Weltspiegel

31. Okt. 2022

Grandeur zeigen, um europäisch zu führen

An Emmanuel Macrons Russland-Politik wird deutlich: Hinter vielen vermeintlich revolutionären Initiativen steckt die jahrzehntealte Logik des Gaullismus.

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Bild: Emmanuel Macron bei der Parade zum 14. Juli
Von der Russland-Politik bis hin zu offensiver Kritik an der NATO: Emmanuel Macrons Außenpolitik ist bislang oft von einem Gestaltungsanspruch geprägt, der der tatsächlichen Macht des Landes nicht entspricht.
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Seit Monaten wird Deutschland vorgeworfen, die Ukraine in ihrem Kampf gegen die russische Aggression nicht ausreichend zu unterstützen. Bundeskanzler Olaf Scholz steht mit seinem Zögern in Sachen deutscher Waffenlieferungen im Zentrum der Kritik. Der Bundeskanzler hat damit Frankreichs Präsidenten Emmanuel Macron abgelöst, der während der französischen EU-Ratspräsidentschaft in der ersten Jahreshälfte massiv für seine diplomatischen Bemühungen um Russlands Präsidenten Wladimir Putin kritisiert worden war. Auch nach dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine am 24. Februar warnte Macron davor, den Gesprächsfaden zu Moskau abreißen zu lassen.



Wie Deutschlands Zögern bei den Waffenlieferungen gründet sich Frankreichs Drängen auf Verhandlungen aus der Geschichte des Landes. Der Bundeskanzler muss mit seiner Ukraine-Politik ein fragiles Gleichgewicht innerhalb der Regierungskoalition und in seiner eigenen Partei wahren. Waffenlieferungen in ein Kriegsgebiet im Osten Europas haben mit Blick auf die deutsche Geschichte eine Sprengkraft, die dieses Gleichgewicht leicht zunichte machen kann. In Frankreich verhält es sich anders. Macron entscheidet fast allein über die Russland-Politik seines Landes. Trotz des Verlusts der parlamentarischen Mehrheit im Juni garantiert ihm die Verfassungspraxis weitgehend freie Hand in der Außen- und Sicherheitspolitik, die als domaine réservé exklusive Handlungsfelder des Präsidenten sind.



Frankreichs Unabhängigkeit wahren

Zugleich ist Macron derjenige unter den Präsidenten der Fünften Republik, der am stärksten versucht, dem Amt wieder eine gaullistische Gravitas zu verleihen. Der Kern gaullistischer Politik, die Verteidigung der Unabhängigkeit Frankreichs, wird auch in der zweiten Amtszeit Macrons ein Leitmotiv einer Außenpolitik bleiben, die das Land zur prägenden Kraft in Europa machen soll. Das hat der Präsident zuletzt in seiner Rede bei der Botschafterkonferenz Anfang September 2022 sehr deutlich gemacht.



Charles de Gaulle formulierte Frankreichs Anspruch auf Unabhängigkeit in den 1950er Jahren, um für sein Land eine Sonderstellung im Kalten Krieg zu begründen. Er bekannte sich zwar zum atlantischen Bündnis und bekräftigte immer wieder seine Bereitschaft, die USA bis zum Äußersten zu unterstützen. Zugleich forderte er aber immer eine unabhängige Haltung gegenüber dem „übergriffigen Beschützer“.



Dieser Anspruch, den er sowohl aus persönlichen Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg als auch aus den folgenden einschneidenden politischen Ereignissen wie der Suez-Krise von 1956 ableitete, brachte ihn 1959 dazu, den Aufbau eines autonomen Nukleararsenals, der force de frappe, voranzutreiben. 1966 führte er Frankreich aus der integrierten Kommandostruktur der NATO. Grundsätzlich war die gaullistische Außenpolitik immer von der Überzeugung geleitet, Frankreich solle seine Partner frei wählen können und sich niemals auf eine Lagerlogik einlassen.



Außenpolitik mit gaullistischem Erbe

In Macrons Außenpolitik ist das gaullistische Erbe seit dem Sommer 2019 besonders sichtbar. Sein Versuch, Russland in eine erneuerte europäische Sicherheitsarchitektur einzubinden, darf dabei allerdings nicht isoliert betrachtet werden. Befördert wurde er vor allem durch zwei Faktoren: ­einerseits durch die isolationistischen Töne von US-Präsident Donald Trump und die Infragestellung der transatlantischen Bündnisstrukturen. Der Schwächung der US-Sicherheitsgarantien für Europa und der Aufkündigung des INF-Vertrags folgte der Rückzug aus Nordsyrien, der Macron zu der vielzitierten Bemerkung veranlasste, die NATO sei „hirntot“. Andererseits erklären sich die Initiativen Macrons in Richtung Russland aber auch durch die zurückhaltende Reaktion der Bundes­regierung auf die Reformvorschläge für die EU, die er in seiner Sorbonne-Rede bereits im September 2017 unterbreitet hatte.



Die ausgestreckte Hand an Putin war auch Macrons Versuch, der französischen Politik neue Bewegungsfreiheit zu verschaffen. „Wir sind keine Macht, die der Auffassung ist, dass die Feinde unserer Freunde auch zwangsläufig unsere Feinde sind und wir deshalb nicht mit ihnen reden“, erklärte er bei der Vorstellung seiner Russland-Initiative im August 2019. Die Parallelen zur Entspannungspolitik, die Charles de Gaulle 1966 unter dem Slogan „Entspannung, Verständigung und Zusammenarbeit“ gegenüber der Sowjetunion eingeleitet hatte, waren unverkennbar. Während de Gaulle von einer europäischen Gemeinschaft „vom Atlantik bis zum Ural“ träumte, sprach Macron nun von einer neuen Sicherheitsarchitektur „von Lissabon bis Wladiwostok“.



Zweifel an der Politik der Grandeur

Die Frage, ob die französische Politik der Unabhängigkeit und der Grandeur ein Irrweg ist, begleitet die französische Außenpolitik seit Jahrzehnten: „Wer keine Macht hat, der braucht Grandeur“, schreibt der ehemalige französische Botschafter Michel Duclos dazu in seinem Buch „La France dans le bouleversement du monde“ (2021). Viele der Initiativen des Präsidenten – von der Russland-Politik bis hin zur offensiven Kritik an der NATO – waren von einem Gestaltungsanspruch geprägt, der dem tatsächlichen Gewicht Frankreichs nicht entsprach, merkt nicht nur Duclos kritisch an. Ihre langfristige Wirkung ist zweifelhaft, nicht selten führten sie Frankreich in die „strategische Einsamkeit“.



Macrons Russland-Politik in der Tradition de Gaulles ist nicht nur im diplomatischen Korps umstritten (dem Macron 2019 vorwarf, wie ein deep state zu agieren und seine Russland-Politik zu hintertreiben). Vor dem Hintergrund des russischen Angriffs auf die Ukraine warfen ihm viele Journalisten und politische Gegner vor, die Beziehung zu Russland romantisiert zu haben. Sie vermuteten hinter den Versuchen zur Einbindung Moskaus in eine europäische Sicherheitsarchitektur die Sehnsucht nach einer Zeit, als Frankreich die Geschicke Europas bestimmte.



Allerdings gibt es auch Befürworter, die die Russland-Politik Macrons im Gegenteil als pragmatischen Versuch einer europäischen Mittelmacht begrüßten, Russland in einer immer stärker antagonistischen Weltpolitik nicht in die Arme Chinas zu treiben – einer Mittelmacht, die die EU nutzt, um ihrer Stimme in einer Welt Gewicht zu verleihen, die von der „Rückkehr der Großmächte“ geprägt ist, wie Gérard Araud, ehemaliger Botschafter Frankreichs in Washington und New York, in seinen Memoiren „Passeport diplomatique“ 2019 konstatiert hat.



In Paris ist die Frage, wie sich Frankreich in dieser Welt der Großmächte positionieren soll, seit jeher eng mit der Beziehung zu Russland verknüpft. Laut Duclos war die Wiederbelebung des Dialogs mit Russland bisher für fast alle Präsidenten der Fünften Republik eine der ersten außenpolitischen Entscheidungen, an der sich darüber hinaus oft ablesen ließ, wie unabhängig sich die französische Außenpolitik von amerikanischen Positionen machen würde.



Ein anschauliches Beispiel für den Bruch mit der gaullistischen Linie lieferte Präsident Nicolas Sarkozy 2009. Nach Russlands Angriff auf Georgien ordnete er Frankreich in einer Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz der „westlichen Staatenfamilie“ zu. Für viele französische Diplomaten war die Zuschreibung in dieser Deutlichkeit neu.



Seit der Präsidentschaft Sarkozys sind die Befürchtungen der Anhänger der gaullistischen Linie noch gewachsen, von den „Westlern“ im Außenministerium verdrängt zu werden. Jean-Pierre Chevènement, Sonderbeauftragter für Russland unter dem sozialistischen Präsidenten François Hollande, beklagte stellvertretend 2020, Sarkozy und sein Außenminister Bernard Kouchner hätten Frankreichs Russland-Politik an den Positionen der amerikanischen Neokonservativen ausgerichtet. Auch Hubert Védrine, Außenminister von 1997 bis 2002 und heute ein Vertrauter Macrons, bedauert öffentlich den Kulturwandel im Quai dʼOrsay und die Ansicht vieler Diplomatinnen und Diplomaten, Frankreich könne sich zu viel Unabhängigkeit von den Vereinigten Staaten nicht mehr leisten.



Macron scheint diese Befürchtungen ernst zu nehmen. Dafür spricht nicht nur seine Russland-Politik, sondern auch die Bemühungen um die strategische Autonomie der EU und die wiederholten Provokationen gegen den transatlantischen Konsens, zuallererst seine „Hirntod“-­Diagnose über die NATO. Zudem kennt Macron den innen- und außenpolitischen Wert der Abgrenzung von den USA. Anders als in Deutschland bleibt das französische Nein zum Irak-Krieg von 2003 in vielen französischen Debatten ein wichtiger Bezugspunkt. Die Rede des damaligen Außenministers Dominique de Villepin vor dem UN-Sicherheitsrat ist unvergessen. Seine Warnung des „alten Frankreichs“ und des „alten Kontinents“ Europa an die amerikanischen Partner bleibt eine Quelle nationalen Stolzes in Frankreich. Und in Paris erinnert man sich gern daran, dass Frankreichs internationales Prestige 2003 insbesondere im Globalen Süden auf seinem Höhepunkt war.



Macron als europäischer Impulsgeber

Der Verweis auf de Gaulle zur Erklärung der Außenpolitik Macrons trägt allerdings nur bis zu einem gewissen Grad. Sie lässt übersehen, dass die französischen Präsidenten nach de Gaulle immer stärker proeuropäische Politik gemacht und sich von seiner Vision eines „Europa der Vaterländer“ emanzipiert haben. Macron ist, anders als de Gaulle, mitnichten ein Gegner der Supranationalität. Er legt der Europäischen Kommission keine Steine in den Weg und blockiert nicht den Fortgang des Integrationsprozesses. Vielmehr ist er in den vergangenen fünf Jahren einer der wichtigsten Impulsgeber der EU gewesen. Er sieht sie als Plattform europäischer Souveränität. Macron fordert nicht weniger Amerika, sondern mehr Europa. Europäische Macht, die in einer multipolaren Welt ihre eigene Sicherheit und Interessen vertreten kann: „Wir müssen überall in der Lage sein, unsere Handlungsfreiheit zu bewahren, die mit der Treue zu Bündnissen und Koalitionen einhergeht“, sagte er auf der Botschafterkonferenz 2022.  

Anlässlich der Wahl Joe Bidens zum amerikanischen Präsidenten warnten viele französische Kommentatoren vor einem „Anästhesieeffekt“ für Europa. Die Rückkehr eines klassischen Transatlantikers würde Europa in seinem Streben nach Souveränität zurückwerfen. Der russische Angriff auf die Ukraine hat diese Tendenzen deutlich verstärkt. Vor dem Hintergrund der US-Präsidentschaftswahl 2024 und der möglichen Rückkehr Donald Trumps ins Weiße Haus fordert Macron seine europäischen Partner dazu auf, das Tempo zu erhöhen und die europäische Souveränität hin zu einem machtvollen Europa auszubauen, einem Europe de ­pleine puissance.



An der Spitze einer souveränen EU

Dass Frankreich in einem souveränen Europa die führende Rolle spielen soll, steht wiederum in der gaullistischen Tradition. Unter Macrons Vorgänger Hollande hatte sich Frankreich mit der Rolle des Juniorpartners Deutschlands abgefunden. In seinen Memoiren beschreibt er, wie Angela Merkel im Februar 2015 auf einem Blatt Papier die Eckpunkte des Minsker Abkommens entwarf: „Sie überließ das niemand anderem, nicht einmal ihren Beratern.“ Bei Macrons Versuch, Russland in eine europäische Sicherheitsarchitektur einzubinden, ging es auch darum, die Ini­tiative zurückzugewinnen. Für die Bundesregierung und Deutschland, das in den Beziehungen zwischen der EU und Russland immer die treibende Kraft gewesen war, war dies eine völlig neue Situation.



Mittlerweile ist klar, dass Russland in einer wie auch immer gearteten neuen europäischen Sicherheitsordnung keine konstruktive Rolle spielen wird. Auch Macron glaubt nicht an einen Regimewechsel in Moskau und geht davon aus, dass Russland dauerhaft eine Herausforderung für die europäische Sicherheit bleiben wird. Man müsse deshalb, so wiederholte er zuletzt, eine Sicherheitsordnung schaffen, die ohne – er sagte nicht: gegen – Russland funktioniere. Der Punkt ist von zentraler Bedeutung und erklärt, weshalb Macron weiterhin darauf besteht, alle Kommunikationskanäle offen zu halten.

Allerdings hat diese Forderung genauso wie seine Warnung im Juni, man dürfe Russland nicht demütigen, in Europa hohe Wellen geschlagen. Sie entspringen zwei tief verankerten, historisch begründeten Überzeugungen: zum einen, dass Russland eine geografische Tatsache sei, mit der man umzugehen habe, und zum anderen, dass Gefühle wie Demütigung, Hoffnung und Angst eine gewichtige Rolle in den internationalen Beziehungen spielten.



Alles deutet darauf hin, dass Macron auch in seiner zweiten Amtszeit außenpolitisch eine gaullistische Linie verfolgen wird. Die europäischen Partner Frankreichs zwingt das dazu, sich mit gaullistischen Werten und Weltanschauungen auseinanderzusetzen, um französische Initiativen zu verstehen und einordnen zu können. Der überraschende Vorschlag Macrons, eine Europäische Politische Gemeinschaft zu schaffen und einen neuen Ring um die EU zu ziehen, ist ein gutes Beispiel dafür.



Um seine europäischen Verbündeten – nicht zuletzt in Osteuropa – für französische Positionen zu gewinnen und Frankreichs Stimme in der Welt mehr Gehör zu verschaffen, wird Macron die gaullistische Politik der Grandeur aber stärker als bisher an den politischen Gegebenheiten ausrichten, das heißt: sie in den Dienst der EU stellen müssen. Undenkbar ist das nicht. Charles de Gaulles, schreibt sein Biograf Julian Jackson, habe immer darauf geachtet, seine Ideen den politischen Gegebenheiten anzupassen.   

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, November/Dezember 2022, S. 83-87

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Jacob Ross ist Research Fellow im Frankreich- Programm der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP).