Essay

02. Jan. 2023

Die Präsenz des Bösen

Demokratische Gesellschaften scheuen den Begriff des Bösen. Doch die russischen Invasoren begehen in der Ukraine Verbrechen, die keine andere Benennung zulassen. Gefragt ist eine säkulare Definition des Bösen, die seine Realität in der Weltpolitik analytisch erfasst. Wegerklären lässt es sich jedenfalls nicht.

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Bild: Kinderspielzeug in einem zerstörten Bunker unter Mariupol
Spielzeug und persönliche Gegenstände liegen im Keller des eingestürzten Theaters von Mariupol in der Ukraine. Voller schutz­suchender Zivilisten, darunter viele Kinder, zerstörte Russland es am 16. März 2022 mit einem Bombenangriff.
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In seiner Dankesrede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2022 sprach der ukrainische Schriftsteller Serhij Zhadan den „falschen Pazifismus“ mancher Europäer an, der zur Folge habe, dass sie der Ukraine ihre Weigerung vorwerfen, sich den russischen Invasoren zu ergeben. Offenbar seien sie bereit, für fragwürdige materielle Vorteile „ein weiteres Mal das totale, enthemmte   Böse zu schlucken“.

Dass Zhadan ein Wort wie „das Böse“ gebrauchte, um das Vorgehen des russischen Aggressors zu charakterisieren, ist hierzulande bei selbst ernannten Oberlehrern der Moral auf naserümpfende Ablehnung gestoßen. So meinte der als Kritiker deutscher Waffenlieferungen an die Ukraine bekannte Soziologe Harald Welzer, einige Sätze, die der Preisträger „in Bezug auf die Gegner“ gesagt habe, seien „Teil eines dezivilisierenden Prozesses“. Gönnerhaft konzedierte er den Ukrainerinnen und Ukrainern zwar sein Verständnis dafür, dass sie selbst sich so ausdrückten, da sie ja die Angegriffenen seien. Doch „wir“ als „Dritte“ in diesem Konflikt dürften uns „in diesen Dezivilisierungsprozess nicht reinziehen lassen“.

Der wahre zivilisatorische Skandal besteht jedoch darin, dass ein deutscher Intellektueller seine Landsleute dazu auffordert, eine „dritte“ Position zwischen einer völkermörderischen Macht und deren Opfer einzunehmen. Welzer dokumentiert damit den geistigen und moralischen Bankrott eines Teils jener deutschen intellektuellen Elite, die stets darauf gedrungen hatte, die nationalsozialistische Vergangenheit aufzuarbeiten, um die „richtigen Lehren“ aus ihr zu ziehen. Heute aber, da eine friedfertige, souveräne europäische Nation von einem Vernichtungskrieg überzogen wird und durch Terrorbombardements ihrer Lebensgrundlagen beraubt werden soll, denunziert ein vermeintlicher Aufarbeitungsexperte wie Welzer die Solidarisierung mit ihr als „gesinnungsethische Überanstrengung“.

Dabei drängt sich angesichts des unbeschreiblichen Ausmaßes an Hass, Zerstörungswut und Grausamkeit, die Putins Soldateska in der Ukraine an den Tag legt, jedem Menschen mit einigermaßen intaktem moralischen Empfinden und minimaler Fähigkeit zur Empathie unwillkürlich der existenziell erschütternde Eindruck auf, hier mit dem absoluten Bösen konfrontiert zu sein. Dies umso mehr, als die Kremlführer und ihre Propagandisten unverblümt die Ausrottung der ukrainischen nationalen Identität propagieren und zu diesem Zweck „Maßnahmen“ wie Massenhinrichtungen, Folter, „Umerziehung“, Deportationen und Zwangssterilisationen für angemessen erklären. Sie offenbaren damit, dass es sich bei den von den russischen Truppen begangenen Verbrechen in der Ukraine nicht um vereinzelte Exzesse, sondern um das von der Moskauer Führung geforderte Vorgehen zur Durchführung eines systematischen Vernichtungsplans handelt.

Moskaus frei erfundene Vorwürfe

Derartige Verbrechen machen fassungslos, weil sie – in jedem Sinne dieses Wortes – grundlos sind. Weder regieren in Kiew „Nazis“, noch gibt es in der demokratischen Ukraine eine Diskriminierung oder gar Verfolgung der russischsprachigen Bevölkerung, noch existiert überhaupt ein prinzipieller Gegensatz zwischen russisch und ukrainisch sprechenden Bürgern des Landes. Und nicht im Entferntesten hat die Ukraine, so wenig wie auch die NATO, jemals einen Angriff auf russisches Territorium geplant oder auch nur erwogen. Alle diese Vorwände sind frei erfunden oder entspringen dem geschlossenen Wahnsystem der Machthaber in Moskau. Diese fantasieren nicht nur davon, das russische Imperium des 19. Jahrhunderts wiederaufzurichten, sondern auch, die ganze Welt von der westlichen liberalen „Dekadenz“ zu erlösen – eine „Mission“, für die sie den Einsatz unbegrenzter Gewalt bis hin zum Einsatz von Nuklearwaffen für erlaubt, wenn nicht sogar geboten halten.

Letzten Endes aber sind all diese Kon­strukte nur vorgeschoben, um die in immer neue Exzesse gesteigerte Gewaltmaschinerie des Regimes am Laufen zu halten. Es geht ihm um Zerstörung um der Zerstörung willen, weil dies der einzige Daseinsgrund seiner Herrschaft ist – um das also, was als Kennzeichen des Bösen gilt.

Doch kann diese Kategorie, die religiösem und metaphysischem Denken entstammt, in einem rationalen, sachlichen Diskurs über Weltpolitik überhaupt einen Platz haben? Oder ist der Rekurs auf sie lediglich Ausdruck eines vorpolitischen Entsetzens und verstellt in seiner emotionalen Wucht den analytischen Blick auf die vielschichtigen Zusammenhänge und Dynamiken von Konflikten und Kriegen? So argumentieren Verfechter einer „Realpolitik“, die auf Verhandlungen mit Russland setzen und davor warnen, sich von „Emotionen“ überwältigen zu lassen, die den Spielraum für Diplomatie einengen würden.

Sie können dabei an eine in demokratischen Gesellschaften weit verbreitete Scheu vor dem Begriff des Bösen anknüpfen. Die Befürchtung ist groß, mit seinem Gebrauch andere zu „verteufeln“ und in ein simplifiziertes Schwarz-Weiß-Schema zu verfallen. Im intellektuellen Diskurs gilt die Unterscheidung zwischen Gut und Böse als unterkomplex und politisch fragwürdig. Nie repräsentiere in weltpolitischen Konflikten, die von eigennützigen Motiven und Interessen aller Beteiligten angetrieben werden, die eine Seite das reine Gute und die andere das reine Böse. Die Denunziation des Gegners als „böse“ diene vielmehr allzu oft staatlicher Kriegspropaganda und torpediere die friedliche Beilegung von Konflikten.

Zudem wirke die Abstempelung von Jahrhundertverbrechern wie Adolf Hitler als Ausgeburt des Bösen auf fatale Weise entlastend. Indem man ihn dämonisiere, spreche man sich selbst von direkter oder indirekter Mitschuld an dem von ihm herbeigeführten Zivilisationsbruch frei. Grundsätzlich gilt es als problematisch, einzelne Menschen oder gar ganze Gruppen oder Staaten als in ihrem Kern böse zu betrachten. Stets gebe es äußere Umstände und innere Dispositionen, die ihre grausame und mörderische Handlungsweise bedingen. Hinter den bösen Taten versteckten sich demnach immer Determinanten, die sie zwar nicht entschuldigen, aber doch begreifbar machen, wie es zu ihnen kommt.

Doch so berechtigt diese Einwände im Einzelnen sein mögen – konfrontiert mit der äußersten Unmenschlichkeit, stößt der Versuch, diese in rational nachvollziehbaren Kategorien zu fassen, an seine Grenzen. Je intensiver etwa die Forschung den Holocaust bis ins kleinste Detail beleuchtet, umso mehr entzieht er sich dem Fassungsvermögen des Verstands. Mit präzisestem Wissen über die Planung und Durchführung der Judenvernichtung ausgestattet, steht man doch nicht weniger verstört und ratlos vor der Kombination aus eiskalter Systematik, bodenloser Niedertracht und entfesseltem Sadismus, von der die NS-Mordpraxis gekennzeichnet ist. Auch wenn der Holocaust bis auf Weiteres ein singuläres Verbrechen bleibt – der Vernichtungswille, der seine Planer und Vollstrecker antrieb, kann sich immer wieder in anderen Formen Bahn brechen, die dem Ausmaß der NS-Verbrechen nahekommen.

Ein säkulares Verständnis des Bösen

Die rationale Erkenntnis versagt vor einer solchen Dimension des Grauens. Gesteht man dies nicht ein und scheut man sich, diese kognitive Leerstelle zu benennen, hinterlässt das nicht nur eine moralische, sondern auch eine intellektuelle Lücke. Doch kann der Begriff des Bösen, der religiösen Denkwelten anzugehören und daher eine vormoderne und voraufklärerische Kategorie zu sein scheint, diese Lücke füllen? Wie soll man die Existenz des Bösen als eine jenseits sozialer, ökonomischer und gesellschaftlicher Faktoren existierende Kraft begründen, wenn nicht unter Berufung auf Gott oder eine andere metaphysische Instanz?

Ein säkulares Verständnis des Bösen, das nicht aus metaphysischen oder ideologischen Setzungen, sondern aus der Erfahrung mit ihm abgeleitet ist, hat der 2015 verstorbene französische Philosoph André Glucksmann zu definieren versucht: „Man kann sich eine Idee des Bösen bilden, weil das Böse Realität ist“, formulierte er in einem Interview lakonisch. Das Böse sei keine theologische, sondern „eine menschliche Kategorie, eine medizinische Kategorie, wenn Sie so wollen: Jeder weiß, was Krankheit ist, aber keiner kann definieren, was perfekte Gesundheit ist.“ In anderen Worten: Wir können nicht wissen, was das absolute Gute ist, wohl aber, was das absolute Böse ist. Wir wissen es, wenn es sein mörderisches Gesicht zeigt.

Anders als etwa der große polnische Freiheitsphilosoph Leszek Kołakowski sah Glucksmann die Anfälligkeit der modernen Zivilisation für den Einbruch der äußersten Unmenschlichkeit nicht in ihrer Abkehr von religiöser Tradition und Transzendenz, nicht also im Verlust metaphysischer Anbindung an die Idee des Guten begründet, sondern in ihrer zunehmenden Weigerung, an die Existenz des Bösen zu glauben. Eine Zivilisation, argumentierte Glucksmann, gründe sich nicht auf das Streben nach dem besten Gesellschaftszustand, sondern auf den gemeinsamen Willen zur Ausgrenzung des Bösen. Lässt dieser Wille nach, weil das Böse relativiert wird, bahnt es sich seinen Weg.

Dagegen setzte Glucksmann das, was er die „Ethik des äußersten Notfalls“ nannte. Nicht an erträumten Idealzuständen sollten sich die moralischen Ansprüche orientieren, aus denen wir unser Handeln ableiten, sondern an der Aufgabe, die jederzeit drohende äußerste Unmenschlichkeit abzuwenden. In seinem Buch „Die cartesianische Revolution“ (1989) plädierte er für einen „negativ formulierten Humanismus“, der „nicht die Scherben des Kosmos in vergeblicher Mühe zusammensetzen“ will, sondern sich damit abfindet, dass die Kluft zwischen uns und dem, was wir uns unter der Welt vorstellen, nicht zu schließen ist.

Das Böse äußert sich Glucksmann zufolge im Hass als einer Kraft, die sich aus sich selbst speist und mehr beinhaltet als nur Feindschaft. Das Objekt des Hasses sei nicht einfach der andere, sondern „ein anderes Selbst, also ein anderer, der einen selbst in Frage stellt“. Die Feindschaft wolle den anderen auf einen niederrangigen Platz verweisen, der Hass dagegen ziele auf seine Auslöschung. Dies mache auch den Unterschied zwischen „klassischen“ Kriegen und einem Vernichtungskrieg aus.

Das Böse wird in der Welt bleiben

Bei der Erkenntnis der Realität des Bösen muss man sich jedoch vor der Illusion hüten, es lasse sich ein für allemal aus der Welt schaffen. Wer es mit Stumpf und Stiel ausrotten will, läuft Gefahr, sich mit ihm zu infizieren und sich ihm anzugleichen wie Kapitän Ahab in Herman Melvilles Roman „Moby Dick“. Man kann das Böse nur erkennen und ihm widerstehen, wenn man sich bewusst ist, dass es auch in einem selbst lauert und zum Ausbruch kommen kann, wenn die Bekämpfung seiner vermeintlich nur äußerlichen Erscheinungsformen obsessiv wird.

Zwar lehrt auch das Christentum mit seiner Vorstellung von der Erbsünde, dass die Menschen in ständiger Versuchung durch das Böse existieren müssen. Doch verspricht es die Erlösung von ihm in einer anderen, besseren Welt – und für das Ende aller Tage das Reich Gottes auf Erden. Wir können dem Bösen demnach nur widerstehen, wenn wir fest an die letztliche Erlösung von ihm glauben. In christlicher Lesart ist das Böse eine Abspaltung vom Guten. Luzifer ist der gefallene Engel, der nun als Gegenspieler Gottes, als Antipode zum göttlichen Guten auftritt – aber doch letztlich nur, um dessen Schöpfungswerk zu affirmieren.

In die aufklärerische Dialektik Goethes übersetzt hieß dies, das Böse sei „ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft“.

Während das Christentum als Antwort auf das Böse auf das Jenseits verweist, versprach der Marxismus, es aus der Welt zu schaffen, indem er die materiellen Grundlagen beseitigt, auf denen es gedeihe. Die Psychoanalyse suggerierte, das Böse sei grundsätzlich therapierbar – was allerdings nicht ganz der Sichtweise ihres Erfinders entspricht. Sigmund Freud spekulierte unter dem Eindruck des Aufstiegs des Totalitarismus über die Existenz eines Todestriebs, unter dessen Einfluss Menschen danach strebten, ihrem „Unbehagen in der Kultur“ durch Zerstörung und Selbstzerstörung zu entfliehen. Tatsächlich darf nicht übersehen werden, dass Böses zu tun auch Lust bereitet, und dass, wer erst einmal begonnen hat, es zu tun, die Dosis womöglich immer weiter steigern muss.

Das Böse verschwindet nicht dadurch, dass man versucht, es durch politische, soziale oder psychologische Kriterien zu filtern und auf diese Weise wegzuerklären. So wenig es vollständig eliminiert werden kann, so dringend muss es jedoch permanent in Schach gehalten werden. Lässt die Aufmerksamkeit auf sein destruktives ­Wirken nach, wie es in der Euphoriephase der Demokratien nach dem Ende des Kalten Krieges der Fall war, findet es Wege, sich auf verheerende Weise bemerkbar zu machen – zuletzt in Gestalt des islamistischen Terrors und von Horrorregimen wie denen der Taliban und des Islamischen Staates sowie jüngst im Vernichtungsfuror des ­Putinismus.

In einer pluralistischen Gesellschaft, die keine weltanschaulichen Vorgaben mehr verordnen kann und darf, lautet die Herausforderung, die Präsenz des Bösen auch ohne die Absicherung durch Glauben oder Ideologie erkennen und eindämmen zu können. Doch gilt es auch festzuhalten, dass das Auftreten des absolut Bösen eine exzessive Ausnahme ist.

Nicht alles Schlimme ist auch böse

Das Etikett des Bösen darf nicht inflationär verramscht werden, indem man es auf alles Schlimme klebt, das in der Welt geschieht. Ungewollt hat Hannah Arendt mit ihrer These von der „Banalität des Bösen“, die sie 1963 in ihrem Prozessbericht „Eichmann in Jerusalem“ formulierte,  zu einer solchen Nivellierung beigetragen. Bald nach dem Erscheinen ihres Buches stellte sie zwar richtig, sie habe keineswegs sagen wollen, dass in „jedem von uns ein Eichmann“ stecke. Sie habe mit ihrer Formel vielmehr eine radikale Form der „Dummheit“ gemeint, die unfähig sei, in menschlich verallgemeinerbaren moralischen Kategorien zu denken. Doch sie konnte nicht verhindern, dass sich die Vorstellung, das Böse sei „banal“ und somit eigentlich etwas Alltägliches, im breiteren Bewusstsein festsetzte. Wenn aber überall kleine Eichmanns am Werk sein sollen, wird das absolut Böse, für das der Hauptorganisator des NS-Judenmords stand, in seiner monströsen Außergewöhnlichkeit irgendwann unsichtbar. Dieses absolute Böse bedeutet nicht weniger als die Aufkündigung jeglichen Grundkonsenes darüber, was das Menschsein ausmacht. Es trägt jedoch ein weiteres wesentliches Merkmal: seine Fähigkeit, sich zu verstellen, zu täuschen und existenzielle Verwirrung zu stiften.

Der Regisseur Martin Scorsese hat dies in seinem Film „Die letzte Versuchung Christi“ (1988) thematisiert. Dem ans Kreuz geschlagenen Jesus erscheint in Gestalt eines jungen Mädchens ein Engel, der angeblich von Gottvater gesandt wurde, um ihm den Opfertod zu ersparen. Jesus glaubt dieser Botschaft, kann vom Kreuz steigen und in ein langes, erfülltes Leben in privater Abgeschiedenheit aufbrechen. Erst auf dem Totenbett erkennt er, dass der Engel in Wahrheit der verkleidete Satan ist, entscheidet sich für seine Opferung und kehrt zurück ans Kreuz – sein neues, friedliches Leben bleibt am Ende nur eine Vision.

"What’s puzzling you, is the nature of my game“ – so stellt sich der Leibhaftige im Rolling-Stones-Song „Sympathy for the devil“ vor. Putin hat sich viele Jahre lang als Virtuose dieser Verstellung und der Fähigkeit erwiesen, die Welt in Verblüffung zu versetzen, um die daraus resultierende Konfusion zynisch auszunutzen. 2001 spendeten ihm die Abgeordneten des Deutschen Bundestags Ovationen im Stehen, als er verkündete, der Kalte Krieg sei vorbei und es beginne eine Ära friedlicher Kooperation. Zur gleichen Zeit aber ließ er seine Soldateska in Tschetsche­nien unvorstellbare Grausamkeiten an der Zivilbevölkerung verüben, die bereits vorwegnahmen, was die russische Armee heute in der Ukraine anrichtet. Wie zunächst bei Scorseses’ Jesus aber war der Wunsch der westlichen Öffentlichkeit, in dem russischen Führer einen Sendboten des Guten zu erkennen, so übermächtig, dass man seine dunkle Seite ausblendete.

Das bereitete Putin das Feld für die Anwendung seines stärksten strategischen Instruments: das der Überraschung und Überrumpelung. Kaum ein westlicher Experte hielt es für möglich, dass der Kreml die Krim annektieren und massiv militärisch in Syrien intervenieren würde. Kaum jemand wollte lange Zeit glauben, dass er unliebsame Gegner nicht nur im Inland, sondern auch im Ausland ermorden lassen würde. So bezweifelten große Teile der westlichen Öffentlichkeit, dass die Giftmordanschläge auf Skripal und Nawalny oder der Mord an einem tschetschenischen Dissidenten in einem Park mitten in Berlin tatsächlich direkt vom Kreml angeordnet worden sein könnten.

Die Zerstörung von Normen und Werten

Denn den Skeptikern leuchtete nicht ein, welchen praktischen Nutzen solche Aktionen für die russische Führung haben könnten, riskierte sie damit doch erhebliche internationale Verwicklungen. Sie begriffen nicht, dass es dabei nicht darum ging, einer uns vertrauten Rationalität zu folgen, sondern darum, die Allmacht und Allgegenwart des Verbrechens zu demonstrieren. So sollen die westlichen Gesellschaften an dessen „Normalität“  gewöhnt und ihre moralische Widerstandskraft zermürbt werden. Auf lange Sicht sollen so alle Werte und Normen zerstört werden, die der grenzenlosen Legitimierung des Verbrechens im Wege stehen.

Man ließ all das zu, weil man sich nicht vorstellen konnte oder wollte, dass Putin derartig radikal alle Grenzen zivilisatorischer Übereinkunft sprengen würde, wie er es jetzt endgültig für alle offensichtlich getan hat. Allen Irritationen über seine zunehmend aggressive Politik zum Trotz wollte man in ihm weiterhin den „man of wealth and taste“ sehen, als den sich der Teufel im Rolling-Stones-Song ausgibt. Dabei hätte man nur hinhören und das ernst nehmen müssen, was der Kreml und seine Gefolgsleute verlauten ließen. Die Unfähigkeit, das Böse beim Wort zu nehmen, ermutigt es und macht es stark.

Erkennt man das Böse aber als eine Realität und damit als eine analytische Kategorie zur Einschätzung mörderischer Regime an, hat das weitreichende Konsequenzen. Es heißt dann Abschied zu nehmen von der Vorstellung, hinter der verbrecherischen Handlungsweise solcher Akteure verberge sich irgendein anderes Motiv als ihre Bösartigkeit selbst. Anders gesagt: Diese Regime tun nicht das Böse, weil irgendwelche ihrer geopolitischen Forderungen nicht erfüllt werden, weil sie sich „eingekreist“ fühlen, weil sie dadurch ökonomische Probleme zu lösen oder von ihnen abzulenken versuchen oder welche Erklärungsmuster für ein derartiges Agieren sonst noch im Umlauf sind. Sie tun vielmehr das Böse, weil dies ihrem innersten Wesen entspricht.

Daraus folgt, dass mit solchen Regimen keine dauerhaften, verlässlichen Verträge geschlossen werden können. Mit Mächten, die keine grundlegenden Regeln nicht nur des internationalen Rechts, sondern des zivilisatorischen Zusammenlebens überhaupt akzeptieren, ist kein tragfähiger „Kompromiss“ oder „Interessensausgleich“ möglich. Das heißt nicht, dass Demokratien keine temporären Abkommen mit ihnen treffen könnten, sofern die Situation dies erzwingt. Doch darf dies nur aus einer Position der Stärke heraus geschehen – und mit einer klaren Vorstellung davon, wie man zu reagieren hat, wenn die andere Seite eine solche Vereinbarung erwartungsgemäß bricht.

Man muss auf das Böse vorbereitet sein. Nur so lässt es sich abwenden.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar/Februar 2023, S. 102-107

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Dr. Richard Herzinger arbeitet als Publizist in Berlin. Seine Website „hold these truths“ finden Sie unter www.herzinger.org.

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