähiger zu machen, den der CDU/CSU-Kanzlerkandidat kurz vor dem Abflug veröffentlicht hatte, fand hingegen kaum Beachtung.



Dabei birgt auch die Sicherheitspolitik in den kommenden Jahren viel Konflikt­potenzial. Die französische Aufregung rund um das Sicherheitsabkommen zwischen Australien, Großbritannien und den USA (AUKUS) hat erneut deutlich gemacht, dass Rüstungsexporte wesentlicher Bestandteil französischer Außen- und Sicherheitspolitik sind. In Deutschland war die Aufmerksamkeit für das Thema schnell verflogen. Die Bundestagswahlen und das geringe öffentliche Interesse an Sicherheitspolitik im Allgemeinen und der indo-pazifischen Region im Besonderen, rückten andere Themen in den Fokus.



In Frankreich gehen die Diskussionen um die Auswirkungen der AUKUS-Affäre hingegen weiter. Französische Beobachter warnen mit Blick auf das doppelte Spiel der australischen Partner vor einem ähnlichen „Dolchstoß“ für das Future Combat Air System (FCAS), das Frankreich aktuell gemeinsam mit Deutschland und Spanien entwickelt. Bereits im Juni 2021 hatte ein Bericht des Spiegel für große Unruhe gesorgt. Dort wurde ein deutscher Insider mit den Worten zitiert, Deutschland habe sich bei dem Projekt „von den Franzosen über den Tisch ziehen lassen“. Schließlich macht sich mit Blick auf die deutschen Debatten der vergangenen Jahre, beispielsweise über die Anschaffung bewaffneter Drohnen für die Bundeswehr, niemand in Paris Illusionen darüber, dass Rüstungsexporte und eine gemeinsame Sicherheitspolitik in Abstimmung mit einer SPD-geführten Bundesregierung zukünftig einfacher werden.



Gleiches gilt für die Energie- und Klimapolitik. Steigende Energiepreise zum Jahresende haben in vielen europäischen Mitgliedstaaten der Frage nach der richtigen Balance zwischen Klimapolitik und sozialer Verträglichkeit neue Dringlichkeit verliehen. Nichts fürchtet die aktuelle französische Regierung vor der Präsidentschaftswahl so sehr wie ein Wiederauf­flammen der Gelbwesten-Proteste, die sich Ende 2018 vor allem am Preisanstieg infolge einer umweltpolitisch begründeten Steuererhöhung für Benzin entzündet hatten.



Dass die Strompreise für französische Haushalte im europäischen Vergleich moderat ausfallen, ist vor allem der Atomkraft zu verdanken, die 2020 rund 70 Prozent der französischen Stromerzeugung ausmachte. Wenig überraschend also, dass Präsident Macron in seinem Mitte Oktober angekündigten 30 Milliarden Euro schweren Investitionsplan „France 2030“ der Forschung und dem weiteren Ausbau der Atomkraft einen prominenten Platz einräumte und dies seither mehrmals unterstrichen hat.



Gleichzeitig sollen auf der anderen Rheinseite 2022 die letzten deutschen Atomkraftwerke vom Netz gehen. Entsprechend hat die neue Bundesregierung kein Interesse daran, französische Bemühungen, die Atomkraft auf europäischer Ebene als „grüne“ Energiegewinnung zu qualifizieren, zu unterstützen. All das verspricht schwierige Verhandlungen, sowohl auf europäischer Ebene als auch in den bilateralen Beziehungen.



Unwägbarkeiten

So verknüpfen sich im Elysée-Palast große Erwartungen, aber auch große Sorgen mit der neuen Bundesregierung. Jede der drei Koalitionsparteien bringt aus französischer Sicht neue Unwägbarkeiten und Risiken in die bilateralen Beziehungen.



Wirtschaftspolitisch ist die FDP das Zünglein an der Waage, mit Blick auf die Sicherheitspolitik bereitet die SPD Kopfzerbrechen, und auch die Ent­­stehungsgeschichte der Grünen aus der Anti-Atomkraft-Bewegung lässt komplizierte Beziehungen erahnen. Wenig deutet also darauf hin, dass die deutsch-französische Zusammenarbeit in der kommenden Legislaturperiode einfacher wird.



Andererseits knüpfen sich französische Hoffnungen durchaus nicht nur an die Wirtschafts- und Finanzpolitik und den europäischen Wiederaufbaufonds. Die Aussicht auf eine aktivere deutsche Außenpolitik unter grüner Federführung ist in Frankreich ein wichtiges Gesprächsthema. Der Eindruck ist, dass die neue Bundesregierung französischen Reform­initiativen in der Europapolitik wesentlich aufgeschlossener gegenüberstehen wird als unter Angela Merkel.



Grundsätzlich hofft man in außen- und sicherheitspolitischen Kreisen in Paris, dass Deutschland sich künftig klarer positioniert. Zögerliches Handeln und zweideutige Äußerungen aus dem Kanzleramt und dem Auswärtigen Amt wurden in den vergangenen Jahren häufig als mangelnde Unterstützung gedeutet. Das hat in Frankreich die Frage aufgeworfen, wie ernst es Deutschland mit der europäischen Solidarität wirklich ist.



Als Frankreich bei seinen Verbündeten für den Spezialkräfteeinsatz Takuba im Sahel warb, sagte Deutschland zwar politische Unterstützung zu, schickte aber keine Soldaten. Als im Sommer 2020 ein türkisches Schiff laut Darstellung Frankreichs damit drohte, eine französische Fregatte zu beschießen, reagierte Deutschland zurückhaltend, als ­Frankreich ­Konsequenzen forderte. Als die französische Regierung nach dem geplatzten Rüstungsdeal mit Australien europäische Unterstützung forderte, sahen sich die Pariser Kreise bestätigt, als diese aus Berlin eher moderat ausfiel: Im Zweifel halte Deutschland dann doch immer Washington die Treue.



Farbe bekennen

Gelegenheiten, die Grundlage für neue Positionierungen zu schaffen, gäbe es während der französischen Ratspräsidentschaft. Für die Außen- und Verteidigungspolitik bietet der Gipfel zur EU-Verteidigungspolitik, der voraussichtlich im März 2022 in Toulouse stattfinden soll, der neuen Bundesregierung die Gelegenheit, den französischen Partnern die eigenen Positionen nahezubringen. Spätestens im Mai werden die Koalitionsparteien dann im Rahmen der Mandatsdebatte zu den Bundeswehreinsätzen im Sahel auch im Bundestag Farbe bekennen müssen.



Sowohl in der Regierungszusammenarbeit als auch mit Blick auf die Kooperation der Parlamente ist dabei zu hoffen, dass der deutsch-französische Ministerrat und die deutsch-französische parlamentarische Versammlung aktiv genutzt werden, um nach Kompromissen zu suchen und Missverständnissen vorzubeugen.

Sowohl für die Außen- und Verteidigungspolitik als auch für die Wirtschafts- und Energiepolitik birgt ein Neuanfang in den deutsch-französischen Beziehungen große Chancen. Wird er genutzt, kann er entscheidende Impulse für eine EU liefern, die nach langen Jahren der Krisenverwaltung endlich wieder Visionen für die Zukunft braucht. Wie schrieb Hermann Hesse im Frühjahr 1941, in einer der dunkelsten Stunden der europäischen Geschichte: „Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise, mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.“    

 

Jacob Ross ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Frankreich-Programm der DGAP.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik Special, Ausgabe 02, Januar 2022, S. 53-58

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