Lizenz zum Töten
Eine seriöse Gefahrenanalyse des islamistischen Nuklearterrorismus tut not
1400 Jahre lang wurde bei Konflikten die -traditionelle islamische Ethik der Gewalt als Grundlage des Handelns -akzeptiert. Doch diese Ethik zerfällt seit 25 Jahren. Wie rechtfertigen die islamistischen Fundamentalisten die Entgrenzung der Gewalt? Welche Massenvernichtungswaffen werden sie demnächst einsetzen?
Als Innenminister Wolfgang Schäuble in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 16. September 2007 eindringlich vor der wachsenden Gefahr eines nuklearen Terroranschlags warnte, fielen die Reaktionen anders aus als erhofft.1 Zwar berichteten die deutschen Medien im Anschluss an die Warnungen des Ministers pflichtschuldig über Konstruktion und Wirkungsweise einer so genannten „schmutzigen Bombe“; doch schnell konzentrierte sich die Debatte wieder auf die gewohnten Themen Online-Durchsuchung und Datenschutz. Für viele Beobachter waren Schäubles Warnungen nur ein weiterer Vorwand, um seine Pläne einer umfassenden Überwachung terrorverdächtiger Bürger zu legitimieren.
Die Frage nach den konkreten Dimensionen des nuklearen Terrors wurde nur selten gestellt. Und völlig außer Acht blieb ausgerechnet die Frage, die in den kommenden Jahren ins Zentrum der internationalen Terrorismusdiskussion rücken wird: die Frage nach der religiösen Rechtfertigung des nuklearen Terrors durch den militanten islamistischen Fundamentalismus.
Dies hätte eigentlich auch hierzulande die Stunde der Islamwissenschaft sein müssen. Doch wie schon seit Jahren kommt aus dieser Ecke kein erklärendes Wort. Man schweigt sich zur aktuellen Problematik des weiter anwachsenden militanten islamistischen Fundamentalismus aus. Offensichtlich hält man ihn lediglich für einen temporären Wutausbruch der Modernisierungsverlierer, der einfach ausgesessen werden muss.
Was aber, wenn alles ganz anders ist? Folgt man den herausragenden Vertretern der internationalen Islamwissenschaft – von Bernard Lewis bis zu Olivier Roy –, dann ist der islamistische Fundamentalismus eine Reak-tion auf die Tatsache, dass sich in den islamischen Staaten Politik und Kultur einerseits und Religion andererseits voneinander lösen: Politik und Kultur verwestlichen, die isolierte Religion wird marginalisiert.2 In der Sprache der Fundamentalisten bedeutet dies, dass die islamische Welt vom rechten Weg abgekommen ist. In Wirklichkeit würden die islamischen Führer ihre Religion nicht schützen und verbreiten; sie seien vielmehr Abtrünnige, die sich vom heiligen Gesetz abgewandt und die Gesetze und Gebräuche der Ungläubigen aus dem Westen übernommen hätten. Die islamistischen Fundamentalisten halten daher die Rückbesinnung auf die ursprüngliche islamische Lebensweise für unerlässlich.
Der Sturz der abtrünnigen Regierungen ist zwangsläufig eine wichtige Voraussetzung dieser Rückbesinnung. Die antiwestliche Obsession der Fundamentalisten folgt aus ihrer Annahme, der Westen sei die Ursache allen Übels, das die islamische Gesellschaft befallen hat. Die faktische Priorisierung des Kampfes gegen den Westen, der zumindest dessen Demütigung und damit die Beseitigung seiner Qualität als erfolgreiches Gesellschaftsmodell erreichen soll, darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass der islamistische Fundamentalismus zwei Gegner hat: den Westen, aber eben auch die „abtrünnigen“ Regierungen aller gegenwärtigen islamischen Staaten – Iran ausgenommen. Bernard Lewis spricht in diesem Zusammenhang von einem „zweifachen Dschihad“ der Fundamentalisten: „dem gegen die Ungläubigen im Ausland und dem gegen die Apostaten in islamischen Ländern.“3
Nur diese Sicht des islamistischen Fundamentalismus erklärt auch, warum – außerhalb des palästinensischen Kontexts – fast alle aktiv gewordenen islamistischen Terroristen im Westen aufgewachsen sind oder lange Zeit dort gelebt haben. Sie lebten in einem Umfeld, in dem ihre Religion keinerlei Bedeutung für Politik und Gesellschaft hatte – haben durfte –; in einer Kultur, der nichts heilig zu sein schien; einer Kultur, die für Vertreter eines von der Scharia geprägten Staatswesens nur aus unzumutbaren Herausforderungen bestehen musste. Sie, die Aktivisten des -islamistischen Fundamentalismus, waren und sind daher im umfassenden Sinne entwurzelt. Für sie ist der Weg in das dem Märtyrer versprochene Paradies eine frühe Erlösung.
Ist bei dieser Sicht der Dinge der islamistische Fundamentalismus auch nur eine Episode, die ausgesessen werden kann – eine Krankheit, die zu Heilung und nicht zum Tode führt? Ist dem Phänomen des islamistischen Fundamentalismus mit Analogien wie der RAF wirklich beizukommen? Die Antwort hierauf ist nicht allzu schwer. Wenn der islamistische Fundamentalismus seine Ursachen wirklich in der Verwestlichung der islamischen Länder hat, dann handelt es sich hierbei um ein Langzeitproblem – einem möglicherweise säkularen Kampf des Fundamentalismus gegen die Abtrünnigen und die Ungläu-bi-gen (bezeichnenderweise auch „Weltverderber“ genannt). Dafür spricht gleichfalls die gegenwärtige Ausbreitung eines militanten islamistischen Fundamentalismus über die gesamte islamische Welt. Bernard Lewis hat in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass nach den heiligen Schriften des Islams in einer noch nicht durchgängig islamischen Welt ein „obligatorischer Kriegszustand“ herrsche, der allenfalls von Zeiten der Waffenruhe unterbrochen werden könne.4
Damit ist festgestellt, dass die gegenwärtige Intensität des islamistischen Terrors nicht unveränderlich ist – und daher auch Al-Qaida oder andere terroristische Organisationen nicht unendlich leben werden. Doch andere Organisationen mit vergleichbarer Programmatik werden folgen, geführt von Bin Ladens Nachfahren im Geiste. Die westliche Welt sollte sich daher auf die nicht absehbare Dauer der Existenz eines militanten islamistischen Fundamentalismus einstellen. Dasselbe gilt allerdings auch für die islamischen Staaten, den „amerikanischen Islam“ (Ajatollah Khomeini), die Apostaten. Auch sie werden durch den Fundamentalismus dauerhaft herausgefordert.
Der Niedergang der islamischen Ethik der Gewalt
Es gibt jedoch noch einen weiteren Betroffenen, ja dauerhaft Geschädigten dieser Entwicklung: die traditionelle islamische Ethik der Gewalt. Diese ergibt sich aus dem Koran, den sonstigen Äußerungen Mohammeds und seiner Umgebung sowie insbesondere den Koraninterpretationen autorisierter islamischer Geistlicher, die sich über die vergangenen 1400 Jahre vielfach veranlasst sahen, den Koran jeweils zeitgeschichtlich auszulegen und ihn damit theoretisch verständlich und praktisch anwendbar zu machen. Olivier Roy hat dazu das Notwendige gesagt: „Die Schlüsselfrage lautet nicht, was der Koran sagt, sondern was der Koran nach Auffassung der Muslime sagt ... Hier geht es nicht um den Islam als theologisches Korpus, sondern um Deutungen und Praktiken von Muslimen.“5
Anders als im römischen Rechtsverständnis, wonach das Recht zu schweigen hatte, wenn die Waffen sprachen, enthielt das islamische Recht von Anfang an dezidierte Aussagen zum Recht im Krieg. Vergleichbar der im christlichen Abendland entwickelten Theorie des „gerechten Krieges“ legten die Aussagen über den Dschihad fest, unter welchen Voraussetzungen Krieg begonnen werden konnte und welche Mittel im Krieg eingesetzt werden durften. Dabei war die Bandbreite der Meinungen fast 1400 Jahre lang vergleichsweise begrenzt. Orientiert am ritterlichen Kampf Mann gegen Mann war und blieb die islamische Ethik der Gewalt bis weit hinein ins 20. Jahrhundert auf faires Verhalten ausgerichtet. So war verboten, im Krieg absichtlich unbeteiligte Frauen und Kinder zu töten. Mehr noch: Schon früh setzte sich die Meinung durch, alle an konkreten Kriegshandlungen Unbeteiligten zu schonen. Das hieß generell, das Gebot der Verhältnismäßigkeit der Mittel anzuwenden (Sure 2, 190).6
Auch wenn sich daher in der islamischen Ethik der Gewalt über 1400 Jahre hinweg ein gewisser Anpassungszwang an die veränderten Mittel der Kriegführung nicht leugnen lässt, so ist doch festzuhalten, dass die wesentlichen Grundpositionen erhalten blieben. Bis in die achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts galt es für den -Dschihad, das Leben von Frauen, Kindern, Alten, Kranken, anderen Muslimen und am eigentlichen Konflikt Unbeteiligten zu schonen.
Die geradezu revolutionäre „Fortschreibung“ dieser tradierten Gewaltethik durch Theorie und Praxis des islamistischen Dschihad begann um das Jahr 1983, als vom Iran gesteuerte Selbstmordattentäter das Hauptquartier der amerikanischen Marines im Libanon in die Luft sprengten; 241 Soldaten fanden den Tod – und die USA zogen kurze Zeit später aus dem Libanon ab. In den Folgejahren wurde das Selbstmordattentat zur bevorzugten Form islamistischer Gewalt im Mittleren Osten. Selbstmord ist im Islam eindeutig verboten (Sure 4, 12). Doch den Islamisten gelang die Auflösung dieses Dilemmas auf verblüffend einfache Weise: Der Selbstmordattentäter wurde zum „Märtyrer“, der im Islam glorifiziert wird und dem nach seinem Tod das Paradies versprochen ist. Die Versuche besonnener islamischer Geistlicher, diese Umbenennung mit dem Hinweis zu verhindern, dass der Märtyrer nach traditionellem Verständnis einen im Glaubenskrieg für den Islam vom Feind getöteten Muslim bezeichnet, blieben ohne Wirkung. Die Befürworter der Märtyrertod-Operationen, so der islamistische Terminus technicus für den Selbstmordattentäter, setzten sich durch: Die im Rahmen einer solchen Märtyrertod-Operation erfolgte Selbsttötung, die ja nicht aus Lebensmüdigkeit resultiere, sei deshalb kein Selbstmord, sondern ganz im Gegenteil ein Akt der Gottesverehrung im Heiligen Krieg gegen die Ungläubigen.
Theorie und Praxis des Selbst--mordattentats vollzogen sich bis in die -zweite Hälfte der neunziger Jahre fast ausschließlich im Kontext des israelisch-arabischen Konflikts. Dabei brachen innerhalb weniger Jahre alle Barrieren der traditionellen islamischen Ethik der Gewalt. Israelische Frauen, da Soldatinnen bzw. Reservistinnen, durften ohne jegliche Einschränkung getötet werden. Allein durch ihren Lebenswandel – im Falle der Missachtung der islamischen Keuschheitsregeln – sowie ihrer öffentlich zur Schau gestellten Weiblichkeit seien israelische Frauen legitime Ziele. Auch israelische Bauern und alte Leute waren keine schutzwürdigen Zivilpersonen mehr, weil sie islamischen Boden besetzten. Kinder und am Konflikt unbeteiligte Zivilpersonen durften zwar nach wie vor nicht direkt angegriffen werden, ihr Tod war als „unerwünschter Nebeneffekt“ aber hinzunehmen.
Ähnlich verhielt es sich bei muslimischen Opfern von Selbstmordattentätern: Sie konnten akzeptiert werden, weil sie auf diese Weise ebenfalls, wenn auch unfreiwillig, zu Märtyrern wurden. Gegenüber dem Gebot, Kollateralschäden zu minimieren, richtete sich das Selbstmordattentat immer weniger gegen eine Zielperson, sondern suchte maximalen Schrecken durch die größtmögliche Anzahl unbeteiligter Opfer zu erreichen. Das allgemeine Gebot der Verhältnismäßigkeit der Mittel, das sich aus dem Koran direkt ergibt, war Schall und Rauch geworden. Die Umwertung der traditionellen islamischen Ethik der Gewalt war damit weitgehend vollzogen.7
Die letzten Reste traditioneller Restriktionen islamischen Kriegsrechts fielen in den Jahren nach 1998. Bis zu diesem Zeitpunkt verstand sich der islamistische Terror als Verteidiger gegen eine illegitime Besetzung seines Territoriums durch Israel und die USA. Zwar blieb dieser Bezug in der islamistischen Rhetorik bis in die Gegenwart erhalten; mehr und mehr mischten sich unter die gleichsam rituellen Äußerungen über den Opferstatus des Islams neue Töne über die Pflicht zur Weltrevolution. Mohammed Atta und seine Kampfgenossen fühlten sich eben auch – wie ein Bekennervideo zeigt – als Avantgarde in einem Heiligen Krieg gegen die Ungläubigen, der dereinst weltweit zum Sieg des Islams führen würde. Das Selbstmordattentat wurde so aus seinem regionalen mittelöstlichen Kontext herausgelöst und ist inzwischen längst in Europa angekommen. Joseph Croitoru hat hierzu auf ein weitgehend unbekanntes islamisches Pamphlet hingewiesen, das die neuen Feinde, die „Götzen“, explizit benennt: die Vereinten Nationen, die UN-Charta, den Internationalen Gerichtshof in Den Haag, das Internationale Rote Kreuz, die Islamische Weltkonferenz. Croitoru weiter: „Nimmt man die Kampfrhetorik der Al-Qaida unter die Lupe, offenbart sich deutlich, dass der Terroristenführer und seine Verbündeten darauf abzielen, eine islamische Weltrevolution anzuzetteln, mit der die alte Weltordnung samt ihrer internationalen Institutionen zerstört und an deren Stelle ein islamischer Kalifatstaat errichtet werden soll.“8 Damit rezipierte der islamistische Terror die politischen Ideen der ägyptischen Muslimbruderschaft, deren Gründer Hassan al-Banna schon in den vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts die universelle Herrschaft des Islams gefordert hatte. Al-Banna wörtlich: „Es liegt in der Natur des Islams, zu herrschen und nicht beherrscht zu werden, seine Gesetze allen Nationen aufzuzwingen und seine Macht über den gesamten Planeten auszuweiten.“9
orrespondierend zu dieser maßlosen Ausweitung des politischen Zielhorizonts vollzog sich in hemmungsloser Rhetorik die Beseitigung auch der kleinsten Reste traditioneller islamischer Ethik der Gewalt. In einer 1998 veröffentlichten Erklärung, für die sich Osama Bin Laden des ausdrücklichen Beistands mehrerer islamischer Würdenträger versichert hatte, heißt es: „Die Amerikaner und ihre Verbündeten zu töten, ob Zivilisten oder Soldaten, ist Pflicht für jeden Muslim, der es tun kann, in jedem Land, wo er sich befindet.“10 Bernard Lewis hat diese Fatwa eine „Lizenz zum Töten“ genannt.11 Am 11. September 2001 machten 19 Al-Qaida-Terroristen davon Gebrauch. Mit dem Massenmord an Unbeteiligten hat der islamistische Terror jedes Maß verloren.
Das Verhältnis von Islam und Massenvernichtungswaffen
An dieser Stelle stellt sich zwangsläufig die Frage, wie der islamistische Terrorismus mit Massenvernichtungswaffen umgehen würde. Dass dies längst keine nur theoretische Frage mehr ist, hat Bin Laden 1998 dokumentiert, als er es zur „religiösen Pflicht“ jedes Muslim erklärte, nukleare und chemische Waffen für die höheren Zwecke des Islams verfügbar zu machen.12 Und kurz nach den Terroranschlägen vom 11. September verhafteten pakistanische Behörden zwei Nuklearwissenschaftler, die ihre Auffassung, die pakistanischen Atomwaffen seien das Eigentum aller Muslime, mit Hilfe von Al-Qaida durchzusetzen versucht hatten.13
Die religiöse Rechtfertigung für den Einsatz einer solchen „islamischen Bombe“ lieferte 2003 ein radikaler saudischer Islamist. In einem umfangreichen Gutachten begründete er, dass die Muslime als Reaktion auf entsprechende amerikanische Vergehen befugt seien, zehn Millionen Amerikaner zu töten – auch durch den Einsatz von Massenvernichtungswaffen.14 Zwar ist die Zahl von zehn Millionen nicht im Detail begründet; es dürfte aber kaum zufällig die Größenordnung von New York sein – die Zitadelle der verhassten westlichen Zivi-lisation.
Vor diesem Hintergrund wäre es unverantwortlich, einen Einsatz von Massenvernichtungswaffen durch den islamistischen Terror auszuschließen. Dies umso weniger, als feststeht, dass Al-Qaida und andere islamistische Terrororganisationen sich seit 1990 vor allem in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion um nukleares Material bemüht haben. Die „Operation Sapphire“ der Clinton-Regierung illustriert dies. Danach war auch Al-Qaida 1993 in Kasachstan vor Ort, als die kasachische Regierung 600 Kilogramm „herrenloses“ hochangereichertes Uran zu entsorgen versuchte. Unter Anwendung sanften Druckes kauften die USA schließlich das Material – genug für 20 Atombomben der Hiroshima-Kategorie – für 25 Millionen Dollar und flogen es aus.15 Zwar hatte Al-Qaida in diesem Fall das Nachsehen, es ist aber eher unwahrscheinlich, dass alle anderen – teilweise dokumentierten – Versuche, sich Massenvernichtungswaffen beziehungsweise die entsprechenden Vorprodukte zu beschaffen, ebenfalls erfolglos geblieben sind.
Dabei muss man nicht sofort an den Einsatz einer Nuklearwaffe denken. Es gibt andere, weniger anspruchsvolle Möglichkeiten, die heute mit Sicherheit im Kompetenzspektrum der Al-Qaida liegen: der Einsatz chemischer Kampfstoffe, die Freisetzung nuklearer Strahlung durch Deponierung strahlender Materie in Ballungsräumen oder die Detonation einer „schmutzigen Bombe“, bei der radioaktives Material durch einen konventionellen Sprengsatz groß-flächig verstreut wird. Der Einsatz einer großkalibrigen Bombe dieser Art in Manhattan würde nach einer wissenschaftlichen Studie aus dem Jahr 2002 die Evakuierung der gesamten Halbinsel zur Folge haben und ein Gebiet von mehreren hundert Quadratkilometern auf lange Zeit unbewohnbar machen.16
Warum ist bis heute nichts passiert?
Wenn aber, was wahrscheinlich ist, Al-Qaida das Wissen und die Materialien zur Verfügung hat, um zumindest einen vergleichsweise einfachen Sprengkörper wie eine „schmutzige Bombe“ zu bauen, warum ist dann bis heute nichts passiert?
Vier Antworten bieten sich an:
- Al-Qaida versucht sich an einer technisch anspruchsvollen Waffe, deren Bau und Einsatz technische und logistische Anforderungen stellen, die Al-Qaida derzeit überfordern beziehungsweise sehr zeitaufwendig sind.
- Die bisherigen Antiterrormaßnahmen der USA und ihrer Verbündeten haben Al-Qaida so massiv getroffen, dass anspruchsvolle Großvorhaben wie der Einsatz von Massenvernichtungswaffen gegenwärtig unmöglich sind.
- Al-Qaida fürchtet, durch den Einsatz von Massenvernichtungswaffen die generelle Akzeptanz in der arabischen Welt zu verlieren, was auch einen möglichen Verlust ihrer finanziellen, materiellen und personellen Ressourcen zur Folge haben könnte.
- Die Abschreckung funktioniert, auch wenn bisher immer behauptet wird, gegen islamistische Aktivisten, die den Tod mehr lieben als das Leben, könne es per definitionem keine Abschreckung geben. Das mag zwar für den einzelnen Selbstmordattentäter zutreffen, für eine Organisation, die, wie Al-Qaida, Welteroberungspläne hat, ist das Überleben der führenden Personen und großer Teile der Infrastruktur unabdingbar. Eine solche Organisation braucht zwar kein „Staatsgebiet“, kein eigenes Territorium, sie ist aber auf wenigstens ein „Gastland“, einen „sicheren Hafen“ für die Ausbildung ihrer Kader und als Ruheraum angewiesen. Vielleicht glaubt Osama Bin Laden, es sich gegenwärtig nicht leisten zu können, durch einen Einsatz von Massenvernichtungswaffen amerikanische Vergeltungsschläge – möglicherweise ebenfalls unter Einsatz von Massenvernichtungswaffen – gegen Pakistan auszulösen.
Fazit
Durch die Globalisierung des Selbstmordattentats und seiner religiösen Rechtfertigung durch radikale muslimische Kleriker hat der Islamismus alle traditionellen Begrenzungen der Gewaltanwendung niedergerissen. Welche Folgen diese kompromisslose Einstellung zur Gewalt – bis hin zum Einsatz von Massenvernichtungswaffen gegen Unschuldige – für die Stabilität der multinuklearen Welt des 21. Jahrhunderts haben wird, lässt sich gegenwärtig nur erahnen.
Drei Folgerungen lassen sich jedoch bereits heute ableiten:
- Eine seriöse Diskussion über den Nuklearterrorismus ist heute unausweichlich geworden – und sollte geführt werden können, ohne sofort dem Generalverdacht ausgesetzt zu sein, sie sei lediglich Vorwand für neue staatliche Überwachungsmaßnahmen.
- Das komplizierte Verhältnis von Islam und Massenvernichtungswaffen – und nicht zuletzt die Dauerkrise in Pakistan – zeigt, dass sich eine Debatte über den Nuklearterrorismus nicht allein auf nichtstaatliche Akteure beschränken darf. Auch in den zwischenstaatlichen Beziehungen kann die nukleare Problematik künftig nicht mehr allein in den klassischen Kategorien des regionalen Gleichgewichts und der gegenseitigen nuklearen Abschreckung diskutiert werden.
- Es bedarf einer umfassenden Thematisierung der islamischen Ethik der Gewalt durch die Islamwissenschaft. Ihre Sprachlosigkeit wirkt angesichts der gegenwärtigen Umwälzungen in der islamischen Welt in hohem Maße befremdlich.
Dr. HANS RÜHLE, geb. 1937, Ministerialdirektor a.D. Von 1982 bis 1988 war er Leiter des Planungsstabs im Bundesverteidigungsministerium.
MICHAEL RÜHLE, geb. 1959, ist Leiter des Redenschreiber-Referats in der Politischen Planungseinheit der NATO. Die Verfasser geben ihre persönliche Meinung wieder.
- 1„Wir sind und bleiben bedroht“, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 16.9.2007
- 2Vgl. Olivier Roy: Der islamische Weg nach Westen, München 2006, S. 7.
- 3Bernard Lewis: Die Wut der arabischen Welt, Frankfurt a. M. 2003, S. 62
- 4Ebd. S. 65
- 5Roy (Anm. 2), S. 26
- 6Eine detaillierte Darstellung des islamischen Kriegsrechts findet sich bei Lewis (Anm. 3), S. 51 ff
- 7Vgl. Noah Feldman: Islam, Terror and the Second Nuclear Age, New York Times Magazine, 29.10.2006.
- 8Joseph Croitoru: Der Märtyrer als Waffe, München 2006, S. 223 f.
- 9Zitiert nach Lawrence Wright: Der Tod wird Euch finden, München 2007, S. 34.
- 10Erklärung der Internationalen Islamischen Front für den Heiligen Krieg gegen die Juden und Kreuzfahrer, zitiert nach Gilles Kepel und Jean-Pierre Milelli (Hrsg.): Al Qaida. Texte des Terrors, München 2006, S. 85 ff:
- 11Bernard Lewis: License to Kill: Usama bin Ladin’s Declaration of Jihad, Foreign Affairs, November/Dezember 1998. S. 14–19.
- 12Zitiert nach Ben Venzke und Aimee Ibrahim: The al-Qaeda Threat, Alexandria 2003, S. 52 f.
- 13 Vgl. David Albright und Holly Higgins: A Bomb for the Ummah, Bulletin of the Atomic Scientists, März/April 2003, S. 49–55; Egmont Koch: Atomwaffen für Al Qaida, Berlin 2005, S. 26 ff
- 14Sheikh Nasir bin Hamid al-Fahd: A Treatise on the Legal Status of Using Weapons of Mass Destruction Against Infidels, Mai 2003, http://marisaurgo.com/MSJ/Scholarship_files/Treatise.pdf.
- 15Vgl. Kenneth R. Timmerman: Countdown to Crisis, New York 2005, S. 132 ff.
- 16Michael A. Levi und Henry C. Kelly: Weapons of Mass Disruption, Scientific American,November 2002, S. 77 ff.
Internationale Politik 2, Februar 2008, S. 102 - 110