Online exklusiv

02. Nov. 2022

Das Dauerfeuer der Desinformation

Je heftigere Rückschläge das russische Regime bei seinem Vernichtungsfeldzug gegen die Ukraine einstecken muss, desto intensiver konzentriert es sich darauf, die westlichen Gesellschaften mittels Desinformation zu unterminieren und zu spalten – um sie so von der Unterstützung für das überfallene Land abzubringen. Diese Techniken müssen in ihrer ganzen Dimension als integraler Bestandteil der kriegerischen Aggression gegen die liberalen Demokratien begriffen werden. Um sie abzuwehren, bedarf es eines Frühwarnsystems – und großer Anstrengungen.

Bild
zerbrochenes Glas

Der Kreml greift derzeit vor allem auf drei Feldern manipulativ in die öffentliche Meinungsbildung ein: Zum einen soll die Angst vor einem dramatischen Einbruch der europäischen Wirtschaft wegen ausbleibender Energielieferungen aus Russland und vor sozialen Verwerfungen durch explodierende Energiepreise geschürt werden, zum anderen die Furcht vor der Ausweitung des Kriegs gegen die Ukraine zu einem Atomkrieg - mit dem Putin unverhohlen droht.

Drittens nutzt das russische Regime ansteigende Flüchtlingszahlen in den EU-Staaten, um in den westlichen Gesellschaften grassierende Ressentiments gegen Migranten zu befeuern. Dabei erzeugt Russland selbst absichtlich neue Fluchtbewegungen: Durch seinen fortgesetzten Krieg in Syrien, aber auch, indem es durch die Blockade ukrainischer Getreideausfuhren weltweite Ernährungskrisen herbeiführt. Nicht zuletzt zielt es mit seinen Terrorbombardements gegen die zivile Infrastruktur der Ukraine darauf, weitere Millionen von Ukrainerinnen und Ukrainern nach Westeuropa zu treiben, um so die hiesigen Sozialsysteme zu überlasten.

„Wer Deutschland hat, der hat Europa“

Dass der Kreml mit seinen Unterminierungsoperationen primär Deutschland im Visier hat, entspricht  seiner traditionellen Prioritätensetzung seit Lenin, dem der Satz zugeschrieben wird: „Wer Deutschland hat, der hat Europa.“ Die Bundesrepublik eignet sich aber auch aktuell als weiches Ziel der russischen Desinformationskriegsführung: Sie hat ihre Wirtschaft mehr als andere westliche Demokratien von russischer Energie abhängig gemacht, und die Nachkriegsdeutschen haben ihre nationale Identität stets primär über ihre Wirtschaftskraft und ihren Wohlstand definiert – die jetzt ernsthaft bedroht scheinen. Auch ist die Angst vor allem Atomaren hier besonders ausgeprägt, wie sich von der Massenbewegung gegen die NATO-Nachrüstung in den 1980er Jahren bis zum überstürzten Ausstiegsbeschluss aus der Atomenergie vor gut zehn Jahren gezeigt hat. Gelinge es, so kalkuliert der Kreml, Berlin aus der westlichen Solidaritätsfront mit der Ukraine herauszubrechen, werde die internationale Unterstützung für das von Russland überfallene Land bald ganz versiegen.

Die russische Desinformationsoffensive verfehlt nicht ihre Wirkung. Rund 60 Prozent der Deutschen befürworten laut jüngsten Umfragen verstärkte diplomatische Anstrengungen zur Beendigung des Kriegs, auch wenn dies beinhalten würde, die Ukraine zu „Kompromissen“ zu drängen. Tausende demonstrieren neuerdings auf den Straßen der Republik gegen die vermeintlich unsoziale Politik der Bundesregierung in der Energiekrise – was Extremisten von Rechts bis Links als Bühne nutzen, um den Jahrhundertverbrecher Putin hochleben zu lassen und die ukrainischen Opfer des russischen Völkermords als „Nazis“ zu diffamieren.

Gezielter Desinformationsangriff auf Baerbock

Wie wenig die deutsche Öffentlichkeit die Propagandatechniken des Kremls durchschaut, wurde kürzlich exemplarisch deutlich, als eine vom russischen Geheimdienst manipulierte Videoaufzeichnung eines Auftritts von Außenministerin Annalena Baerbock bei einem Podiumsgespräch in Prag für Aufregung sorgte. Demnach habe Baerbock gesagt, für sie stehe die Ukraine an erster Stelle, während ihr die deutschen Bürger und die sozialen Härten gleichgültig seien, die diesen in der aktuellen Krise drohen. Kaum waren diese verfälschten Aussagen in die sozialen Medien und die Propagandakanäle des Kremls eingespeist, wurden sie in Windeseile von kremlnahen Netzwerken rund um die Welt verbreitet. Bald fand die in Moskau fabrizierte Desinformation auch den Weg in deutsche etablierte Medien, die sie zum Teil ungeprüft übernahmen.

Durch Aktionen wie diese soll in der deutschen Öffentlichkeit das russische Narrativ verankert werden, steigende Energiepreise und drohende Gasengpässe seien auf die Unterstützung Berlins für die Ukraine und die Sanktionen gegen Russland zurückzuführen. Damit wird der wahre Sachverhalt zynisch auf den Kopf gestellt. Nicht die Abwehrmaßnahmen gegen die russische Aggression sind die Ursache für die aktuellen Probleme, sondern die jahrelange verfehlte Energiepolitik Berlins, die Deutschland und Europa in Abhängigkeit von einem verbrecherischen Regime gebracht und dessen erpresserischer Willkür ausgesetzt hat.

Die dahinterstehende Propagandalüge, nach der Europa nur in gutem Einvernehmen mit dem russischen Regime wirtschaftlich prosperieren könne, wird in Deutschland von der rechtsextremen AfD ebenso eifrig verbreitet wie von großen Teilen der SED-Nachfolgepartei Die Linke. Doch auch die Einlassungen einflussreicher Politiker der „bürgerlichen Mitte“ folgt vom russischen Aggressor vorgegebenen Prämissen. So etwa, wenn der sächsische CDU-Ministerpräsident Michael Kretschmer fordert, der Krieg in der Ukraine müsse schnellstmöglich „angehalten“ oder „eingefroren“ werden, um katastrophale ökonomische und soziale Schäden von Deutschland abzuwenden – und hinzufügt, „nach dem Krieg“ solle Deutschland wieder Gas aus Russland beziehen.

Deutsche Sehnsucht nach „normalen Beziehungen“

Jenseits seiner Lippenbekenntnisse zur territorialen Integrität der Ukraine verrät Kretschmer damit, worum es ihm eigentlich geht: um die schnellstmögliche Rückkehr zu „normalen“ Beziehungen mit Russland – als ob ein Land, das sich durch horrende Verbrechen gegen die Menschlichkeit aus dem Kreis der zivilisierten Nationen katapultiert hat, flugs wieder als seriöser Geschäftspartner gelten könnte, sobald es vorübergehend zu schießen aufhört.

Dass sie von diesem Zivilisationsbruch durch Russland abstrahieren, ist charakteristisch für sämtliche Stimmen aus der deutschen Politik und Öffentlichkeit, die von der Bundesregierung verstärkte „diplomatische Initiativen“ gegenüber Moskau fordern. Doch abgesehen davon, dass Putin bisher alle diplomatischen Vorstöße vonseiten des Westens höhnisch zurückgewiesen hat – die Vorstellung, mit seinem Regime sei eine gerechte Verhandlungslösung denkbar, basiert auf dem Irrglauben, hinter dem russischen Vernichtungskrieg stecke eine nach unseren Maßstäben nachvollziehbare Rationalität oder gar ein irgendwie geartetes legitimes russisches „Sicherheitsinteresse“, auf deren Basis ein „Kompromiss“ oder „Ausgleich“ mit dem Kreml-Regime gefunden werden könnte.

Selbst die Bezeichnung „Krieg“ für die russischen Aggressionshandlungen gegen die Ukraine stellt im Grunde bereits eine Verharmlosung dar. Es handelt sich dabei vielmehr um einen Ausrottungsfeldzug gegen eine unabhängige europäische Nation. Massenexekutionen, Folterung und Ermordung von Zivilisten und Kriegsgefangenen, Vergewaltigungen, millionenfache Deportation der einheimischen Bevölkerung nebst hunderttausendfacher Entführung von Kindern zwecks „Entukrainisierung" (zu deren Umsetzung Kreml-Propagandisten auch Zwangssterilisationen angekündigt haben), die gezielte Bombardierung ziviler Einrichtungen und lebensnotwendiger Infrastruktur – Russland verübt in der Ukraine Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in einem Ausmaß und mit einer abgründigen Grausamkeit, wie sie Europa seit dem Untergang des Nationalsozialismus nicht erlebt und nicht mehr für möglich gehalten hat.Diese Verbrechen sind keine vereinzelten Exzesse, sondern folgen der Systematik eines geplanten und im Detail angekündigten Genozids.

Moskau will die Auslöschung der Ukraine

Offen hat das Kreml-Regime die Auslöschung der Ukraine als Nation als den Zweck seines Überfalls auf das Nachbarland erklärt. An diesem Ziel wird das Regime festhalten, solange es existiert – gehört es doch zum Identitätskern seiner Gewaltherrschaft. Das aber bedeutet, dass jegliches von Russland eroberte ukrainische Gebiet der genozidalen Willkür der Okkupanten ausgeliefert ist. Alleine deshalb scheidet für jeden, der sich nicht an einem Völkermord mitschuldig machen will, jegliche „diplomatische Lösung“ aus, die Russland zugestehen würde, auch nur temporär ukrainisches Territorium besetzt zu halten. Ganz abgesehen davon, dass der Aggressor einen Waffenstillstand oder „kalten Frieden“ lediglich dazu nutzen würde, seine Kräfte für neue Angriffswellen zu sammeln.

Doch die deutschen „Diplomatie“-Befürworter ignorieren hartnäckig diese Dimension des russischen Vernichtungsfeldzugs und reden so, als ginge es in der Ukraine um einen „regulären“ Krieg zwischen zwei Parteien, die durch unermüdliche Verhandlungen zu einer Einigung finden könnten. Der SPD-Fraktionsvorsitzende im Bundestag, Rolf Mützenich, hat dieser Haltung eine besonders perfide Note hinzugefügt. Eine „kluge Außenpolitik“ müsse einem noch aggressiveren Gebaren autoritärer Mächte wie Russland in der Zukunft „heute vorbeugen und sich nicht an die Bedingungen anderer fesseln“ – womit nichts anderes angedeutet wird, als dass die ukrainische Regierung Deutschland gegen sein eigenes Interesse in die Eskalation treibe. Mützenichs Bemerkung, Diplomatie dürfe sich „nicht in einem ideologischen Rigorismus oder in moralischen Belehrungen erschöpfen“, zeigt, in welche Richtung er den Diskurs drehen will: Die Unnachgiebigkeit gegenüber der Anmaßung eines völkermörderischen Regimes soll als „ideologisch“ abgestempelt werden, und dessen Untaten klar und deutlich beim Namen zu nennen als unangemessene „moralische Belehrung“ abgetan.

Mützenichs Einlassung erfolgte just zu dem Zeitpunkt, da der Kreml eine Desinformationskampagne rund um ein ebenfalls verfälschtes Zitat des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj begonnen hatte. Demnach habe Selenskyj von der NATO einen nuklearen Präventivschlag gegen Russland gefordert. In Wahrheit hatte er den Westen zwar – zu Recht - zu präventiven Maßnahmen aufgefordert, um Putin vom Einsatz von Atomwaffen abzuschrecken, von einem Nukleareinsatz war jedoch nie die Rede. Dennoch kursierte in deutschen Medien eine Agenturmeldung mit der Überschrift: „Selenskyj irritiert mit der Forderung nach einem Präventivschlag“, was im Kontext der hiesigen Atomangst unweigerlich die Assoziation auslöst, Selenskyj liebäugele mit der nuklearen Option. Inzwischen ist klar geworden, dass die Verbreitung dieser Desinformation dem Kreml als Vorbereitung für seine große Propagandalüge diente, die Ukraine plane einen Angriff mit einer atomaren „schmutzigen Bombe“. Damit will Moskau offensichtlich eine vorgeschobene Rechtfertigung dafür schaffen, selbst Atomwaffen gegen ukrainische Städte einzusetzen.

Umkehr des Täter-Opfer-Verhältnisses

Ziel solcher Kreml-Operationen ist es, im Bewusstsein der westlichen Öffentlichkeit das Täter-Opfer-Verhältnis umzukehren und den ukrainischen Präsidenten als einen außer Kontrolle geratenen Abenteurer hinzustellen, der die Welt in den Dritten Weltkrieg und damit in eine nukleare Katastrophe stürzen wolle. Nicht Russland, das offen mit dem Einsatz von Atomwaffen droht, sondern die Ukraine, der diese Drohung primär gilt, soll damit als Gefahr für den Weltfrieden gebrandmarkt werden.

Doch beschränkt sich der russische Desinformationskrieg keineswegs auf die Fabrikation und Verbreitung von dreisten Propagandalügen. Freie Erfindungen wie die, in der Ukraine herrschten Nazis, die russischsprachige Bürger verfolgten und ermordeten, oder die USA entwickelten in Geheimlaboren in der Ukraine Chemiewaffen, die gegen Russland eingesetzt werden sollten, werden im Westen zwar von erschreckend vielen Menschen geglaubt, nicht jedoch von der Mehrheit. Diese muss daher durch subtilere Bewusstseinsmanipulationen beeinflusst werden.

Als äußerst wirksam erweist sich dabei das Anzetteln und Befeuern von Ablenkungsdebatten. Auf einer Tagung im estnischen Tallinn machten dies kürzlich der ukrainische Historiker Andrij Portnov und der deutsche Politikwissenschaftler Andreas Umland am Beispiel der in deutschen Medien massiv thematisierten Rolle des ukrainischen Nationalistenführers Stepan Bandera im Zweiten Weltkrieg deutlich. Die beiden Experten beklagten übereinstimmend, dass sie kaum eine Interviewanfrage deutscher Medien ohne das Anliegen erreicht, sie möchten zur historischen und aktuellen Bedeutung Banderas Stellung nehmen.

Bandera ist von der russischen Propaganda zum Prototypen des ukrainischen Nazi-Kollaborateurs erkoren worden, und alle Kräfte, die für eine unabhängige Ukraine einstehen, gelten in der Terminologie des Kreml als „Banderisten“. Nun stimmt es zwar, dass es in der Ukraine vielfach ein verklärtes Bild von Bandera als Verkörperung des ukrainischen Widerstands sowohl gegen die nationalsozialistischen als auch die sowjetische Besatzungsmacht gibt. In der historischen Forschung wird dagegen darüber gestritten, ob und in welchem Ausmaß von Bandera angeführte Nationalisten an antijüdischen Pogromen, wenn nicht sogar am Holocaust beteiligt waren. Gesichert scheint indes, dass er selbst in den 1930er Jahren eine autoritäre Staatsidee mit faschistischen Zügen und antisemitischer Grundierung vertreten hat.

Zwanghafte Beschäftigung mit Bandera

Doch für die Bewertung des gegenwärtigen Angriffskriegs gegen die Ukraine ist die Frage nach der historischen Einordnung Banderas vollständig ohne Belang. Auch diejenigen Ukrainerinnen und Ukrainer, die zu seiner Idealisierung neigen, teilen in ihrer überwältigenden Mehrheit nicht die Ideologie, für die er stand. Alle maßgeblichen politischen Kräfte der Ukraine – in der Regierung wie in der Opposition - bekennen sich eindeutig zu den Werten der pluralistischen Demokratie. Was es mit Bandera genau auf sich hatte, wird von unabhängigen Historikern in einer freien wissenschaftlichen Auseinandersetzung näher zu klären sein. Dabei wird sich die Ukraine – wie viele andere demokratische Nationen – gewiss auch blinden Flecken in der Aufarbeitung ihrer Geschichte stellen müssen. Ihr dies aber ausgerechnet in einer Situation abzuverlangen, in der sie selbst Opfer eines brutalen Ausrottungskriegs ist, ist unanständig und zynisch.

Dass sich die deutsche Öffentlichkeit gleichwohl derart obsessiv und selbstgerecht mit dem einstigen ukrainischen Nationalistenführer beschäftigt, stellt aber an sich schon einen Erfolg für die Desinformationskrieger des Kremls dar. Wenn hierzulande mehr über Bandera als über Massaker wie in Butscha gesprochen wird, haben sie ein wichtiges Ziel erreicht. Die Wissenschaftler Portnov und Umland bezeichnen diese zwanghafte Fixierung auf das Thema Bandera als „toxisch“: Was immer dazu gesagt, wie differenziert auch über die Rolle Banderas in der ukrainischen Geschichte Auskunft gegeben wird – im Publikum bleibt am Ende der Eindruck hängen, die Ukraine habe irgendwie ein Faschismusproblem, das dringend der Erörterung bedürfe. Um dieser Falle zu entgehen, lehnen Portnov und Umland inzwischen Interviewanfragen ab, die sich auf Bandera beziehen. Was freilich wenig nützt: Irgendein anderer Experte, der sein tatsächliches oder angebliches Wissen über den legendären ukrainischen Nationalisten ausbreiten will, findet sich allemal.

Methoden der ablenkenden Desinformation

Bestens auf die Methode der ablenkenden Desinformation verstehen sich jene prominenten Vertreter der intellektuellen Elite – oder dem, was man in Deutschland dafür hält -, die seit dem russischen Überfall auf die Ukraine nicht müde werden, von der Bundesregierung Zurückhaltung bei der Unterstützung der Ukraine mit Waffen zu fordern. In besonderer Weise profilieren sich dabei der Soziologe Harald Welzer und der fälschlich als Philosoph bezeichnete Bestsellerautor Richard David Precht. Unermüdlich haben sie in den vergangenen Monaten ihre Medienpräsenz genutzt, um Waffenlieferungen an die Ukraine in Frage zu stellen. Nachdem sie damit nur mäßigen Erfolg hatten – die deutsche Unterstützung der Ukraine mit militärischem Gerät hat in den vergangenen Monaten deutlich zu- statt abgenommen –, haben sich Welzer und Precht nunmehr auf die Metaebene einer Fundamentalkritik der Medien verlegt und bezichtigen diese der Einseitigkeit und des Meinungskonformismus. Sie betrachten es dabei allen Ernstes als anstößig, dass sich (einer Formulierung Welzers zufolge) in Deutschland  „alle permanent aufgefordert“ fühlten, „die Perspektive der angegriffenen Ukrainerinnen und Ukrainer zu übernehmen“.

Ein groteskerer Vorwurf als der mangelnder Beachtung durch die Medien aus dem Mund von Autoren, die Dauergäste in TV-Talkshows sind, und vor deren Präsenz in Funk, Fernsehen, Internet und Printmedien man sich kaum retten kann, ist kaum vorstellbar. Precht verfügt sogar über ein eigenes Gesprächsformat im ZDF. Insbesondere er wird von Medien nach wie vor als ein origineller Denker gehandelt und hofiert. Seine Kritiker halten ihn dagegen für einen narzisstischen Poseur und pseudointellektuellen Scharlatan, der sich umso extensiver zu gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Fragen einlässt, je weniger er von der Sache versteht – und haben für diese Beurteilung reichlich Evidenz auf ihrer Seite. Selten wird aber auch von ihnen thematisiert, dass Prechts Wortmeldungen zu Russland und der Ukraine nicht bloßer Ahnungslosigkeit oder „nonkonformistischer“ Geltungssucht geschuldet sind. Vielmehr hat er sich bereits seit der Krim-Annexion und der russischen Invasion der Ostukraine 2014 konstant als eifriger Apologet des Kremls und Lautsprecher der russischen Kriegspropaganda betätigt hat, die er bis in die Formulierungen hinein identisch repliziert. Wenn er etwa gegen deutsche Waffenlieferungen den Einwand bemüht, wir „verlängerten“ damit nur den Krieg, hält er sich wortwörtlich an das Textbuch, das in Reden Putins und Lawrows vorgegeben wurde.

Eine unbedarfte Öffentlichkeit

Statt als eine unabhängige „Meinung" oder gar als „Expertise", die ihn für seine Dauerpräsenz in deutschen Medien qualifizieren würde, sollten Prechts Einlassungen zu Russlands Vernichtungsfeldzug gegen die Ukraine in gleicher Weise bewertet werden wie entsprechende Beiträge von Russia Today oder Sputnik. Dass dies nicht geschieht, zeigt, wie unbedarft die deutsche Öffentlichkeit den Techniken der Steuerung ihrer Debatten durch die Desinformationsspezialisten des Kremls noch immer gegenübersteht.

Diese Techniken aber müssen in ihrer ganzen Dimension als integraler Bestandteil der kriegerischen Aggression gegen die liberalen Demokratien begriffen werden. Um sie abzuwehren, bedarf es einer Art Frühwarnsystem, das in Kooperation von staatlichen Institutionen mit zivilen, regierungsunabhängigen Organisationen und Experteninitiativen entstehen muss, nicht zuletzt unter Einbeziehung der Medien. Es gilt, Desinformation frühzeitig zu erkennen, ihre Urheber zu orten und die Öffentlichkeit rechtzeitig über ihre Herkunft aufzuklären. Dabei geht es nicht um Zensur, sondern um Transparenz und Sensibilisierung der Öffentlichkeit mit dem Ziel, die gesellschaftlichen Diskurse in den westlichen Demokratien so weit wie möglich gegen die Manipulation durch autoritäre Mächte zu immunisieren.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik, online exklusiv, 2.11.2022

Teilen

Mehr von den Autoren

Dr. Richard Herzinger arbeitet als Publizist in Berlin. Seine Website „hold these truths“ finden Sie hier: https://herzinger.org