IP

01. Mai 2009

„Jetzt werden wir ein normaler Staat“

Egon Bahr über die Vereinigung und das Ende der Scheckbuchdiplomatie

Zum Tode von Egon Bahr: Anlässlich des 60. Geburtstags der Bundesrepublik Deutschland sprach die IP 2009 mit dem Architekten der "neuen Ostpolitik" und des Konzepts "Wandel durch Annäherung" über die neunziger Jahre. Im Jahrzehnt nach der Wiedervereinigung wurde Deutschland wieder Mittelmacht – aber eine, die im Westlichen Bündnis verankert bleibt.

Ich muss mit einem Bekenntnis beginnen: Ich habe keinen einzigen Tag nach dem Ende des Krieges daran gezweifelt, dass Deutschland eines Tages seine Einheit gewinnen wird. Aber Mitte der achtziger Jahre war ich ganz sicher, ich würde das nicht mehr erleben. Der 9. November kam für mich genauso überraschend wie für jeden anderen – es war ein unwahrscheinliches Glücksgefühl!

Das Jahr 1990 hingegen betrachte ich rückblickend mit gemischten Gefühlen. Irgendwann im Februar besuchte ich Hans-Dietrich Genscher, um ihn zu fragen, wie es denn mit den Zwei-Plus-Vier-Verhandlungen vorangehe. Der Außenminister äußerte seine Sorge, ob alles rechtzeitig unter Dach und Fach kommen würde, denn man sei unter Zeitdruck: Der Kollege Lambsdorff habe einige Tage zuvor den Bundeskanzler über die katastrophalen Folgen der geplanten Einführung der D-Mark in der DDR unterrichtet, die dazu führen würden, dass die Koalition aus CDU/CSU und FDP die für das Frühjahr 1991 vorgesehenen Wahlen nicht mehr gewinnen könne. Daraufhin entschied der Kanzler, den Wahltermin so weit vorzulegen, wie es die Verfassung erlaubt, und das ergab den 3. Oktober.

So ist ein rein administratives Nützlichkeitsdatum der Tag der deutschen Einheit geworden, ohne jeden historischen Bezug. Das eigentliche Datum der international gültigen Souveränität unserer Bundesrepublik wurde der 15. März 1991 – ein Datum, das kaum einer unserer Mitbürger kennt. An diesem Tag hinterlegte die Sowjetunion die Ratifizierungsurkunde des Zwei-Plus-Vier-Vertrags.

Die deutsche Einheit ist im Endeffekt von George Bush und Michail Gorbatschow vollbracht worden, sie allein hatten die Macht dazu. Sie haben mit ihren Außenministern, ohne Thatcher, Kohl, Mitterrand, Honecker oder Krenz zu fragen, über die Sicherheitsfragen entschieden, die Kernfragen waren und sind. Bush sen., dessen Klugheit und Weitsicht ich nach wie vor uneingeschränkt bewundere, sagte: Wenn die Sowjetunion ihre Truppen aus der DDR abzieht, sei sie zu schwach, um Deutschland zu kontrollieren. Dies könnten nur die USA mit dem Instrument der NATO. Und die Antwort von Gorbatschow war: Aber ihr dürft uns nicht auf den Pelz rücken. Die Replik von Bush: Ich sage Ihnen zu, keine fremden Truppen auf dem Gebiet der DDR und keine Atomwaffen. Das gilt bis heute: Wir haben eine gespaltete Sicherheitslage im vereinten Deutschland, aber es tut nicht weh. Bei der Betrachtung der Entwicklung seither muss man sich vor Augen führen, dass weder Bush noch Gorbatschow im Jahr 1990 gewusst haben, dass es ein Jahr später die Sowjetunion nicht mehr geben würde. Und bei uns hat das auch niemand gewusst.

In der Rückschau muss ich feststellen: Nachdem die Einheit außenpolitisch hervorragend gelungen ist, wurde das oberste innenpolitische Ziel, nämlich die innere Einheit, nicht erreicht. Auch 20 Jahre später haben wir noch keine volle Rechtseinheit oder sich selbsttragende Wirtschaft im Osten, wir müssen zugeben, und das sage ich mit wirklichem Entsetzen, dass die „Abstimmung mit den Füßen“, also die Abwanderung, nach wie vor weitergeht. Das ist nicht mehr Honecker anzulasten. Die Tatsache, dass wir immer noch von Ossis und Wessis sprechen – und diese Unterschiede mental fast noch stärker geworden sind –, spricht dafür ebenso wie etwa der Skandal, dass es zehn Jahre gedauert hat, bevor die Soldaten aus den Ostländern die gleiche Löhnung bekommen wie ihre Kameraden aus den westlichen Ländern.

Eine Schande war es auch, dass der Hauptstadtbeschluss so spät kam. Alle meine ausländischen Freunde haben den Kopf geschüttelt und waren verwundert, wie wir nur so lange darüber nachdenken konnten. Das war doch eine Selbstverständlichkeit! Was hatte Berlin denn verbrochen, dass man die mehrfachen Beschlüsse, es zur Hauptstadt zu machen, nicht hält? Das hat Berlin und dem ganzen Land geschadet, und wir haben mindestens zwei Jahre verloren. An dieser Frage sind Freundschaften kaputt gegangen.

Bei den Problemen der Wirtschaft hatte ich gehofft, dass die wachsende Arbeitslosigkeit als das erste wirklich gesamtdeutsche Thema helfen würde. Sie traf den Osten zwar stärker als den Westen, aber sie traf eben beide. Rückgabe vor Entschädigung war ein fundamentaler Geburtsfehler, unter dem wir noch immer leiden.

Ein wesentlicher Grund für die Fehler des Einigungsprozesses lag in der unterschiedlichen Mentalität. Den haben wir unterschätzt oder missachtet. Da muss ich mich mit einbeziehen, ich habe das auch nicht gesehen. Ich dachte, wir hatten millionenfache Besuche, in beiden Richtungen, von Ost nach West mehr als umgekehrt, die Menschen haben Radio gehört und ferngesehen. Sie mussten wissen, in welche Gesellschaft sie wollten und kamen. Trotzdem gab es die bis jetzt wirkenden Unterschiede zwischen einer auf individuelle Leistung eingestellten Gesellschaft und einer Gesellschaft, die kollektiv sozialisiert war. Daraus entstand ein Mangel an Achtung der Lebensleistung der Menschen im Osten.

Der zweite Punkt, der mich immer gestört hat, war, dass der Eindruck entstand, als sei die DDR nicht nur auf die SED, sondern sogar auf die Stasi zu reduzieren – aber DDR war mehr als Stasi! Laut der Berechnungen, die ich kenne, hat die Stasi mit all ihren Informellen Mitarbeitern (IM) und den offiziellen Mitarbeitern etwa 0,5 Prozent der Bevölkerung umfasst. Die Mehrheit der Menschen hatte mehr als ihre Nischen, zum Leben, Lieben, Heiraten, Karriere machen und auch zum Sterben, denn niemand – weder Kiesinger, Brandt noch Kohl – konnte vorhersagen, wann die Einheit kommen würde. Und insgesamt, sage ich, haben sie sich als anständige und leistungsbewusste Menschen verhalten.

Ich hatte immer ein Gefühl für die Menschen im Osten, wenn ich durch die DDR nach Berlin fuhr. Ich empfand, was sie denken, fühlen, wünschen, fürchten. Einer meiner wichtigsten Gesprächspartner war das Mitglied des Politbüros Hermann Axen. Den habe ich zunächst für einen harten, trockenen, verknöcherten SED-Funktionär gehalten, um dann aber festzustellen, dass er ein Seelchen war – und zwar ein gebildetes Seelchen. Er unterhielt sich bei einem Besuch in Husum mit dem Direktor des Theodor-Storm-Museums so kenntnisreich über den Dichter, dass ich mich schämen musste: Er kannte die Titel von Novellen, von denen ich nie gehört hatte. Von einer wollte er wissen, ob es geschichtlich oder poetisch sei, dass in der Rahmenhandlung von einem Bürgermeister Axen die Rede ist. Das sei historisch, lautete die Antwort – und einer seiner Mitarbeiter sagte, kaum vernehmbar, der Hermann erkundigt sich nach seiner Westverwandtschaft.

Später sagte ich Axen, ich würde gern Treffurt, meine Geburtstadt in Thüringen, besuchen, wohl wissend, dass sie in der Sperrzone nur 500 Meter östlich der Grenze lag. Er war einverstanden. So fuhr ich zum Grenzübergang in der Nähe von Eisenach. Da warteten zwei Begleitwagen für die Fahrt an der Grenze entlang auf Schleichwegen. Dort durften ja noch nicht einmal unkontrolliert die hin, die dort wohnten. Als ich in Treffurt ankam, stimmte auch nach 55 Jahren die Erinnerung. Es begann mit dem Kopfsteinpflaster. Ich wusste sofort, wo ich war und hielt vor meinem Geburtshaus.

Als die Grenze fiel, bin ich natürlich hingeflogen, mit dem Hubschrauber, und in die Stadt gelaufen. Da kam eine Frau auf mich zu und umarmte mich. Sie sagte, sie freue sich, mich wiederzusehen, denn sie hätte mich, als ich geboren war, schon als Amme umarmt. Ich hatte das Gefühl, als umarme ich mit dieser Frau die ganze DDR. Viel später hatte Treffurt, Gott sei Dank überparteilich, die Idee, eine Straße nach mir zu benennen. Normalerweise wird so etwas nach dem Tode gemacht, doch man meinte, es würde mir doch auch lebend gewiss Freude bereiten.

Was seit der Wende alles erreicht wurde, ist großartig. Ich bewundere die Modernisierung, die zivilisatorische Gleichstellung, die auf manchen Gebieten natürlich neuer ist als in westdeutschen Ländern. Ich habe volles Verständnis, wenn Menschen im Westen sagen, wir sind jetzt auch mal dran, wir haben jetzt zum Teil ältere Installationen als „die da drüben“.

Eine Kleinigkeit, die mich immer gestört hat, ist das Wort „Wiedervereinigung“. Die NVA und die Bundeswehr sind nicht wiedervereinigt worden, sie waren niemals eine Armee. Es handelt sich um das große Glück der Vereinigung zweier Staaten, die in dieser Form nie zusammen existierten. Es gibt einen einzigen Ort, in dem das Wort Wiedervereinigung zutreffend ist – und das ist Groß-Berlin. Die Berliner sind wirklich wiedervereinigt worden. Die falsche Benutzung der Vokabel Wiedervereinigung kann zumindest erklären, dass viele Westdeutsche sagen: Die haben sie doch nun. Was denn noch? Oder wann wird der Soli abgeschafft? Die Sprache ist hier nicht exakt; aber das Wort Wiedervereinigung ist wohl aus den Köpfen nicht mehr herauszubekommen.

Wiedererlangte Souveränität

Immer noch fällt es uns schwer, ein Bewusstsein für die wiedererlangte Souveränität zu schaffen. Wir hatten uns so daran gewöhnt, dass die großen Fragen im Wesentlichen von den Großen entschieden wurden, dass, als Bundeskanzler Gerhard Schröder sagte, wir sollen ein „normaler“ Staat werden, mehr Zweifel als Zustimmung durchs Land ging: „Normal“, wo kommen wir denn da hin? Was müssen unsere Nachbarn fürchten, wenn Deutschland wieder ein normaler Staat wird? Ich habe es für richtig, sogar für notwendig gehalten. Wann, wenn nicht nach Erlangung der Souveränität, sollten wir normal werden? Normal heißt, dass dieses Deutschland sich so verhalten soll und kann wie jeder andere Staat in Europa, d.h. seinen Interessen folgen, und zwar in dem Maße, in dem seine Kräfte es zulassen. Wenn wir uns überheben, machen wir uns lächerlich, wenn wir uns drücken – Stichwort Scheckbuchdiplomatie – dann sind wir auch kein normaler Staat, sondern müssen uns eigentlich schämen. Normalität bedeutet dann aber auch, dass wir letztverantwortlich sind für das, was wir tun oder unterlassen. In beiden Fällen kann man schuldig werden.

Deutschland hat in Jugoslawien zum ersten Mal seit Kriegsende wieder an einem Auslandseinsatz mit eigenen Truppen teilgenommen – und das dazu noch in einem Krieg, der völkerrechtswidrig war, weil er ohne UN-Mandat geführt wurde. Wie das zustande kam, ist hier nicht zu erläutern – jedenfalls flog Schröder nach den Wahlen 1998 als erstes in die USA, um Präsident Clinton zu sagen: Wenn wir euch mit Truppen unterstützen sollen, kommt meine rot-grüne Regierung erst gar nicht zustande. Das verstand Clinton. Doch nach der Rückkehr aus Washington wurde Schröder von Clinton per Telefon darüber informiert, dass, wenn die Deutschen sich nicht beteiligten, die Drohung der NATO in Belgrad nicht ernst genommen würde. Wir waren nun also in dieser schrecklichen Zwickmühle und haben uns – weil wir nicht dazu beitragen wollten, dass die NATO beweisen muss, kein Papiertiger zu sein – dazu entschlossen, Ja zu sagen zur deutschen Beteiligung.

In einer Sondersitzung des Deutschen Bundestags kurz darauf erklärte der noch immer amtierende Außenminister Klaus Kinkel, die Strategie habe funktioniert. Miloševic war bereit, alles, auch die Milizen, aus dem Kosovo zurückzuziehen und Beobachter zuzulassen. Alle waren natürlich erleichtert, aber leider war das nicht das Ende. Monate später, im Februar, kam die nächste Runde. Nachdem die UCK aktiv wurde, beschloss Miloševic die Wiederbesetzung des Kosovo.

US-Außenministerin Madeleine Albright meinte, wir werden nochmals drohen, diesmal mit Luftschlägen, und die Serben werden wieder in die Knie gehen. Unsere Zusage stand gar nicht mehr in Frage. So sind wir in diesen Krieg hineingeschlittert in einer Art, wie ich mir das nicht mehr vorstellen konnte, seit ich gelesen hatte, wie man in den Ersten Weltkrieg hineingeschlittert war.

Die „Normalisierung“ hatte ihren Preis. In der Rückschau war das Ende der Scheckbuchdiplomatie jedenfalls unumgänglich geworden. Ohne die Grünen und ihren Außenminister Joschka Fischer hätte dieser Schritt zu schweren innenpolitischen Belastungen geführt. Seither bestimmt die Bundesrepublik wie jeder andere Staat die Bedingungen, unter denen sie sich an internationalen Aktionen beteiligt.

Nachdem Schröder klargestellt hatte, dass Deutschland definitiv keine Bodentruppen gegen Belgrad einsetzen würde, gelang der rot-grünen Regierung ein Meisterstück. Sie entwickelte einen Fünf-Punkte-Plan, der den Krieg gegen Jugoslawien beendete; ein Friedensvertrag fehlt bis heute. Er fand die Zustimmung von Russen, Chinesen, sogar der Amerikaner und der UN, mit Miloševic zu verhandeln. Diese Erfahrung erlaubte, den Rahmen für deutsche Außen- und Sicherheitspolitik zu definieren, der auch in den kommenden Jahrzehnten gelten wird: Wenn die Deutschen gebraucht werden, in einer für uns lebenswichtigen Frage, können wir das vetoähnlich verhindern, exemplifiziert an der Ablehnung von Bodentruppen gegen Belgrad. Wenn wir etwas Positives erreichen wollen, geht das nur, falls wir ausreichende Unterstützung von Partnern erhalten. Deutschland kann niemanden bedrohen und eine positive Idee durchsetzen, wenn unsere Partner überzeugt werden. Einfluss und Gewicht Deutschlands ruhen auf dem Prinzip der Zusammenarbeit, vornehmlich im europäischen Rahmen.

Die Logik gestattete ein souveränes „Nein“ zur Beteiligung am Irak-Krieg, zumal unsere Verfassung Beteiligung und Vorbereitung an einem Angriffskrieg verbietet, während die Beteiligung am Krieg in Afghanistan mit dem Mandat der Vereinten Nationen möglich wurde.

Abrüstung und Sicherheit

Das prägendste und wichtigste außenpolitische Ereignis der neunziger Jahre wurde, dass Bush und Gorbatschow sich nach dem Abzug der atomaren taktischen und Mittelstreckenraketen auf das verständigen konnten, was man heute KSE nennt: den Vertrag mit der bedeutendsten konventionellen Abrüstung in der Menschheitsgeschichte. Er galt für Tausende von schweren Waffen, enthielt ein Kontrollsystem und entsprach den Interessen aller Beteiligten. Er hat die deutsche Einheit überstanden, das Ende der Sowjetunion, das Ende des Warschauer Paktes, die Bildung der baltischen Staaten und die Ausweitung von EU und NATO bis zum heutigen Stande. Er hat Europa 19 Jahre Stabilität beschert. Dies wird zum ersten Mal in Frage gestellt durch den amerikanischen Plan zur Raketenabwehr am Ostrand der NATO und in Tschechien, aber ich bin sehr optimistisch, dass Obama und Medwedew dieses Problem gemeinsam lösen werden.

Nachdem Amerika seine Außen- und Sicherheitspolitik von der Konfrontation, die prägend für die neunziger Jahre gewesen ist, auf Kooperation umgestellt hat, könnte es sein, dass die Ideen einer europäischen Sicherheitsstruktur wieder aufleben. Zusammenarbeit ist nicht nur die europäische Grundidee, die Gorbatschow vom Ziel eines Europäischen Hauses sprechen ließ. Gemeinsame Sicherheit von Lissabon bis Wladiwostok war das Angebot des Bündnisses, das der Planungsstab des Auswärtigen Amtes Ende der sechziger Jahre als notwendige Fortsetzung der Ost- und Entspannungspolitik sah. Heute sprechen Obama wie Medwedew von einer europäischen Sicherheitsstruktur. Das bleibt noch zu tun. Das Ziel scheint mir nun erreichbar.

Der Rückblick zeigt, welch vielfaches Glück unser Volk gehabt hat. Mehrfach bestand die Gefahr eines Krieges und damit die Gefahr, unser Land könne atomarer Exerzierplatz werden. Die erste erfolgreiche und friedliche Revolution unserer Geschichte hat schließlich die Einheit gebracht, ohne Blutvergießen und mit Zustimmung aller Nachbarn. Grund genug, dafür auch ein sichtbares Denkmal zu errichten.

Aufgezeichnet von Uta Kuhlmann-Awad und Luisa Seeling

EGON BAHR, Professor, Minister a.D., mit Willy Brandt Architekt der Entspannungspolitik unter dem Motto „Wandel durch Annäherung“.