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01. Apr. 2006

Ein Dogma muss vom Tisch

Die deutsche Angst vor der „militärischen Option“

Die nicht mehr zu leugnende Bedrohung, die die iranischen Nuklearambitionen darstellen, haben endlich auch die Deutschen aus ihrem außenpolitischen Dornröschenschlaf geweckt. Dennoch scheint es schwarz-roter Konsens zu sein, dass die militärische Option unter allen Umständen ausgeschlossen werden muss. Doch gerade die Sozialdemokratie könnte aus einer antitotalitären Tradition schöpfen, die keineswegs immer pazifistisch ist.

Es wirkte wie ein Déjà-vu. „Nehmt die militärischen Optionen vom Tisch. Wir haben erlebt, dass die nichts taugen“, rief Gerhard Schröder vor seinen Anhängern aus.

Das war im August vergangenen Jahres, während der Auftaktveranstaltung der SPD zu den Bundestagswahlen in Hannover. Schröder reagierte mit dieser Äußerung auf eine Pressemeldung, nach der George W. Bush bekräftigt habe, für einen amerikanischen Präsidenten stelle militärische Gewalt als Ultima Ratio immer eine Option dar.

Die Szene erinnerte an den Sommer 2002, als der damalige Bundeskanzler der bevorstehenden Bundestagswahl mit einer spektakulären Aussage eine entscheidende Wende gab. Unter seiner Führung, hatte Schröder erklärt, werde sich Deutschland an keiner militärischen Aktion gegen den Irak beteiligen. Bei diesem spektakulären „Nein“, mit dem er den USA frühzeitig die Gefolgschaft im Konfrontationskurs gegen Saddam Hussein aufkündigte, wusste Schröder die große Mehrheit der deutschen Bevölkerung auf seiner Seite. Er legte damit den Grundstein für einen kaum noch erwarteten Wahlsieg des rot-grünen Bündnisses und somit für seine zweite Kanzlerschaft.

Dann, im Sommer 2005, sah es für einen Moment so aus, als wolle Schröder seine effektivste propagandistische Waffe noch einmal zum Einsatz bringen, um erneut einen hoffnungslos scheinenden Rückstand in den Wahlumfragen aufzuholen. Dieses Mal ging es um den sich zuspitzenden Atomstreit mit dem Iran.

Schröder ist danach jedoch  nicht mehr auf das Thema zurückgekommen – nicht zuletzt, weil die Opposition eilig versicherte, auch sie halte strikt am Verhandlungsweg zur Lösung des Konflikts mit dem Iran fest. Die Wahl 2005 wurde anhand innenpolitischer Fragen entschieden. Zudem wurde bald deutlich, dass die US-Regierung in der Auseinandersetzung um das iranische Nuklearprogramm nicht auf eine rasche militärische Lösung zusteuerte, sondern sich dieses Mal streng an den multilateralen, diplomatischen Weg über die Vereinten Nationen halten wollte.

Wie ernst andererseits die Bedrohung durch die atomaren Ambitionen des Mullah-Regimes in Teheran gerade auch für Europa ist, wurde einer breiteren deutschen Öffentlichkeit erst Monate später bewusst. Es bedurfte dazu der massiven Vernichtungsdrohungen des iranischen Staatspräsidenten Achmadinedschad gegen Israel und seiner aggressiven Kampagne, mit der er die historische Realität des Holocaust in Frage stellt. Ein solches Regime im Besitz von atomaren Mittelstreckenraketen, die Europa erreichen können, muss selbst dem kompromissbereitesten europäischen Politiker wie ein Albtraum erscheinen.

Die innenpolitische Konstellation hat sich in Deutschland in der Zwischenzeit grundlegend verändert – auch im Hinblick auf die Koordinaten deutscher Außenpolitik. Nach den ersten Monaten der Großen Koalition scheint die Ära Rot-Grün mitsamt ihrem Pathos von der „Friedensmacht Deutschland“ in eine ferne Vegangenheit gerückt zu sein. Bei dem Versuch, den Iran durch die Mobilisierung internationalen Drucks in der Atomfrage zum Einlenken zu zwingen, gehen die USA, Großbritannien, Deutschland und Frankreich in engster gemeinsamer Abstimmung vor. Es zeigte sich nun auch, dass Frankreichs erbitterte Opposition gegen den US-Kriegskurs im Irak nichts mit einem prinzipiellen Pazifismus zu tun hatte. Präsident Chirac sorgte Anfang dieses Jahres sogar für Erregung in der Weltöffentlichkeit, als er in einer Rede daran erinnerte, dass Frankreich über ein atomares Waffenarsenal verfügt und im äußersten Notfall bereit wäre, sie zur Abschreckung von Staaten zu benutzen, „die Terrorismus unterstützen“. Nur unschwer war aus dieser Andeutung als primärer Adressat der Iran herauszuhören.

Auch in der deutschen Außenpolitik hat sich seit Amtsantritt der Großen Koalition der Tonfall deutlich verändert. Gegenüber dem iranischen Regime ist er kaum weniger scharf als der Washingtons. Sowohl Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) als auch SPD-Außenminister Frank-Walter Steinmeier lassen keinen Zweifel daran, dass sie in diesem Fall mit dem transatlantischen Verbündeten strikt an einem Strang ziehen wollen. Bis in detaillierte Formulierungen der eigenen Position gegenüber dem Iran hinein reicht die enge Abstimmung mit den Amerikanern. Angela Merkel verglich den irrlichternden Apokalyptiker im iranischen Präsidentenamt gar indirekt mit Adolf Hitler, als sie auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Januar darauf hinwies, die Unterschätzung aggressiver Absichten durch den Westen habe in den dreißiger Jahren schon einmal furchtbare Konsequenzen nach sich gezogen.

Und dennoch: In einem Punkt geht Deutschland in außenpolitischen Fragen noch immer einen Sonderweg. Er besteht darin, dass auch nur die andeutungsweise Erwähnung der militärischen Option als Ultima Ratio im Konflikt mit dem Iran für das offizielle Berlin tabu ist. Speziell für die Sozialdemokraten nimmt die Ablehnung der militärischen Option nach wie vor geradezu den Rang einer identitätsstiftenden Beschwörungsformel ein.

Als im Januar deutlich wurde, dass sich die überraschende Zustimmung zur Großen Koalition bei den Wählern in Umfragen durch Zuwächse für die CDU/CSU und einen empfindlichen Rückgang bei der SPD niederschlug, griff deren Vorsitzender Matthias Platzeck einmal mehr zu der vermeintlichen rhetorischen Wunderwaffe Gerhard Schröders. Die militärische Option müsse vom Tisch, wiederholte er in fast identischer Formulierung die Wendung des Exkanzlers vom Spätsommer 2005. Sogar Außenminister Steinmeier ließ sich zu der Formulierung herbei, eine „Militarisierung des Denkens“ in der Auseinandersetzung mit dem Iran müsse vermieden werden, was ihm – vermutlich zu Unrecht – als Kritik an dem besagten Auftritt der Bundeskanzlerin in München ausgelegt wurde, als sie warnend an die Appeasement-Politik der Westmächte in den dreißiger Jahren erinnert hatte. Zwar hat auch Steinmeier Anfang März (in einem Beitrag für Bild am Sonntag) noch einmal ostentativ davor gewarnt, den sich weiter zuspitzenden Konflikt mit dem Iran – mittlerweile befasste sich der UN-Sicherheitsrat mit dem Fall – durch eine Diskussion militärischer Optionen „weiter anzuheizen“. Doch war auch diese Äußerung nicht unbedingt als eine Spitze gegen Angela  Merkel, und auch nicht gegen die Amerikaner, zu verstehen. Denn die US-Regierung achtet bisher selbst penibel darauf, die Einheitsfront mit den Europäern und das gemeinsame Vorgehen mit China und Russland nicht durch Spekulationen darüber zu belasten, welche Maßnahmen folgen sollten, würde sich Teheran einer Resolution des Sicherheitsrats nicht fügen. Nicht einmal über eine Liste möglicher Sanktionen  wollten verantwortliche US-Politiker wie der UN-Botschafter John Bolton bis zum Frühjahr 2006 öffentlich reden, geschweige denn über denkbare militärische Szenarien. Man müsse „Schritt für Schritt“ vorgehen, hieß die stereotype Antwort auf entsprechende Nachfragen, die wortgleich auch von den führenden europäischen Politikern wiederholt wird. Der erste Schritt aber sei die Herbeiführung einer einheitlichen, eindeutigen Haltung der Weltgemeinschaft im UN-Sicherheitsrat, die noch keine Verhängung von Sanktionen oder gar weitergehende Schritte impliziere.

Sozialdemokratische Ängste

Vordergründig lässt sich der Rekurs Platzecks und anderer führender So-zialdemokraten auf die „Friedensmacht“-Rhetorik der Ära Schröder als rein innenpolitisch motiviertes Manöver deuten. Mit wachsender Nervosität suchen die Sozialdemokraten nach Alleinstellungsmerkmalen, die verhindern sollen, dass sie beim Wähler zunehmend lediglich als Ju-niorpartner in der Großen Koalition wahrgenommen werden. Platzeck hat aber inzwischen wohl verstanden, dass sich der Iran-Konflikt für eine solche Operation kaum eignet. Jedenfalls hat er seine Mahnung zur Friedfertigkeit seither nicht wiederholt. Die Sorgen der Sozialdemokraten bezogen sich ja vor allem auf die Serie von Landtags- und Kommunalwahlen Ende März dieses Jahres. Die Befürchtung richtete sich darauf, dass ein schlechtes Abschneiden der SPD das Kräfteverhältnis in der Großen Koalition weiter, und zwar gravierend, zu Ungunsten der Sozialdemokraten verlagern könnte. Platzeck und andere Sozialdemokraten griffen daher wohl gleichsam instinktiv zu einem Thema, das sich mit einem großen Erfolg der Sozialdemokraten in der Vergangenheit verband. „Soziale Gerechtigkeit“ und „Frieden“ sollen demnach charakteristische sozialdemokratische Themenfelder bleiben.

Fragen der internationalen Politik spielen jedoch erfahrungsgemäß bei Wahlen auf Länder- und Kommunalebene keine Rolle. Für den unmittelbaren Zweck einer Eigenprofilierung der SPD im Rahmen der Großen Koalition wäre eine Kampagne zum möglichen Vorgehen gegenüber dem Iran denkbar ungeeignet gewesen – ganz abgesehen davon, dass sie als ein enormes Störmanöver gegenüber der deutschen Außenpolitik in einer sehr heiklen weltpolitischen Frage gewirkt hätte. Jegliches Signal, das auf eine potenzielle Spaltung der westlichen Einheitsfront hindeutet, wird im Iran aufmerksam registriert und mit ostentativem Beifall bedacht. Das dürften die verantwortlichen SPD-Außenpolitiker auch Matthias Platzeck und der SPD-Spitze klar gemacht haben.

Man muss dennoch davon ausgehen, dass der Streit um das Reizwort „militärische Option“ in der deutschen Innenpolitik längst nicht ausgestanden ist. Sie könnte, wenn der Streit mit dem Iran weiter eskaliert, sogar zur Bruchlinie im Regierungsbündnis zwischen Union und SPD werden. Wobei sich diese mögliche Friktion keineswegs fein säuberlich entlang der Parteilinien vollziehen müsste. Auch innerhalb der Unionsparteien gibt es erhebliche Reserven und Ängste, unversehens in das Kielwasser einer amerikanischen Kriegspolitik zu geraten. Die derzeit zur Schau gestellte Einigkeit zwischen Europäern und Amerikanern kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich dahinter weiterhin unterschiedliche politische Philosophien über die Legitimität und den Wert militärischer Drohungen oder gar Einsätze in der Weltpolitik verbergen.

Was geht überhaupt?

Zunächst stellt sich aber die Frage, ob dem Westen im Falle des Atomkonflikts mit dem Iran die militärische Option als ultima ratio überhaupt zur Verfügung steht. Angesichts der äußerst explosiven Lage im Irak und der erheblichen Verteidigungskräfte des Irans scheint es völlig ausgeschlossen, dass die USA – sollte eine solche Variante angesichts ihrer unabsehbaren politischen Folgen in Washington überhaupt je in Erwägung gezogen worden sein – eine militärische Invasion des Landes  ausführen könnten. Aber auch ein gezielter Angriff aus der Luft auf iranische Atomanlagen, kombiniert womöglich mit dem Einsatz von Spezialeinsatzkommandos, wäre mit enormen Risiken verbunden. Fachleute streiten heftig darüber, ob es möglich wäre, alle wichtigen Produktions- und Forschungsstätten der Iraner so effektiv zu treffen, dass das Atomprogramm zum Stillstand gebracht werden könnte.

Selbst im für die Angreifer günstigsten Fall könnten die Atombestrebungen des iranischen Regimes mit militärischen Mitteln allenfalls für einige Jahre aufgehalten werden. Für einen solchen Fall müsste dann ein politischer Plan bereit liegen, wie Iran in einer solchen „Zwischenperiode“ in eine internationale Kooperation zurückgeführt werden könnte. Ein „Regime Change“ durch einen Umsturz im Lande selbst erscheint angesichts der Demoralisierung der Oppositionskräfte innerhalb und außerhalb des Irans seit der Wahl Achmadinedschads unwahrscheinlicher denn je. Denkbar wäre eher eine Veränderung innerhalb des Regimes selbst – indem sich eine Fraktion durchsetzte, der Achmadinedschads Konfrontationskurs als nicht zweckdienlich für die Überlebensinteressen der theokratischen Kaste erscheint.

„Wenn das, was die Regierung tut, funktionieren würde, wären wir einverstanden“, zitierte kürzlich die New York Times die Kritik eines hohen iranischen Beamten an Achmadinedschads Konfrontationsstrategie. „Aber: Seit der Revolution vor 27 Jahren versuchen die Amerikaner, Iran vor den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zu zerren und sind immer gescheitert. In weniger als sechs Monaten hat Achmadinedschad das jetzt geschafft.“ Eine solche neue Führung könnte darauf setzen, dem Westen durch kleinere Zugeständnisse und ein langsameres Tempo bei der Verfolgung seiner nuklearen Pläne den Wind aus den Segeln zu nehmen. An der grundsätzlichen Zielsetzung des Mullah-Regimes, über kurz oder lang zu einer Atommacht zu werden, würde auch das nichts ändern.

Eine militärische Attacke des Westens würde aber zunächst einmal wütende Abwehrreaktionen des herrschenden Regimes provozieren. Dabei verfügt es über Mittel und Wege, den USA und dem Westen insgesamt empfindlichen Schaden zuzufügen. Vor allem Irans erheblicher Einfluss im Irak bedeutet für die Amerikaner ein ernstes Problem. Sollte der Iran offen zum Aufstand der von ihnen beeinflussten schiitischen Kräfte gegen die amerikanische Besatzungsmacht aufrufen und mit eigenen, bereits jetzt rekrutierten Selbstmordkommandos selbst in den Kampf eingreifen, wäre die Lage im Irak von den USA kaum noch zu kontrollieren. Iran könnte zudem Terroranschläge in Israel, aber auch in Europa lancieren, womöglich sogar mit schmutzigen Bomben.

Auch wenn Präsident Bush und vor allem Vizepräsident Cheney von Zeit zu Zeit durchblicken lassen, dass die USA eine atomare Bewaffnung des Irans auf keinen Fall hinnehmen wollen – was impliziert, dass sie dies im äußersten Notfall auch mit bewaffneter Gewalt zu verhindern versuchen würden  –, spricht doch weniges dafür, dass es in absehbarer Zeit zu einer Militäraktion kommen wird. Das Regime in Teheran weiß dies natürlich nur zu genau, weshalb die Drohung mit der „militärischen Option“ derzeit wenig effektiv ist.

Experten in den Vereinigten Staaten, auch aus dem konservativen Lager, stellen inzwischen sogar die Frage, ob militärische Gewalt nach der Erfahrung des Irak-Kriegs überhaupt noch als taugliches Mittel zur Ausschaltung aggressiver autoritärer und totalitärer Regime gelten kann. So plädiert Francis Fukuyama, der sich einst selbst der neokonservativen Schule zugerechnet hat, in seinem jüngsten Buch („Scheitert Amerika? Supermacht am Scheideweg“, Berlin 2006) für eine Neuorientierung der amerikanischen Außenpolitik, in der die militärische Option nur noch eine untergeordnete Rolle spielen soll. Zwar sollten „Präventivkriege und Regimewechsel durch Militärinterventionen“ als Möglichkeit „nicht völlig ausgeschlossen werden“, schreibt Fukuyama, doch nur unter der Maßgabe, „dass dies sehr extreme Maßnahmen sind“. An der neokonservativen Leitidee, Stabilität durch die Demokratisierung autoritärer Gesellschaften herzustellen, will Fukuyama festhalten. Doch sollten sich die USA dazu wieder primär auf „Soft Power“, auf die geduldige Förderung von Reformprozessen und -bewegungen in autoritären Staaten und die Entwicklung internationaler kooperativer Strukturen verlassen statt auf militärisches Auftrumpfen im Bewusstsein überlegener Macht und Waffentechnik.

Man kann davon ausgehen, dass sich einige zentrale Positionen Fukuyamas zur Neuorientierung der US-Außenpolitik mit den Überlegungen eines nicht unwesentlichen Flügels in der Regierung decken. Einiges, was Fukuyama über die Notwendigkeit der Wiedereinbindung der US-Strategie in internationale Strukturen sagt, dürfte den Überzeugungen von Außenministerin Condoleezza Rice sehr nahe kommen, die – anders als ihr Vorgänger Colin Powell – einigen Einfluss auf den Präsidenten hat. Wie dem auch sei, es klingt unter den gegebenen Umständen nicht danach, als ob in der nächsten Zukunft mit einem weiteren größeren, und schon gar nicht einem eigenmächtigen, militärischen Engagement der USA bei der Bekämpfung von „Schurkenstaaten“ zu rechnen ist.

Allerlei Euphemismen

Bedeutet dies nun aber etwa, dass sich die deutschen Sozialdemokraten in ihrer prinzipiellen Ablehnung der „militärischen Option“ bestätigt fühlen und die Deutschen einfach in die alten Bahnen einer strikt auf Verhandlungslösungen und konsensualen Interessenausgleich gerichteten „Friedenspolitik“ zurückkehren könnten, die auf jeden Gedanken an militärische Druckmittel von vornherein verzichtet?

Keineswegs. Zunächst einmal entsprach dieses Selbstbild ohnehin niemals der ganzen politischen Realität. Die Bundesrepublik hat sich aktiv an den Kriegseinsätzen in Bosnien und im Kosovo beteiligt, obwohl zumindest letzterer nicht durch einen expliziten UN-Sicherheitsratsbeschluss gedeckt war. In der Sprache des offiziellen Berlin wurde der Begriff „Krieg“ für diese Einsätze stets vermieden; man bezeichnete sie vielmehr lieber mit euphemistischen Begriffen wie „humanitäre Intervention“. Doch es fielen im Krieg gegen Serbien ganz reale Bomben, und sie töteten ganz real serbische Soldaten und Zivilisten. Aktiv beteiligt war Deutschland zudem am Kriegseinsatz gegen die Taliban, und es stellt einen erheblichen Teil des militärischen Kontingents zur Friedenssicherung in Afghanistan. Auch wenn die Bundeswehr bisher nicht in unmittelbare Kriegshandlungen mit zunehmend aggressiver agierenden islamistischen Terroristen verwickelt war, muss sie doch auf kurz oder lang mit einer solchen bewaffneten Konfrontation rechnen. Der Öffentlichkeit verborgen bleibt weiterhin, ob und in welchem Ausmaß Spezialkontingente der KSK an operativen Einsätzen der Amerikaner gegen Talibankämpfer beteiligt sind.

Selbst die deutsche Abstinenz im Irak-Krieg war längst nicht so eindeutig, wie es die Schröder/Fischer-Regierung dargestellt hat. Daran wurde die deutsche Öffentlichkeit zuletzt durch die Debatte über die Tätigkeit des Bundesnachrichtendiensts (BND) vor und während des Krieges erinnert. Unstrittig ist, dass Deutschland der amerikanischen Kriegführung im Rahmen seiner Bündnisverpflichtungen logistische Unterstützung gegeben hat und dass führende Vertreter der rot-grünen Koalition nach Ausbruch des Krieges erklärten, nunmehr hofften sie auf einen raschen Sieg der USA und ihrer „Koalition der Willigen“. Zumindest passiv war Deutschland in diesem Konflikt Kriegspartei.

Die weltpolitischen Voraussetzungen haben sich für die Europäer, und nicht zuletzt für Deutschland, seit dem Streit um den Irak-Krieg einschneidend verändert. Von der Vorstellung, die Nichtbeteiligung am Irak-Krieg sichere den Deutschen ein gewisses Maß an Schutz vor Gewalttaten radikalislamischer Kräfte, müssen sich die deutsche Politik und Öffentlichkeit endgültig verabschieden. Nicht nur wurden Deutsche Zielscheibe von Entführungsaktionen im Irak, auch wurden im so genannten „Karikaturenstreit“ (ein euphemistischer Begriff für diese konzertierte antiwestliche Kampagne islamistischer Agitatoren und diverser diktatorischer Regime aus der islamischen Welt) dezidiert eine Reihe von EU-Ländern, unter ihnen Deutschland, von extremen islamischen Kräften zu Feinden erklärt. EU-Einrichtungen sind im Gaza-Streifen und in der Westbank zu Objekten gewalttätiger Angriffe geworden.

Der Sieg der Hamas bei den palästinensischen Parlamentswahlen im Januar hat die EU in einen unmittelbaren Gegensatz zur Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) gebracht und ihr bisheriges Selbstverständnis als eine Art ehrlicher Makler zwischen Israelis und Palästinensern erschüttert. Auch in der Frage des Verhaltens gegenüber der Hamas nehmen Europa und die USA eine gemeinsame Position ein: Weitere finanzielle Zuwendungen für die PA werden davon abhängig gemacht, dass die neue, von der Hamas geführte Palästinenserregierung das Existenzrecht Israels anerkennt, auf Gewalt verzichtet und die bisherigen Ergebnisse des Friedensprozesses akzeptiert. In der Wahrnehmung der Islamisten und von extremen palästinensischen Nationalisten sind die Europäer damit eindeutig auf die Seite des verhassten Israel und seiner wichtigsten Schutzmacht USA übergegangen.

Während Amerika – teils aus Notwendigkeit, teils aus Einsicht – im Begriff ist, seine überschießende militärische Energie wieder zu zügeln, sehen sich die Europäer umgekehrt mehr denn je gezwungen, ihre prinzipiell negative Einstellung gegenüber dem Einsatz militärischer Machtmittel zu überdenken. Paradoxerweise wird diese Frage umso drängender, je mehr das in den vergangenen Jahren auftrumpfend zur Schau gestellte politisch-militärische Selbstbewusstsein der USA einer neuen Politik der Vorsicht weichen würde. Träte im Irak der schlimmste Fall ein und das Land würde im Chaos von Bürgerkrieg und Terrorismus versinken – wie es tendenziell schon in den Palästinensergebieten der Fall ist –, bedeutete dies für die Europäer wegen der geographischen Nähe zum Nahen Osten eine noch größere Gefährdung als für die USA. Schaffte zudem der Iran den Durchmarsch zur Atommacht, würde dies primär eine neue militärische Bedrohungslage für Europa schaffen – wäre damit doch das europäische, nicht das amerikanische Territorium in die Reichweite atomarer Geschosse einer feindseligen Macht gerückt.

Die nach dem Ende des Kalten Krieges aufgestellte Prämisse deutscher Sicherheitspolitik, unser Land sei nur noch „von Freunden umzingelt“, hätte mit dieser Entwicklung seine Gültigkeit verloren. Deutschland und die EU insgesamt müssen sich die Frage stellen, wie sie eine eigene wirksame Abschreckung gegenüber potenziellen Angriffen oder doch zumindest Erpressungsversuchen eines Staates wie des Irans entwickeln können.

Einen Vorgeschmack auf diese neue Lage bekam Europa bereits im „Karikaturenstreit“. Arabische Regierungen verlangten von europäischen Staaten die „Bestrafung“ der Zeichner, die den Islam beleidigt hätten, und Vorkehrungen, dass sich derartiges nicht wiederholen würde. Die europäischen Regierungen sind diesen anmaßenden Forderungen, deren Erfüllung die Aufgabe grundlegender Rechtsprinzipen westlicher Demokratien bedeutet hätte, natürlich nicht nachgekommen. Doch die Furcht vor weiteren Übergriffen gegen europäische Einrichtungen und Bürger zwangen die europäischen Regierungen doch immerhin, einen beschwichtigenden Tonfall gegenüber den Erpressern anzuschlagen.

Es ist eindeutig, dass nicht mehr nur Al-Qaida, sondern neuerdings auch der Iran und andere Diktaturen im Nahen Osten, wie etwa die syrische, Schwachstellen europäischer Verteidigungsfähigkeit auszuloten begonnen haben. Ihr Drohpotenzial erschöpft sich dabei nicht in möglichen Gewaltakten gegen Europäer in islamischen Ländern. In Europa existiert bereits längst ein „einheimisches“ Milieu extremistischer Islamisten, aus dem sich Akteure für Anschläge in europäischen Metropolen rekrutieren lassen.

Nun ist klar, dass ein solcher „bodenständiger“ Terrorismus nicht durch militärische Drohungen abgeschreckt werden kann. Dennoch muss Staaten wie dem Iran oder Syrien klar gemacht werden, dass sie für eine Förderung terroristischer Aktivitäten gegen Europäer im Ausland oder gar in Europa selbst von den europäischen Demokratien zur Rechenschaft gezogen würden. Auch wenn der Nachweis etwa einer iranischen Beteiligung an einem Terrorakt in Europa noch längst keine militärischen Gegenaktionen nach sich ziehen muss, ist es unerlässlich, den Machthabern in Teheran glaubhaft zu machen, dass zur Abwehr derartiger Akte in allerletzter Instanz auch militärische Mittel nicht ausgeschlossen sind. Ohne diese Gewissheit würden alle dem Einsatz militärischer Mittel vorgelagerten Maßnahmen ihre Wirkungskraft verlieren. Das Offenhalten der „militärischen Option“ ist insofern nichts anderes als eine grundlegende Lebensversicherung für die europäischen Demokratien.

Traditionslinien

Was aber macht es insbesondere der deutschen Sozialdemokratie so schwer, das Dogma von der grundsätzlichen Unzulässigkeit der „militärischen Option“ aufzugeben? Die Abneigung, darüber zu reden, ist ein verschlepptes Erbe der Entspannungspolitik der siebziger und achtziger Jahre. Sie ging von einer grundsätzlichen Rationalität des kommunistischen Gegners im Kalten Krieg aus, die ihn über kurz oder lang auf die Bahnen friedfertiger Kooperation führen werde. Damals schon verdrängte man in Deutschland gern, dass der „Wandel durch Annäherung“ nur vor dem Hintergrund einer fürchterlichen militärischen Drohkulisse möglich war, deren Aufrechterhaltung man freilich den Amerikanern und den anderen westlichen Siegermächten des Zweiten Weltkriegs überlassen konnte. Gegenüber aggressiven irrationalistischen Ideologien wie dem islamistischen Dschihadismus, sei er staatlicher oder nichtstaatlicher Prägung, kann die Prämisse des Vertrauens auf die Einsichtsfähigkeit erbitterter Feinde der pluralistischen Demokratie aber erst recht nicht gelten.

Auch gibt es gegen diese Gefahr noch keine verlässliche Abschreckung, und man kann sich bei ihrer Entwicklung nicht ausschließlich auf die Amerikaner verlassen. Auch Deutschland muss im europäischen Rahmen dazu einen aktiven Beitrag leisten. Dazu muss eine grundsätzliche Debatte über das eigene Verhältnis zum Einsatz militärischer Gewalt beginnen – unter politischen und strategischen ebenso wie unter ethischen Gesichtspunkten.

Der Sozialdemokratie kommt dabei eine Schlüsselrolle zu. Die Verdrängung des militärischen Aspekts in den weltpolitischen Konflikten geht, wie gesagt, weit über die Grenzen der SPD hinaus. Doch die Sozialdemokratie wäre eigentlich prädestiniert dafür – wie schon in den sechziger Jahren, als sie die entscheidenden Impulse in Richtung der Entspannungspolitik setzte –, ideelle Maßstäbe für die Behandlung dieses Problems zu entwickeln. Sie könnte dabei aus ihrer langen antitotalitären Tradition schöpfen, die sie einst in die Lage versetzte, sowohl dem nationalsozialistischen als auch dem stalinistischen Gewaltsystem zu widerstehen und dabei auch militärische Gewalt als legitimes moralisches Mittel zur Verteidigung der Freiheit zu akzeptieren. Heute haben wir es wieder mit einer agressiven globalen Herausforderung des Erbes der Aufklärung und des Humanismus zu tun, dem sich die Sozialdemokratie verpflichtet fühlt. Für das Ausmaß dieser Bedrohung ein angemessenes Bewusstsein in der deutschen Öffentlichkeit zu schaffen und dagegen einen freiheitlichen Widerstandsgeist in der Tradition Ernst Reuters und des frühen Willy Brandt zu fördern, wäre eine große Aufgabe für die deutschen Sozialdemokraten. Ihr Alleinstellungsmerkmal wäre damit auch gleich mitgeliefert.

Dr. RICHARD HERZINGER, geb. 1955, ist Redakteur für Außenpolitik bei der Welt am Sonntag. 2001 erschien sein Buch „Republik ohne Mitte“.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, April 2006, S. 66 - 74

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