Weltspiegel

26. Juni 2023

Macrons Balanceakt im Indo-Pazifik

Frankreich versteht sich als Teil der Weltregion, was in Deutschland häufig ignoriert wird. Ob es seine Ziele dort erreichen kann, steht allerdings infrage.

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Bild: Emmanuel Macron während einer Rede in Papeete, Tahiti
Der Präsident lässt keinen Zweifel daran, dass er Frankreich als „indopazifisches Land“ versteht: Emma­nuel Macron zu Besuch in Papeete, der Hauptstadt von Französisch-Polynesien, auf Tahiti.
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Die Äußerungen Emmanuel Macrons zur Rolle der EU in der Taiwan-Frage während seines Staatsbesuchs in China haben im April in den Vereinigten Staaten und Europa für empörte Reaktionen gesorgt. Viel Kritik kam auch aus Deutschland: Frankreichs Präsident probe die Annäherung an Peking und drohe Europa zu „spalten“.



Dass Macrons Aussagen nach dem Treffen mit Staatspräsident Xi Jinping – begleitet von chinesischen Militärmanövern um Taiwan und vor dem Hintergrund des andauernden russischen Krieges gegen die Ukraine – auf große Kritik stießen, war nachvollziehbar. Ein unaufgeregter Blick auf die geografischen, wirtschaftlichen und politischen Realitäten im Indo-Pazifik sowie der Vergleich des deutschen und französischen Engagements in der Region zeigen allerdings, wie wohlfeil viele Vorwürfe gerade aus Deutschland waren. Sie offenbarten vor allem die Unkenntnis vieler Beobachter, die ausblendeten, dass Macron China nicht nur als europäischer, sondern auch als indopazifischer Staatschef besuchte.



Die Aufmerksamkeit Deutschlands und der meisten EU-Staaten ist fast ausschließlich auf Russlands Aggression und den Krieg in der Ukraine gerichtet. Konflikte im Indo-Pazifik finden höchstens in der Peripherie des europäischen Blickfelds Platz. Dabei lässt sich bereits an den Deutungskämpfen um die Bezeichnung „Indo-Pazifik“ ablesen, wie sehr auch diese Region der Welt von Spannungen geprägt ist.



Der Begriff ist vordergründig geografisch, in den meisten Definitio­nen beschreibt er einen riesigen Raum zwischen der Ostküste Afrikas und der US-Westküste, mit den Kanälen von Suez und Panama als wichtigsten Zugängen und den Straßen von Singapur und Malakka in seinem Zentrum, zwei Schlagadern des internationalen Seehandels. Hinter der geografischen Bezeichnung steckt aber auch viel geopolitisches Kalkül. Seit der Jahrtausendwende wollen immer mehr Staaten Bezeichnungen wie „Asien-Pazifik“ durch „Indo-Pazifik“ ersetzen.



Das Indo-Pazifik-Konzept ist eine Antwort auf den wachsenden Einfluss Chinas. Japan führte es zu Beginn der 2000er Jahre ein, andere Staaten wie Indien (2010) und Australien (2013) folgten. Die französische Regierung änderte ihr Vokabular erst etwas später – in Dokumenten von 2013, dem Weißbuch für Sicherheits- und Verteidigungspolitik beispielsweise, ist noch von Asien-Pazifik die Rede.



Die Verknüpfung des Indischen und des Pazifischen Ozeans schafft einen neuen Raum, der chinesischen Hegemonialbestrebungen in Süd- und Südostasien Indien als zweite Regionalmacht gegenüberstellt. Folgerichtig verweigert die chinesische Führung die Verwendung des Begriffs und kritisiert ihn als geopolitische Manipulation seitens der US-Regierung. Auch Mitgliedstaaten des Verbands Südostasiatischer Nationen (ASEAN), darunter Malaysia, Thailand oder Singapur, sehen die neue Bezeichnung kritisch. Sie fürchten, in der Logik des Großmacht­konflikts zwischen China und den USA an Gewicht zu verlieren.



Das indopazifische Frankreich

Frankreich ist von den wachsenden Spannungen in der Region unmittelbar betroffen. Anders als für Berlin geht es dabei für Paris nicht nur um den Schutz der vielzitierten internationalen regelbasierten Ordnung und freie Handelswege, sondern vor allem um das eigene Staatsgebiet. Präsident Macron unterstreicht regelmäßig, was auch die Leitlinien des französischen Außen- und Verteidigungsministeriums festhalten: Frankreich ist ein „indopazifisches Land“.



Von den insgesamt 13 französischen Überseegebieten liegen drei im Indischen Ozean (La Réunion, Mayotte und die Süd- und Antarktisgebiete) und vier im Pazifik (Neukaledonien, Französisch-Polynesien, Wallis und Futuna sowie Clipperton). ­Diese sieben Gebiete erschließen rund 90 Prozent der Ausschließlichen Wirtschaftszone (AWZ) Frankreichs, die 10,2 Millionen Quadratkilometer umfasst und nach den USA die zweitgrößte der Welt ist. 1,6 Millionen französische Bürger leben hier auf eigenem Staatsgebiet, weitere 400 000 in anderen Staaten.



Mit den Überseegebieten verbinden sich schon heute große geoökonomische Interessen; in Zukunft dürften sie noch bedeutender werden. Allein die unbewohnten Clipperton-Inseln im Nordpazifik, weit vor der mexikanischen Küste, erschließen eine AWZ, die der Schwedens entspricht. Sie wird gegenwärtig intensiv für den Fisch­fang genutzt und könnte zukünftig auch Ressourcen auf dem Meeresboden erschließen. Ein Bericht des französischen Senats vom Januar 2023 unterstreicht die Bedeutung der Zugänge zu diesen Ressourcen und führt als Beispiel Neukaledonien an, östlich von Australien im Südpazifik gelegen, wo rund 20 Prozent der weltweiten Nickel-Vorkommen vermutet werden: ein Rohstoff, unverzichtbar zum Beispiel für die Produktion von Batterien für Elektrofahrzeuge.



Über die Interessen im Indo-Pazifik wacht Frankreich mit einem dichten diplomatischen Netz. Paris unterhält 25 Botschaften, 14 Generalkonsulate und zwei Vertretungen (in Nordkorea und Taiwan). 2020 wurde mit Christophe Penot erstmals ein eigener Botschafter für die Region benannt, der diese verschiedenen diplomatischen Aktivitäten koordinieren soll. Die Kulturdiplomatie ist mit 35 Instituts FranÇais und knapp 100 Bildungseinrichtungen mit französischsprachigen Angeboten aktiv. Und auch die regionale Zusammenarbeit in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist ein wichtiges Anliegen Frankreichs, 18 Verteidigungsattachés waren im vergangenen Jahr im Indo-Pazifik akkreditiert.



Diese diplomatische Präsenz wird durch eine militärische ergänzt, die im Ernstfall französische Staatsbürger und das Staatsgebiet verteidigt. Die sogenannten „Souveränitätskräfte“ sind fünf Regionalkommandos unterstellt, die im Süden des Indischen Ozeans, in Neukaledonien und in Französisch-Polynesien operieren sowie, dank bilateraler Abkommen, von Militärbasen in den Vereinigten Arabischen Emiraten und Dschibuti. Die Zahl der Soldaten schwankt zwischen 7000 und 8000, abhängig von den Übungen, die regelmäßig abgehalten werden.



In viele Partnerstaaten werden zudem Verbindungsoffiziere entsandt, nach Singapur, Südkorea oder zur 7. US-Flotte in Japan zum Beispiel. Noch vor dem Außenminister stellte 2019 die französische Verteidigungsministerin Florence Parly während des Shangri-La Dialogue die erste Regionalstrategie für den Indo-Pazifik in der Amtszeit Macrons vor – passend dazu lag im Hafen von Singapur der französische Flugzeugträger Charles de Gaulle vor Anker.



Eindeutige Signale

Um Einsatzbereitschaft zu demonstrieren, führen die französischen Streitkräfte regelmäßig Übungen im Indo-Pazifik durch. Die Luftwaffe entsandte 2021 erstmals Kampf-, Transport- und Tankflugzeuge aus der europäischen „Metropole“ in den Südpazifik, um zu zeigen, dass Frankreich fähig ist, eigene Kräfte, inklusive der Nuklearstreitkräfte, weltweit zu projizieren. Auch die französische Marine führt regelmäßig Missionen durch, zuletzt im Rahmen der Mission Jeanne d’Arc 2023.



Während die Bundesregierung aus Sorge vor den chinesischen Reaktionen bisher davor zurückschreckte, Schiffe der deutschen Marine wie die Fregatte Bayern durch die Straße von Taiwan zu schicken, sendet die französische Regierung mit ­ihrer Marine-Diplomatie eindeutige Signale in Richtung Peking. 2021 durchquerte ein französisches Spionageschiff die Meerenge; im gleichen Jahr wurde erstmals ein nukleares Jagd-U-Boot auf „strategische Mission“ ins Südchinesische Meer ent­sandt.



Anders als viele deutsche Reaktionen auf Macrons Äußerungen zu Taiwan suggerierten, war die französische Position gegenüber China bisher wesentlich robuster als die deutsche. In den Neujahrswünschen an die Streitkräfte kündigte Macron im Januar 2023 eine neue Indo-Pazifik-Strategie an und die Erhöhung der Militärpräsenz in den Überseegebieten. Und aufbauend auf der eigenen militärischen Präsenz hat die französische Diplomatie in den vergangenen Jahren versucht, strategische Partnerschaften jenseits der beiden Pole China und USA zu schließen und sich in der Tradition Charles de Gaulles, des Gründervaters der Fünften Republik, als „Balancemacht“ zwischen den beiden ­Supermächten zu positionieren.



Über den Schutz eigenen Staatsgebiets und der Staatsbürger hinaus definiert sich Frankreich im Indo-Pazifik als „stabilisierende“ Regionalmacht. Die Position leitet sich aus einer Reihe von Grundsatzreden aus der ersten Amtszeit Macrons ab, die der Präsident in Indien, Australien und Neukaledonien hielt. Die Idee eines dritten, französischen (bzw. europäischen) Weges, mit der Macron im Bezug auf Taiwan große Aufregung auslöste, findet sich in diesen Reden bereits. Sie ist keinesfalls neu, basiert im Gegenteil auf dem auch heute parteiübergreifenden Konsens, dass Frankreich außen- und sicherheitspolitische Entscheidungen unabhängig trifft und sich auch durch enge Bündnispartner innerhalb der EU oder der NATO nicht beeinflussen lässt. Entsprechend warnt Macron, westliche Strategien dürften sich nicht explizit gegen China richten und sucht nach Verbündeten für seine ausgleichende Position im Indo-Pazifik.



Damit grenzte sich der französische Präsident klar von der amerikanischen und auch britischen Strategie ab. Diese zielen immer stärker darauf ab, China aus regionalen Kooperationsformaten auszuschließen und zu isolieren. Anders als in den entsprechenden Dokumenten Frankreichs, aber auch Deutschlands, der Niederlande oder der EU-Kommission, die im Umgang mit China bisher themen­abhängig auf den Dreiklang „Partner, Wettbewerber, Rivale“ setzten, wird China in US-Papieren schon seit geraumer Zeit als Gegner definiert.



Ob die französische Strategie angemessen ist, darüber wird auch in Frankreich heftig gestritten. Beobachterinnen und Beobachter kritisieren Konzepte wie das eines dritten Weges oder Definitionen Frankreichs als „stabilisierende“ Macht als unrealistisch. Diese Stimmen sind seit der AUKUS-Affäre lauter geworden, die im August 2021 die bisherige Indo-­Pazifik-Strategie Frankreichs grundlegend infrage stellte.



Australien und der AUKUS-Schock

Am 15. September 2021 machten die USA, Großbritannien und Australien nach 18 Monaten geheimer Verhandlungen das Militärbündnis AUKUS öffentlich. Die australische Regierung stieg im Zuge der Ankündigung aus einem Rüstungsgeschäft mit Frankreich aus und kündigte an, statt französischer nun amerikanische U-Boote zu kaufen. Ein 2016 unterzeichneter „Jahrhundertdeal“ mit dem französischen Rüstungsunternehmen Naval Group wurde nichtig – ein Vertrag mit einem Geschäftsvolumen von rund 34 Milliarden Euro, an dem 4000 Arbeitsplätze hingen. Das französische Außen- und das Verteidigungsministerium warfen den USA daraufhin vor, einen europäischen Verbündeten von einer strukturierenden Partnerschaft in der Region ausgeschlossen zu haben. Einen Tag später zog Paris sogar kurzfristig seinen Botschafter aus Washington ab, ein historisch beispielloser Vorgang.



Wie nach den Taiwan-Kommentaren Macrons zeigten viele deutsche Reaktionen, wie schlecht informiert sie über die Rolle des engsten europäischen Verbündeten im Indo-Pazifik waren. In Berlin hieß es, Paris habe zwar einen milliardenschweren Rüstungsdeal verloren, die Empörung und die Rückberufung des Botschafters seien aber übertrieben. Dass durch AUKUS und die australische Entscheidung gegen Frankreich ein Standbein der französischen Indo-Pazifik-Strategie wegbrach und die Relevanz der gesamten Strategie infrage stand, wurde kaum diskutiert. 2018 hatte Macron deren Grundlinien in Australien entworfen. Nun signalisierte die Regierung in Canberra, dass sie Frankreich nicht für einen relevanten Akteur in der Region hielt und bereit war, sich angesichts der Bedrohung durch China amerikanischen Strategien in der Region zu unterwerfen.



Das verbleibende zweite „Standbein“ der französischen Strategie ist Indien. Wie bei Australien basierte die französische Annäherung an Indien auch auf umfangreichen Rüstungsgeschäften: In den vergangenen Jahren wurde die Lieferung von U-Booten im Wert von rund vier Milliarden Euro vereinbart und der Verkauf von 36 Kampfflugzeugen im Wert von rund acht Milliarden Euro.



Über multilaterale Formate wie den Raisina-Dialog und bilaterale Treffen haben beide Länder enge Beziehungen geknüpft. Der Besuch des indischen Regierungschefs Narendra Modi als Ehrengast der diesjährigen Feierlichkeiten zum französischen Nationalfeiertag am 14. Juli unterstreicht anekdotisch, wie wichtig das Verhältnis für Frankreich insbesondere nach dem AUKUS-Schock ist.



Allerdings sucht auch Indien nach verlässlichen Sicherheitsgarantien. So ist Neu-Delhi mit den USA, Australien und Japan im sogenannten Quadrilateral Security Dialogue („Quad“) engagiert, einer informellen Gruppe für sicherheitspolitische Zusammenarbeit, die für einen „freien und offeneren Indo-Pazifik“ eintritt. China bezeichnet den Quad als „asiatische NATO“, die den hegemonialen Ambitionen der Vereinigten Staaten diene. Indien steht mit seiner Politik aber beispielhaft für viele weitere Staaten der Region, die offiziell zwar das Nullsummenspiel des Großkonflikts zwischen den USA und China ablehnen, angesichts des wachsenden Einflusses Pekings aber inoffiziell immer mehr Kontakte zu den USA knüpfen.



Große Ambitionen



Angesichts dieser Entwicklungen steht Paris mit seiner bisherigen Strategie im Indo-Pazifik immer stärker unter Druck. Die Frage, ob Frankreich als „ausgleichende“ und „stabilisierende“ Macht als außen- und sicherheitspolitischer Partner in der Region auch zukünftig relevant ist, stellt sich seit der AUKUS-Affäre und mit Blick auf die Annäherung anderer indo­pazifischer Partnerstaaten an die Vereinigten Staaten mit immer größerer Dringlichkeit. Zuletzt sprach sich Macron gegen eine NATO-Präsenz in Tokio aus und blockierte damit die Eröffnung des ersten Verbindungsbüros der Allianz im Indo-Pazifik. Dass Frankreichs Präsenz in der Region sowohl in der jüngsten Nationalen Sicherheitsstrategie vom November 2022 als auch in der aktuell diskutierten mehrjährigen verteidigungspolitischen Finanzplanung im Fokus steht, ist kein Zufall. Frankreich reagiert einerseits auf die wachsende Bedrohung Chinas für das eigene Staatsgebiet und versucht andererseits, als Alternative zu US-Garantien auch weiterhin attraktiv zu bleiben.



Ob Paris diese Ziele erreichen kann, wird das außenpolitische Selbstverständnis Frankreichs bestimmen, nicht nur im Indo-Pazifik. Sollte Paris die Sicherheit des eigenen Staatsgebiets und eigener Staatsbürger von amerikanischen Sicherheitsgarantien abhängig machen müssen, wäre das ein fundamentaler Wandel und ein Bruch mit einer langen gaullistischen Tradition.



Emmanuel Macron scheint darüber hinaus auch weiterhin davon überzeugt, dass Frankreich als europäische Mittelmacht nicht nur in der unmittelbaren Nachbarschaft der EU, sondern auch in Westafrika, im Nahen Osten oder im Indo-Pazifik eine entscheidende Rolle spielen kann. Die Kommentare zur Taiwan-Frage auf der Rückreise von seinem China-Besuch zeugen davon, ebenso die Überzeugung, dass eine multipolare Weltordnung für Frankreich, Deutschland und die EU langfristig einer bipolaren vorzuziehen ist – eine Ansicht, die auch in Berlin keine Seltenheit ist.



Bevor also die Kritik an Macron allzu schrill wird, stünde es Kommentatoren in Deutschland gut an, die eigene Strategiefähigkeit, eigene Interessen im Indo-Pazifik und eigene Abhängigkeiten von China im Blick zu behalten. Anfang Juni kündigte Verteidigungsminister Boris Pistorius anlässlich des Shangri-La Dialogue an, 2024 erneut zwei deutsche Schiffe in den Indo-Pazifik zu entsenden. Ob die ein Teil der nach dem deutsch-französischen Ministerrat im Januar angekündigten „deutsch-französischen Übung“ sind, bleibt abzuwarten, genauso wie die Frage, ob deutsche Schiffe diesmal die Taiwan-Straße durchqueren werden.   

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli/August 2023, S. 56-61

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Jacob Ross ist Research Fellow im Alfred von Oppenheim- Zentrum für Europäische Zukunftsfragen der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP).