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01. Okt. 2006

Der Anti-Europäer

Die Europa-Politik des britischen Premiers torpediert die Handlungsfähigkeit der EU

Seit mehr als einem halben Jahrhundert hat Großbritannien in der europäischen Bewegung die Rolle des Bremsers gespielt – oft sehr geschickt kaschiert, aber immer effizient. Wenn die Europäische Union jemals zum globalen Akteur werden will, muss sie London vor die Wahl stellen: entweder konstruktiv mitzuarbeiten – oder zurückzubleiben.

„Das hätte man früher lesen können“ , reagierte Willy Brandt, als ich ihn Anfang der achtziger Jahre auf die Erinnerungen von George Kennan aufmerksam machte. Der Diplomat berichtet darin, dass er 1949 als Planungschef im State Department Europa besucht hat, um zu sondieren, ob eine europäische Einigung mit dem Blick auf Gesamteuropa möglich wäre, ohne in den Vorrang militärischen Denkens abzugleiten. Er kehrte enttäuscht nach Washington zurück. Seine Feststellung: „Die Abneigung der Briten gegen einen Beitritt zu einer kontinentalen Union schien mir so zwingend zu sein, dass eine europäische Bewegung, an der sie sich beteiligen, es nie sehr weit bringen würde. Sie würden den organisatorischen Zusammenschluss nie in das Stadium eines wirklich souveränen Verzichts gelangen lassen.“ Kennan hatte Recht, noch bevor vom Zusammenschluss von Kohle und Stahl oder gar von einem deutschen Verteidigungsbeitrag die Rede war. Er hat bis heute Recht behalten. Wahrscheinlich kannte er den Zeitungsartikel nicht, den Winston Churchill 1930 geschrieben hatte, also noch drei Jahre vor der Kanzlerschaft Hitlers, mit der Warnung, das Vereinigte Königreich dürfe sich niemals unwiderruflich an den Kontinent binden.

In der mehr als 50-jährigen wechselvollen Geschichte der europäischen Bewegung haben sich alle britischen Regierungen genauso verhalten. Teilnehmen ja, aber nein zu einer vollen, kaum revidierbaren Integration. Wer immer in Downing Street saß, von der konservativen oder der Labour-Party gestellt, hat den Vorzug traditioneller Sonderbeziehungen zwischen London und Washington gewahrt.

Diese Politik gegenüber Europa wurde zielgerichtet, konsequent und flexibel verfolgt: beeinflussen, bremsen, falls erforderlich auf den fahrenden Zug springen, um als Teilnehmer besser bremsen und kontrollieren zu können, mal elegant, notfalls brutal für Sonderkonditionen, jedenfalls konsequent in der Ablehnung einer politischen Union, also folgerichtig für die Erweiterung der Gemeinsamkeit, eine riesige Erweiterung ohne Grenzen fördernd, die eine politische Einheit mit jedem neuen Teilnehmer erschweren würde und die das mit Washington abgestimmte Gewicht Londons erhalten würde.

Das Land kann stolz sein auf eine seit mehr als einem halben Jahrhundert bewiesene ungebrochene Geschlossenheit seiner Politik, mit der es seine Interessen gewahrt hat, trotz aller weltgeschichtlichen Umbrüche. Es mindert seinen Erfolg nicht, dass es Gelegenheiten, die andere Staaten oder Umstände boten, genutzt hat.

Nachdem vor 50 Jahren die französische Idee einer europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) an der französischen Kammer gescheitert war, blieb ihm die Definition seines Verhältnisses zu Kontinentaleuropa erspart. Vielleicht noch mehr: Der qualitative Sprung zu einer Europäischen Armee unter französischer Führung hätte der politischen Entwicklung eben auch qualitativ eine neue Entwicklung und Geschwindigkeit gegeben. Sich davon auszuschließen hätte London sehr genau überlegen müssen. Von der Vollintegration der Verteidigung träumt die EU noch heute. So aber übernahm damals das Bündnis der souveränen NATO-Staaten den Rahmen mit der führenden Rolle der Vereinigten Staaten, und für die faktisch minderberechtigte Bundesrepublik wurde die WEU geschaffen, mit einer Beteiligung Englands, die ihre Bedeutung verlor, während die Sonderbestimmungen für Deutschland entfielen.

Dann kam Charles de Gaulle, der Großbritannien die Tür zum Kontinent versperrte und folgerichtig – entsprechend seiner Vorstellung von der Selbstbestimmung Europas – nicht das Bündnis, wohl aber seine Organisation verließ.

Noch bevor Brandt seine Ostpolitik einleitete, gab er am 1. Dezember 1969 mit Präsident Pompidou grünes Licht für die Erweiterung der europäischen Gemeinschaft durch England. Für ihn gehörte das Mutterland der Demokratie zu Europa. Er versprach sich eine Bereicherung, auch durch die wohlfahrtsstaatlichen Elemente, und eine Stärkung der Stellung Europas in der Welt durch die Erweiterung vielleicht auch skandinavischer Staaten. Pompidou mag sich angenehmer gefühlt haben mit dem britischen Mitglied in der Gemeinschaft, während Deutschland seine Beweglichkeit nach Osten erprobte. Dagegen hatte Brandt gar nichts, weil ein gewisses Misstrauen, nicht nur in Paris, ohnehin erst durch den Beweis, dass Bonn Vertrauen verdiente, zu beseitigen sein würde. Mehr als zehn Jahre später hatte Brandt mehr als gelinde Zweifel bekommen: Der General könnte wohl Recht gehabt haben, dass England mit seinem vitalen Interesse an Sonderbeziehungen zu Amerika nicht reif für Europa wäre.

Wie viele Beschlüsse zur Vertiefung dessen, was sich inzwischen EU nannte, an England gescheitert sind oder verwässert wurden, können auch Experten kaum noch aufzählen. An der einzigen Vollintegration, auf dem Gebiet der Währung, hat sich England nicht beteiligt. Es schloss sich – logisch und seiner Grundlinie treu –dem Euro nicht an. Als der Warschauer Pakt zusammenbrach, die Länder Osteuropas in die EU drängten und die Gemeinschaft, ihrem Wort entsprechend und historisch richtig, zehn neue Mitglieder aufnahm, stellte das einen Triumph der englischen Politik dar, die immer auf Erweiterung gedrängt hatte. Die gleichzeitige Vertiefung kam nicht. Frankreich und die Niederlande ersparten dem britischen Premier mit ihren Nein, die so genannte EU-Verfassung in England zur Volksabstimmung stellen und das erwartete britische Nein erklären zu müssen.

Als ob nichts Besonderes geschehen sei, hatte Tony Blair, milde gesagt, keine Skrupel, während seiner Ratspräsidentschaft vor dem Europäischen Parlament eine hinreißende und skandalöse Rede zu halten. Mit der ihm eigenen Beredsamkeit für die wundervollen Perspektiven des Wohlstands in einem größeren gemeinsamen Markt hat er da geworben, ohne auch nur zu begründen, warum er das politische Ziel Europas ablehnt. Er nennt einfach Europäische Union, was in Wirklichkeit nur die Hälfte dessen ist, was die Europäische Union beschlossen hat. Die andere Hälfte, die internationale Handlungsfähigkeit, fehlt. Was vielfach vereinbart und bekräftigt wurde, wurde mit keinem Wort erwähnt. Keine Empörung, keine Nachfrage folgte. Vielleicht hatte Blair seine kontinentalen Pappenheimer gar nicht falsch eingeschätzt.

Inzwischen ist er schon weiter. Seine Vorstellung über die künftigen globalen Aufgaben hat er jüngst in einem großen Artikel unter der Überschrift „Idealismus wird zur Realpolitik“ entwickelt.1 Er bezieht sich auf seine kurz zuvor bei den Vereinten Nationen vertretenen Vorschläge, wie den globalen Herausforderungen zu begegnen sei. Das ist durchweg interessant, nachdenkenswert, sogar überzeugend, wenn er da zum Beispiel sagt: „Mit der Schaffung effektiverer multilateraler Institutionen müssen einzelne Nationen etwas von ihrer eigenen Unabhängigkeit aufgeben … Ihr nationales Eigeninteresse wird durch effektives Handeln einer Gemeinschaft verwirklicht … Wechselseitige Abhängigkeit erzeugt die Notwendigkeit eines Systems der gemeinsamen Werte, damit sie funktionieren kann. Mit anderen Worten – Idealismus wird zur Realpolitik.“

Dem kann man schon deshalb nicht widersprechen, weil es die Aufgaben für die Europäische Union vorzüglich formuliert. Leider ist es nicht für die EU gesagt. Europa kommt in dem ganzen Artikel gar nicht vor. Ein einziges Mal findet sich das Wort, wo das „dringlichste innenpolitische Problem in vielen Ländern Europas und in den Vereinigten Staaten“ berührt wird, nämlich die Einwanderung. Blair deklassiert die EU durch Nichterwähnung bei der Erörterung globaler Probleme. In seinem Denken spielt die EU in dieser Dimension keine Rolle. Sie ist bei ihm für die großen Herausforderungen nicht vorgesehen.

Könnte seine Sicht sogar realistisch sein? Könnte es sein, dass die EU gar kein Global Player mehr werden kann, weil ihre 25 oder 30 Mitglieder zu dem erforderlichen Kraftakt unwillig oder unfähig sind? Ist die Entwicklung Blairs der Ausdruck seiner Überzeugung, dass es sich nicht mehr lohnt, politische Energie auf ein Europa zu verschwenden, dessen Ziel, außenpolitisch  handlungsfähig zu werden, ohnehin hoffnungslos geworden ist? Lasst den Europäern ihre Träume; die Welt geht in eine andere Richtung, die zudem den Interessen Englands entspricht.

Über das Selbstverständnis seines Landes hat der britische Historiker Timothy Garton Ash, exzellenter Kenner Europas, in seinem Buch „Freie Welt – Europa, Amerika und die Chance der Krise“ (2004) interessante Dinge geschrieben. Er bezeichnet Großbritannien als janusköpfig: Insel und Welt, Europa und Amerika, historisch ein Kind Europas und Mutterland Amerikas, unlösbar kulturell, militärisch, wirtschaftlich, intellektuell und sozial sowohl mit Europa als auch mit Amerika verquickt. „Sich für diese oder jene Seite zu entscheiden, käme einer regelrechten Amputation gleich.“ Die logische Folgerung für die Rolle Englands: „einen möglichst großen Teil der Europäer in ein gemeinsames Lager als verlässlicher europäischer Partner der Vereinigten Staaten einzubeziehen“.

Das ist leichter geschrieben als getan. Die Rivalität zwischen England und Frankreich – mindestens seit dem 100-jährigen Krieg – hat sich bis in die Neuzeit als Konflikt zwischen de Gaulle und Churchill fortgepflanzt: Der eine wollte eine gemeinsame europäische Grundlage, der andere eine transatlantische Partnerschaft schaffen, und Deutschland hatte keinen Bismarck für die Rolle eines „ehrlichen Maklers“. Blair hat die strategische Ausrichtung seines Landes in das Bild der Brücke gefasst. Bei uns ist kaum bewusst geworden, dass England damit definiert, dass es insoweit eben nicht zu Amerika, aber eben auch nicht zu Europa gehört. Inzwischen wird das Bild der Brücke kaum noch benutzt, wohl auch nicht mehr gebraucht. Bei der ersten Belastung durch den Irak-Krieg fiel sie jedenfalls ins Wasser.

Die Gretchenfrage des Euro entschied London kühl in der Abwägung wirtschaftlicher Interessen. Die Argumente für oder gegen eine Beteiligung halten sich noch immer die Waage. Zu einer politischen Entscheidung schreibt Ash: „Im Rahmen einer bewussten langfristigen nationalen Interessenabwägung sollte ein Beitritt strategisch geboten sein, denn je stärker wir uns in den Gremien der Union engagieren, desto größer die Chance, ihnen den gewünschten Impuls zu geben. Ohne diese langfristige Perspektive dürfte auch eine Beteiligung am Euro kaum sinnvoll sein.“

Im Ergebnis dieser britischen Überlegungen wird man wohl zugeben müssen: 1. Die Politik in London ist in den letzten 50 Jahren den englischen Interessen gefolgt, und zwar meisterhaft erfolgreich. 2. Bei dem Versuch einer Abschätzung ist auch für die nächsten 20 Jahre kein Element zu erkennen, das England zu grundsätzlicher Neuorientierung veranlassen könnte. Einen derartigen Vorschlag hat England jedenfalls in der Vergangenheit nicht gemacht. Ein sensationelles Angebot, unter welchen Bedingungen es sich dem Konzept der europäischen Selbstbestimmung anschließen würde, ist nicht zu erwarten. Es hätte weltpolitische Auswirkungen, aber keine Regierung in London würde den Mut zum Risiko eines derartigen Vorschlags überleben.

Außerdem: Warum überhaupt sollte eine Politik geändert werden, die London in so eine bequeme und angenehme Lage gebracht hat? Für Washington ist es präferenziert, gerade weil es im zuweilen unbequemen Europa immer auf der Seite der Willigen steht. Ist die Frage, die mir der sowjetische Außenminister Gromyko 1970 in Moskau stellte – „Wann muss man damit rechnen, dass Europa mit einer Stimme spricht?“ – nicht längst überholt? Wenn es mit sechs Mitgliedern nicht gelang und nicht mit neun oder zwölf, etwa eine gemeinsame Nahost-Politik zu formen, wie soll es mit 25 und in überschaubarer Zeit 30 oder mehr Staaten gelingen? Die Gefahr eines außenpolitisch geschlossenen, handlungsfähigen Faktors Europa gibt es für London nicht mehr.

Die Frage, wozu dann die EU überhaupt noch gebraucht wird, beantwortet sich so: In der militärisch unipolaren Welt bleibt ein politisch multipolares Europa eine imponierende Handelsmacht. Seine Staaten können sich eine moderne Eingreiftruppe leisten, um etwa auf dem Balkan Frieden zu sichern oder zu helfen, Völkermord zu verhindern, aber jedenfalls mit einer untergeordneten Rolle der Gewaltanwendung. Die gewaltige qualifizierte Freihandelszone mit einer um die Ukraine, Weißrussland, Moldawien, die Türkei und Georgien erweiterten EU, durch Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Wohlstand gekennzeichnet, von einem Ring partnerschaftlich verbundener Länder umgeben – das würde die Attraktivität der freien Welt stärken für die Herausforderungen,  die Samuel Huntington fürchtet oder die durch das Wort Terrorismus gekennzeichnet sind.

Unbestreitbar lässt sich so ein plausibles realistisches Konzept beschreiben, das den englischen Interessen entspricht. Es entspricht nicht den Interessen eines selbstbestimmten Europa. Jedenfalls nicht seinen beschlossenen Zielen. Die Selbstbestimmung oder die Europäisierung Europas ist eine Forderung, die schon während des Kalten Krieges erhoben worden ist, damals nur wirtschaftlich; denn sicherheitspolitisch war die amerikanische Garantie unentbehrlich. Davon ist nach dem Zerfall des Warschauer Paktes nur die interkontinentale atomare Zweitschlagsfähigkeit geblieben, die zwischen den USA und Russland existiert, Europa einschließt und funktioniert. Konventionell kann Europa seither seine Sicherheit selbstverantwortlich regeln. Es kann den Zustand des Protektorats, wie ihn der frühere Sicherheitsberater Jimmy Carters, Zbigniew  Brzezinski, zutreffend formuliert hat, überwinden. Europa kann seine ungeteilte Selbstbestimmung erreichen; sie ist nur noch gegenüber Amerika erreichbar. Die Europäisierung Europas ist kein Antiamerikanismus und keine Abwendung vom Bündnis.

Im Grunde hat Tony Blair durch seine Äußerungen wie durch seine Politik der letzten Jahre Europa vor die Frage gestellt, ob es seinem Ziel der Selbstbestimmung noch folgen will. Im Grunde müsste Europa England vor die Frage stellen, ob es die beschlossene europäische Politik der Selbstbestimmung noch teilt oder sie keinesfalls mitmachen will. Es wäre jedenfalls legitim, England vor eine solche Entscheidung zu stellen, weil es unzumutbar ist, dass Europa sich weiterhin praktisch bremsen lässt, indem es London gestattet, in seiner so komfortablen gegenwärtigen Lage zu bleiben.

Die Selbstbestimmung muss dann eben ohne Großbritannien für die Länder hergestellt werden, die dazu willens und fähig sind. Auch wenn das zunächst nur wenige sind, ist das nicht nur eine Frage der Selbstachtung, sondern hat auch globale Bedeutung. Es wäre eben nicht nur gesellschaftspolitisch wichtig, wenn die Welt zwischen einem amerikanischen und einem europäischen Way of Life unterscheiden könnte, sondern auch machtpolitisch, wenn andere Regionen zwischen einem bedrohlichen und einem garantiert nicht bedrohlichen Faktor des Westens unterscheiden könnten – zwischen Amerika, das Krieg führt nach eigenem Ermessen, und Europa, das garantiert nicht ohne Mandat der Vereinten Nationen Gewalt anwendet. Auch wenn Amerika und England das nicht anerkennen: Eine derartig verantwortliche europäische Haltung liegt im westlichen Interesse.

Europa wird Großbritannien die Gretchenfrage in nächster Zeit nicht stellen. 2007 ist in London und Paris eine neue politische Spitze zu erwarten. 2008 wird die Nachfolge für Bush und wohl auch für Putin gewählt. Allein die deutsche Kanzlerin kann erwarten, 2009 noch im Amt zu sein. Aber geschichtlich wird eines Tages unabwendbar entschieden werden, ob Europa sich der Politik Englands wie bisher de facto beugt oder sich zu seiner Selbstbestimmung befreit.

EGON BAHR, geb. 1922, Professor, Bundesminister a.D., entwarf Anfang der sechziger Jahre gemeinsam mit Willy Brandt die Neue Ostpolitik der Bundesrepublik Deutschland. Der außenpolitische Vordenker der SPD hatte im Laufe seines Lebens zahlreiche Partei- und Regierungsämter inne.

  • 1 Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.5.2006.