Essay

01. Mai 2022

Wider die Begünstigung 
des Putinismus

Warum es in der Ukraine um die Verteidigung elementarer zivilisatorischer Werte geht, die deutsche Russland-Politik an Komplizenschaft mit dem Aggressor grenzte, und warum Diplomatie und Politik nicht dasselbe sind: eine Abrechnung.

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Bild: Steinmeier und Lawrow in vertrautem Gespräch
Als Außenminister hatte der heutige Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, hier im Gespräch mit Russlands Außenminister Sergei
Lawrow, 2016 mit Blick auf die Aufstockung der NATO-Präsenz im Osten noch vor „Säbelrasseln“ und „Kriegsgeheul“ gewarnt.
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Mit dem russischen Vernichtungskrieg gegen die Ukraine sind vermeintlich in Stein gemeißelte Dogmen der deutschen Außenpolitik jäh zerstoben. Was viele Jahre lang als kategorisch ausgeschlossen galt, wurde nun buchstäblich über Nacht möglich: Waffenlieferungen in ein „Krisengebiet“ ebenso wie die Verpflichtung auf das 2-Prozent-Ziel der NATO. Das Gas­pipeline-Projekt Nord Stream 2, an dem die deutsche Politik gegen heftigen Widerstand aus den USA und Europa bis zuletzt mit sturer Beharrlichkeit festgehalten hatte, wurde abrupt beerdigt.



Begleitet wurde diese Kehrtwende von einer Rhetorik der Superlative: Der Tag des russischen Einmarschs markiere eine ­Zeitenwende, hörte man von führenden deutschen Politikerinnen und Politikern aller demokratischen Parteien, und man sei am 24. Februar 2022 in „einer ganz anderen Welt aufgewacht“. Mit dieser Terminologie verschleierten die politischen Verantwortlichen jedoch zugleich, dass diese „andere Welt“, in der ein Angriffskrieg gegen einen friedlichen demokratischen Staat mitten in Europa geführt wird, bereits seit mindestens acht Jahren, seit der Annexion der Krim und der Besetzung des Donbass durch Russland, existiert – und dass sich die deutsche Politik geweigert hatte, daraus die zwingenden Konsequenzen zu ziehen.



Tatsächlich liegt die bisherige, auf permanenten Dialog, diplomatischen Kompromiss und Annäherung durch wirtschaftliche Zusammenarbeit angelegte deutsche Russland-Politik nun in Trümmern – und mit ihr die jahrzehntelang befolgte außenpolitische Doktrin einer Politik der Zurückhaltung in weltpolitischen Konflikten. Zwar hatte die Ampelregierung in ihrem Koalitionsvertrag eine offensi­vere, werteorientierte Rolle Deutschlands in der Weltpolitik angekündigt. Doch standen dabei Projekte wie der Kampf gegen den Klimawandel im Vordergrund, nicht aber die Stärkung der Abschreckungskräfte der westlichen Demokratien gegen ihre autokratischen Feinde. Im Gegenteil, die neue Regierung erklärte das deutsche Engagement für weltweite Abrüstung zu einer ihrer obersten Prioritäten. Die Russland und Osteuropa betreffenden Passagen im Koalitionsvertrag klingen dagegen unentschlossen und wie aus den jeweiligen Vorlieben der beteiligten Parteien zusammengewürfelt. Neben einem allgemeinen Bekenntnis zur Unterstützung der Ukraine „bei der Wiederherstellung voller territorialer Integrität und Souveränität“ sowie von Demokratiebewegungen wie in Belarus steht die Feststellung, die deutsch-russischen Beziehungen seien „tief und vielfältig“. Russland sei „zudem ein wichtiger internationaler Akteur“, und man wisse „um die Bedeutung von sub­stanziellen und stabilen Beziehungen“, die man auch weiterhin anstrebe. Die von den Grünen erhobene Forderung, den Dialog mit Russland und China durch Härte zu unterfüttern, hatte in das Papier keinen Eingang gefunden.



Angesichts der schon damals offenkundigen Ambitionen des Kremls klingt diese Stelle im Koalitionsvertrag geradezu unbedarft. Ein angemessenes politisches und geistiges Rüstzeug für den bald folgenden kriegerischen Ernstfall lieferten sie in keiner Weise. Dementsprechend muss man skeptisch sein, wie fundiert und dauerhaft der vermeintliche radikale Kurswechsel der deutschen Außenpolitik tatsächlich ist. Zu Waffenlieferungen an die Ukraine und harten Sanktionen wie dem Ausschluss Russlands aus dem internationalen Zahlungssystem SWIFT erklärte sich Berlin mehr auf massiven Druck der westlichen Partner bereit als aus eigener tieferer Einsicht. Seitdem hat es den Eindruck erweckt, es unternehme gegen Putins Aggression und seine die ukrainische Zivilbevölkerung massakrierende Solda­teska gerade so viel wie unbedingt nötig, um sich im transatlantischen Bündnis nicht völlig zu isolieren.



Die ohnehin eher spärlichen Waffenlieferungen erfolgten nur zögerlich oder kamen nicht an. Dabei wird die fortgesetzte Weigerung Berlins, der Ukraine dringend benötigte Panzer und anderes schweres Kriegsgerät zu Verfügung zu stellen, von der Angst getrieben, in diesem Fall von der russischen Seite als „Kriegspartei“ betrachtet zu werden. Als ob Putin einen realen Anlass dafür bräuchte, Deutschland als „Kriegspartei“ ins Visier zu nehmen, sollte ihm dies in den Sinn kommen!

 

Auch zu einem Öl- und Gas­embargo gegen Russland konnte sich Berlin weiterhin nicht durchringen – um sich damit prompt neuen Erpressungsmanövern Putins auszusetzen, der seine Lieferungen schließlich in Rubel bezahlt haben wollte. Im europäischen und transatlantischen Verbund bremste Berlin weitergehende Sanktionen wie die Einstellung des Handels mit Russland aus, und in einem Telefonat im März „drängte“ Bundeskanzler Olaf Scholz laut seinem Pressesprecher den Kriegsverbrecher im Kreml zu „Fortschritten bei der Suche nach einer diplomatischen Lösung des Konflikts“ – und nicht etwa zum sofortigen Rückzug des Aggressors von ukrainischem Territorium.



In solchen Formulierungen klang bereits wieder die alte, gewohnte Leisetreterei gegenüber dem Aggressor an. Von einem tiefgreifenden Bewusstseinswandel bezüglich des Umgangs mit aggressiven autokratischen Regimen und der führenden Rolle, die Deutschland als die stärkste europäische Nation bei der weltweiten Verteidigung der Demokratie einnehmen müsste, ist diese Haltung jedenfalls weit entfernt. Dies umso mehr, als eine ernsthafte selbstkritische Auseinandersetzung mit den Ursachen der jahrelangen katastrophalen Fehleinschätzung des Putin-Regimes in der deutschen Politik und Öffentlichkeit bisher kaum stattfindet.



Selbst Politikerinnen und Politiker, die sich durch besondere, an Komplizenschaft grenzende Kremlnähe hervorgetan haben, konnten auch nach dem russischen Überfall unbehelligt in ihren Ämtern bleiben und weitermachen, ohne für ihre verheerende politische Lobbyarbeit für den Kreml zur Rechenschaft gezogen zu werden. Zu Recht ist immerhin Gerhard Schröder wegen des hartnäckigen Festhaltens an seinen hochdotierten Posten in kremlgesteuerten Energiekonzernen einer weitgehenden öffentlichen Ächtung anheimgefallen. Doch die Durchdringung der deutschen Eliten mit materieller, politischer und moralischer Korrumpierung durch den Putinismus reicht weit über den Extremfall des Ex-Kanzlers hinaus.



Durch die Konzentration der öffentlichen Aufmerksamkeit auf Schröder – und jüngst auch auf die Rolle Frank-Walter Steinmeiers – rückt jedoch in den Hintergrund, dass es in allen politischen Lagern Führungsfiguren gibt, die jahrelang als Schallverstärker der Kremlpropaganda und eifrige wirtschaftliche und politische Lobbyisten des Kremls gewirkt haben, ohne dass dies in der jeweils eigenen Partei ernsthaft beanstandet worden wäre. Manuela Schwesig, die SPD-Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern, hat sich seit Jahren für die Lockerung der Sanktionen gegen Moskau stark gemacht, um der „gefährlichen Entfremdung von Russland“ entgegenzuwirken. Anfang 2021 rief sie eine Stiftung ins Leben, die angeblich dem Schutz von Umwelt und Klima gewidmet war, in Wahrheit aber der Umgehung von drohenden US-Sanktionen gegen Nord Stream 2 dienen sollte – fast vollständig finanziert von der Nord Steam 2 AG, einer Tochter des russischen Staatskonzerns Gazprom. Schwesig bestritt vehement, dass dies der eigentliche Zweck dieser dubiosen Gründung sei. Doch kaum hatten die russischen Truppen die ukrainische Grenze von allen Seiten überschritten, ließ die Ministerpräsidentin die „Stiftung“ eilends auflösen. Mit Putin und seiner Aggressionspolitik will sie nun nie etwas zu tun gehabt haben. Zur Bekräftigung bekundete sie flugs per Twitter ihre „Solidarität mit der Ukraine“. Der nun wachsenden Kritik an der jahrelang an den Tag gelegten Dienstfertigkeit ihrer Landesregierung gegenüber Putins Gasimperium begegnet Schwesig mit beharrlichem Zurückweisen und Vertuschen.



Dem sächsischen CDU-Ministerpräsidenten Michael Kretschmer fiel es schwerer, seine Kreml­nähe nach dem 24. Februar Hals über Kopf zu verleugnen. Zwar distanzierte auch er sich von Putin, der „uns alle getäuscht“ habe und mit dem er sich unter den gegebenen Verhältnissen nicht mehr an einen Tisch setzen würde. Doch nur wenige Tage nach dem Einmarsch betonte er bereits wieder: „Ein vernünftiges Verhältnis zu Russland ist wichtig“, denn: „Wir werden nur in Frieden leben, wenn wir mit Russland im Frieden leben.“  Noch im April 2021 war Kretschmer nach Moskau gereist und zeigte sich von der Gesprächsbereitschaft der russischen Seite beeindruckt, obwohl ihm Putin nur eine Telefonaudienz gewährt hatte. Wie groß seine Bereitschaft war, sich von dem Kremlherrscher täuschen zu lassen, demonstrierte der Ministerpräsident, als er ihn bei dieser Gelegenheit zu einem Gegenbesuch nach Dresden einlud. „Die Menschen in Dresden würden sich ­freuen“, hatte er ihm zugerufen. Bei Kretschmers sentimentaler wie euphorischer Reminiszenz an die besondere Beziehung Putins zu Dresden, wo dieser in den 1980er Jahren gelebt hatte, spielte offenbar keine Rolle, dass der Aufenthalt des heutigen Autokraten in der sächsischen Metropole seiner Tätigkeit als KGB-Offizier geschuldet war.



Der stellvertretende FDP-Vorsitzende und Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki hatte sich von Anfang an gegen Sanktionen wegen der Krim-Annexion und der Donbass-Besetzung gestellt. In einem Doppelinterview mit dem AfD-Anführer Alexander Gauland 2018 räumte er im Gegensatz zu diesem immerhin ein, die Annexion der Krim verstoße gegen das Völkerrecht. Doch forderte er, man müsse diese Frage erst einmal „beiseitelassen“, um stattdessen mit dem Aggressor über „gemeinsame Interessen“ zu reden. „Eine imperiale Macht lässt sich doch nicht durch Sanktionen daran hindern, wenn sie Gebietsansprüche hat“, bekundete ­Kubicki sein implizites Einverständnis mit dem Recht des Stärkeren.



Bereits 2014 hatte Kubicki die EU-Sanktionen gegen Russland mit der verschwörungstheoretischen Begründung abgelehnt, sie dienten den USA als Instrument für einen „Regime Change“ in Moskau – eine Absicht, die ihrerseits „völkerrechtswidrig“ sei. Zwar hat die FDP Kubickis Position nicht übernommen und die Sanktionen unterstützt. Doch obwohl es in ihren Reihen auch Kräfte gibt, die eine deutlich härtere Gangart gegenüber dem Kreml befürworteten, hat sich bislang in der Partei niemand gefunden, der offen die Frage aufwerfen würde, ob Kubickis antiamerikanisch grundierte Apologie einer mörderischen Diktatur mit den Grundsätzen einer liberalen Partei vereinbar ist. Zudem hatte auch Parteichef Christian Lindner 2017 eine ähnliche Position eingenommen wie sein Vize. „Um ein Tabu auszusprechen: Ich befürchte, dass man die Krim zunächst als dauerhaftes Provisorium ansehen muss“, sagte er damals. Die Frage der von Russland annektierten ukrainischen Halbinsel müsse „eingekapselt“ werden, um mit dem Kreml an anderer Stelle Fortschritte zu erzielen. Lindner hat diese Forderung zwar nicht aufrechterhalten. Doch sprach sich die FDP-Parteispitze in den vergangenen Jahren wiederholt dafür aus, Russland ohne Vorleistung wieder in die G7 aufzunehmen.



Als Standardausrede für ihre an Komplizenschaft grenzende Kremlanbiederung dient deutschen Politikerinnen und Politikern das Argument, obwohl sich dies im Nachhinein als vergeblich herausgestellt habe, sei es doch richtig gewesen, um den Erhalt des Friedens willen auch unter schwierigen Bedingungen den Dialog mit Russland aufrechtzuerhalten. Diese Volte verfängt durchaus in einem Land, in dem die Angst vor Putin noch immer die Empörung über seine Verbrechen überlagert. Das ist ganz im Sinne des Aggressors, denn die Einschüchterung der westlichen Öffentlichkeit durch das Ausstoßen maßloser Drohungen ist ein zentrales Element der Kriegsstrategie des Kremls. Diese Angst und der illusionäre Wunsch, man könne eine zu jeglicher Untat entschlossene kriegerische Macht durch Zurückhaltung von sich fernhalten, produzieren einen abstrakten Friedenswillen, der „den Krieg“ als Übeltäter betrachtet und von seinem konkreten Verursacher abstrahiert.



So hoch zu schätzen und berührend die menschliche Solidarität und humanitäre Hilfsbereitschaft auch ist, die große Teile der deutschen Gesellschaft den Ukrainerinnen und Ukrainern entgegenbringen – das Verständnis dafür, worum es in der Ukraine eigentlich geht, ist hierzulande weit weniger entwickelt: nämlich um die Verteidigung elementarer Werte der zivilisierten Menschheit, die nicht für einen Frieden um jeden Preis aufgegeben werden dürfen. Dringt dies nicht bis ins deutsche Bewusstsein durch, könnte bald der Rückfall der deutschen Außenpolitik in eine ab­strakte Friedens- und Stabilitätsrhetorik, in die Fetischisierung des Dialogs und der diplomatischen Konfliktlösung folgen – und die Lehren aus dem Versagen der deutschen Politik angesichts der globalen Bedrohung durch den russischen Autoritarismus würden verloren gehen.



Dabei hat die deutsche Außenpolitik gerade erst vor einem dreiviertel Jahr ein Fiasko erlebt, als sie verkannte, dass ­Afghanistan nach dem überstürzten Abzug der westlichen Truppen in die Hände der Taliban fallen würde, und sie keinerlei Vorkehrungen für die Evakuierung der afghanischen Mitarbeiter der Bundeswehr traf – vom Schutz der dortigen demokratischen Kräfte insgesamt ganz abgesehen. Damals wurde von den politischen Verantwortlichen eine gründliche Ursachenforschung für die fatale Fehleinschätzung der Kräftekonstellation vor Ort versprochen. Es wurden überdies eine schonungslose Aufarbeitung der Fehler beim Nationbuilding am Hindukusch sowie eine grundlegende strategische Neubestimmung der Kriterien und Ziele militärischer Auslands­einsätze der Bundeswehr in Aussicht gestellt. Doch nichts davon wurde eingelöst. Stattdessen ist das Afghanistan-Desaster in der deutschen ­Öffentlichkeit weitgehend in Vergessenheit geraten.



Das aber darf sich im Fall von Russlands genozidalem Ukraine-Krieg auf keinen Fall wiederholen. Denn niemand sollte glauben, dass sich Putin mit der von ihm geplanten Auslöschung der ukrainischen Nation begnügen würde. Der Überfall auf das Nachbarland stellt vielmehr bereits den Auftakt seines anvisierten großen Krieges gegen den Westen dar. Dem wehrhaft entgegenzutreten, beginnt mit dem Eingeständnis, dass die chronische Nachgiebigkeit gegenüber Putins Aggressionspolitik dessen Angriffspläne nicht nur nicht verhindert, sondern sogar begünstigt und befeuert hat. Die deutsche Politik war nicht einfach nur naiv oder Irrtümern erlegen. Sie hat wider längst verfügbaren besseren Wissens geradezu manisch an der politischen Lebenslüge festgehalten, Putins Russland sei trotz all seiner horrenden Verbrechen ein potenzieller Sicherheitspartner, der sich nur auf temporären Abwegen befinde und irgendwann zumindest partiell wieder in eine konstruktive Kooperation eingebunden werden könne.



Dabei versteiften sich die politischen Verantwortlichen in der Debatte um Nord Stream 2 auf die Formel, dies sei ein rein privatwirtschaftliches Projekt. Doch im auffälligen Widerspruch dazu bemühten sie zu dessen Rechtfertigung immer wieder auch geostrategische und sogar geschichtspolitische Argumente. So meinte Bundeskanzlerin Angela Merkel bei der Münchner Sicherheitskonferenz 2019, wenn sogar die Sowjetunion im Kalten Krieg zuverlässig Gas geliefert habe, sei nicht einzusehen, „warum die Zeiten heute so viel schlechter sein sollen“, dass man nicht sagen könne: „Russland bleibt ein Partner.“ Merkel warnte zudem davor, Russland durch die Reduzierung der Erdgaslieferungen nach Europa in die Abhängigkeit von China zu treiben, was nicht im europäischen Interesse liege.



Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier erklärte im Februar 2021 in einem Interview, „nach der nachhaltigen Verschlechterung der Beziehungen in den vergangenen Jahren“ seien „die Energiebeziehungen fast die letzte Brücke zwischen Russland und Europa“. Für die Deutschen gelte es dabei zusätzlich zu bedenken, dass „mehr als 20 Millionen Menschen der damaligen Sowjetunion“ dem NS-Vernichtungskrieg zum Opfer gefallen sind. „Das rechtfertigt kein Fehlverhalten in der russischen Politik heute“, fuhr der Bundespräsident fort, „aber das größere Bild dürfen wir nicht aus dem Blick verlieren.“



Die Sowjetunion bestand aber eben nicht nur aus Russland, sondern auch aus Nationen wie der Ukraine und Be­larus, die am meisten unter den Gräueln der NS-Besatzung zu leiden hatten. Dass Steinmeier die deutsche historische Schuld als Argument für die Realisierung eines gemeinsamen wirtschaftlichen Projekts mit einem Regime anführte, das heute neues Unheil über diese Nationen bringt, markierte einen Tiefpunkt in der Geschichte deutscher „Vergangenheitsbewältigung“. Nicht vergessen werden sollte auch, dass Steinmeier 2016, damals noch als Außenminister, anlässlich der Aufstockung der NATO-Präsenz in Osteuropa vor „Säbelrasseln und Kriegsgeheul“ aufseiten des Westens gewarnt hatte. Statt nur punktuelle Irrtümer seiner Russlandpolitik einzuräumen, könnte der Bundespräsident ein Zeichen für einen Neuanfang der deutschen Außenpolitik setzen, würde er sein politisches und moralisches Scheitern in Gänze eingestehen und zurücktreten.



Hinter der Nachsicht Berlins mit Putins Russlands stand nicht nur individuelle Blindheit, sie hatte System. Ihr lag ein verborgenes strategisches Kalkül zugrunde: Moskau sollte nicht zu sehr brüskiert werden, um es als potenzielle Säule einer künftigen europäischen Sicherheitsordnung im Spiel zu halten, die Europa mehr Unabhängigkeit von den USA sichern sollte. Mit dieser Ambivalenz hat die deutsche Politik in der gesamten Gesellschaft einen Werterelativismus befördert, der sie unfähig werden ließ, einen Feind der freien Welt wie Wladimir Putin als solchen zu erkennen und offen zu bezeichnen. Erst wenn diese latente Schaukelpolitik zwischen dem Bekenntnis zum demokratischen Westen und dem Arrangement mit einer aggressiven, expansionistischen Autokratie deutlich als verhängnisvoller Irrweg gekennzeichnet und ausdrücklich revidiert worden ist, kann tatsächlich von einer Zeitenwende beziehungsweise von einem grundlegenden Paradigmenwechsel in der deutschen Außenpolitik die Rede sein.



Dazu bedürfte es jedoch einer Infragestellung grundlegender Voraussetzungen, von denen sie bisher ausgegangen ist. Dies bedeutet nicht zuletzt den Bruch mit einem sie bisher bestimmenden Prinzip, das auf der Verwechslung von Politik mit Diplomatie beruht. Ihm zufolge müsse man sich, um anderen gegenüber politische Ziele durchzusetzen, zuvor in die Interessenslage des Gegenüber hineindenken und sie bereits bei der Formulierung eigener Forderungen berücksichtigen. Unter befreundeten und verbündeten Staaten ist dies eine durchaus plausible Herangehensweise. Insbesondere innerhalb der EU hat sie sich bewährt. Gefährlich wird sie jedoch, wenn sie auf antidemokratische Mächte übertragen wird. Der Glaube, selbst hinter dem brutalsten Vorgehen antiwestlicher Regime würden sich noch legitime Interessen verbergen, die in einen Ausgleich mit den eigenen gebracht werden können, hat zur Verleugnung der Tatsache geführt, dass es Herrschaftssysteme wie den Putinismus gibt, die anderen Maßstäben folgen und keinem anderen Argument zugänglich sind als dem der Stärke.



So nahm man auch noch die wüstesten Drohungen Putins und seine mit immer brutalerer Offenheit formulierten hegemonistischen Ziele nicht für bare Münze und vermutete dahinter so etwas wie einen wutverzerrten Schrei nach Liebe. Putin gebärde sich letztlich nur so aggressiv, so lautete eine auch in den deutschen Medien weit verbreitete Denkfigur, weil er vom Westen, und insbesondere den USA, als ein Gegenüber „auf Augenhöhe“ anerkannt werden wolle. Putin erschien in diesem Bild als so etwas wie ein verhaltensauffälliger Halbstarker, der durch eine Art geduldige politische Aggressionstherapie wieder auf den Boden gemeinsamer Rationalität zurückgeführt werden könne.



Ausbaden muss die Folgen dieser Realitätsverkennung jetzt die Ukraine. Ihre beeindruckende Widerstandskraft lehrt die Deutschen jedoch eine existenzielle Wahrheit: dass es einen höheren humanen Wert gibt als das bloße Überleben in trügerischem Wohlstand und vermeintlicher Sicherheit – nämlich ein Leben in Würde und Selbstbestimmung. Und sie zeigt uns, welche Energien bei Menschen freigesetzt werden können, die entschlossen sind, diesen Wert zu verteidigen, statt sich der Knute einer zutiefst bösartigen Gewaltherrschaft zu beugen.     



Dr. Richard Herzinger arbeitet als Publizist in Berlin. Seine Website heißt „hold these truths“: https://herzinger.org.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, Mai/Juni 2022, S. 100-105

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