IP

01. Sep 2005

Dschihad in Washington

Der Terrorismus als Speerspitze der Anti-Globalisierer; warum die Neocons trotzdem gewonnen haben und wie man Afghanistan erfolgreich aufbaut

„Sagen wir es offen: Es handelt sich um Verrückte, aber diese Verrückten folgen ihrer eigenen Logik.“ Die amerikanischen Nachrichtendienste beginnen, den Feind zu verstehen. Sie nehmen die Forschung zur Kenntnis und holen Versäumnisse auf. Allerdings ist der Satz, dem alle Terrorismusexperten nun zuzustimmen scheinen, schon etwas älter. Er stammt von Dostojewski. Max Rodenbeck stellt ihn seinem Beitrag „Die Wahrheit über den Dschihad“ in der New York Review of Books vom 11. August voran.

Die Erkenntnis setzt sich durch, dass dem Westen nicht verrückte Fanatiker, sondern rationale Akteure gegenüberstehen, die über ein „völlig kohärentes, in sich stimmiges Weltbild“ verfügen. Die Kategorien erinnern an neuere Forschungen zum Führungspersonal im nationalsozialistischen Sicherheitsapparat, wo von der „Binnenrationalität“ der Täter die Rede ist. Rodenbeck skizziert anhand der Analysen von Olivier Roy, Gilles Kepel oder Marc Sageman die Entwicklung des dschihadistischen Terrorismus – wobei er die Gruppen in Europa und Nahost als Einheit betrachtet. Am Anfang stand eine geopolitische Kalkula-tion: Ziel war, die Regime in Saudi-Arabien und Ägypten zu stürzen. Angriffe auf deren Unterstützer Amerika würden dem Kampf eine andere Dimension verleihen, die Terroristen würden der Weltmacht von gleich zu gleich gegenübertreten. Der Sympathien der Muslime glaubten sie sich so sicher.

Die Parallelen zu linksextremistischen Gruppen der sechziger und siebziger Jahre sind zahlreich. Selbst ideologische Engführungen zeigen sich. „Der dschihadistische Begriff einer panislamischen Ummah“, schreibt Rodenbeck unter Berufung auf Roy, „erinnert an Trotzkis Idee des Proleta-riats, einer imaginären und darum schweigenden Gemeinschaft, die einer kleinen Gruppe, die für sie zu sprechen vorgibt, Legitimität verleiht“. Die Strategie der Terroristen bedient sich einer klassischen revolutionären Idee. Sie will „die ‚bourgeoise‘ Gesellschaft zwingen, ihre Maske fallen zu lassen und so dem Proletariat – in diesem Fall der muslimischen Ummah – ihre Gefährlichkeit vor Augen zu führen“. Der Terrorismus erweist sich damit als erste Stufe eines politischen Projekts, so wie die linken Terroristen Europas den „Faschismus“ der bürgerlichen Gesellschaft entlarven wollten und von der Revolution träumten, die dann doch keiner haben wollte.

In seiner Binnenrationalität und Eigendynamik entging dem Terrorismus damals, dass sein Proletariat längst von der „Bourgeoisie“ aufgesogen worden war. „Die heutigen islamistischen Radikalen scheinen sich auf ähnliche Weise nicht bewusst zu sein, dass sie selbst ein Produkt jener Globalisierung sind, die sie zu bekämpfen behaupten.“ Sie sind eine entterritorialisierte, multikulturelle Truppe, keine Nation dominiert. Viele von ihnen stammen aus Gesellschaften, in denen sie Minderheiten sind und Erfahrungen der „Entfremdung“ gemacht haben. Einzelne Zellen werden durch langjährige Freundschaften und familiäre Bande zusammengehalten. Es könnte sein, dass „dschihadistische Gewalt eher der ‚Liebe‘ untereinander als dem Hass auf die Außenwelt entspringt“. Der Terrorismus hat „mehr mit westlichen Traditionen individueller, pessimistischer Revolten“ zu tun als mit koranischen Lehren: „Die entscheidende Innovation, die von den Radikalen in die Glaubenslehre eingebracht wurde, ist ihre Ablehnung der traditionellen Auffassung des bewaffneten Dschihad als einer kollektiven Verantwortung der Muslime. Stattdessen halten sie den Dschihad für eine individuelle Verpflichtung, die von Gott belohnt wird.“

Das ist eine radikal moderne Konzeption: Nicht mehr die Gemeinschaft der Gläubigen oder der saudische König rufen den Dschihad aus; das extremistische Individuum trifft die letzten Entscheidungen selbst. Der Kern des islamischen Radikalismus ist „die Ablehnung der Autorität“, symbolisiert im Vater. Der antiwestliche, antiautoritäre Protest entlädt sich in einer individualistischen Rekodifizierung des Islams, die allen Traditionen widerspricht. Sie gipfelt in einer Umwertung aller Werte bei Bin Laden, der Widerstand zum Wesen des Islams erklärt hat und dem Dschihad den „Status des Gottesdiensts“ verleihen will.

Rodenbeck wendet ein, die Deutungen von Roy, Kepel und anderen unterschätzten die „romantische Anziehungskraft“ islamistischer Verheißungen und die nichtwestlichen Wurzeln des Terrorismus – besonders die Tradition lokaler Rebellionen –, aber er erklärt: „In erheblichem Maße stellt der islamistische Radikalismus den Versuch dar, einen bereits bestehenden Raum des Antiimperialismus und des Protests zu islamisieren, das Ressentiment gegen die Vorherrschaft der Technologie und Märkte, die reichen Nationen. Im Augenblick ist der islamistische Radikalismus das am grellsten verpackte Produkt auf dem Markt der Heilmittel gegen die Globalisierung.“

Allerdings könnte, wie Rodenbeck und seine Gewährsleute glauben, das Kalkül der Terroristen mittelfristig ihr eigenes Ende herbeiführen. Die immer größeren Opferzahlen unter Muslimen führen zum Verlust der Sympathien. Die Exzesse des Mordens, die der Eigendynamik des Terrorismus entspringen, haben bereits die Muslimbrüder in Ägypten dazu gebracht, eine gemäßigte Politik des Ausgleichs zu suchen. Was den Terrorismus am Leben erhält, sind Rodenbeck zufolge vor allem die Fehler der Bush-Regierung. Am Ende könnte der Terrorismus gegen seinen Willen zur Demokratisierung des Nahen Ostens beitragen. Wenn die geopolitischen Fragen, die die muslimische Welt beschäftigen – vor allem Palästina – ernsthaft angegangen werden, wenn der Westen die Überlegenheit des liberalen Modells beweist, indem er auch tolerante Islamisten einbezieht, wenn schließlich sorgfältige Polizeiarbeit und die „professionelle Ansammlung von Details“ betrieben werden, dann, so Rodenbeck, sei der Sieg über den Terrorismus nur eine Frage der Zeit.

Anders sieht dies Charles Krauthammer, der sich in Commentary (Juli/August) mit einer entschlossenen Verteidigung neokonservativer Außenpolitik zu Wort meldet. Krauthammer erinnert daran, dass noch vor einem Jahr überall vom Niedergang und von der Spaltung der Neocons die Rede war. Doch die zweite Amtszeit von Präsident Bush demonstriere, wie „Neokonservatismus an der Macht“ aussehe. Sein bedeutendster Wortführer ist der Präsident selbst geworden, als er den denkwürdigen Satz aussprach: „Die Verteidigung der Freiheit verlangt den Vormarsch der Freiheit.“ Damit ist für Krauthammer der „Übergang des Neokonservatismus von einer Position des Widerspruchs … zu einer Position des Regierens vollzogen. Man könnte sagen, die neokonservative Außenpolitik ist erwachsen geworden.“ Für Krauthammer waren Bushs Wiederwahl und die Wahlen im Irak die entscheidende Voraussetzung für diesen Sieg in Washington.

Ob das neokonservative Projekt der Weltbefreiung ein Erfolg wird, bleibe ungewiss, so Krauthammer. Allerdings habe der Washingtoner Siegeszug der neokonservativen außenpolitischen Doktrin auch etwas mit deren Selbstbescheidung zu tun. Krauthammer bringt erneut seine Unterscheidung des demokratischen Realismus vom demokratischen Globalismus vor. Letzterem entspricht die Rhetorik des Präsidenten, der „auf der ganzen Welt die Tyrannei beseitigen“ will, als sei „das Ende der Zeiten“ erreicht. Krauthammer hingegen neigt dem demokratischen Realismus zu. Die Regierung habe in der Praxis längst den „realistischen“ neokonservativen Kurs eingeschlagen. Es handle sich dabei um einen „Kompromiss mit der Realität“. An Reife gewonnen habe die neokonservative Außenpolitik auch, weil einst realpolitische Akteure wie Rice, Cheney und Rumsfeld sich deren realistische Variante mittlerweile zu Eigen gemacht hätten. Damit ist „die rechte Verschwörung noch viel umfassender geworden, als sich Liberale je vorgestellt hätten“, spottet Krauthammer.

Kennzeichen des demokratischen Realismus ist seine Bereitschaft zu „deals with the devil“. „Wir können die Welt nicht über Nacht demokratisieren, und gerade wenn wir das demokratische Projekt ernst meinen, müssen wir schrittweise vorgehen. … In Ermangelung von Allmacht muss man mit dem kleineren von zwei Übeln vorlieb nehmen. Das bedeutet, auf radikal destabilisierende Aktionen dort zu verzichten, wo wir die Unterstützung gegenwärtig noch undemokratischer Regimes im Kampf gegen eine größere, existenzielle Bedrohung brauchen.“ Darum stehen auf Krauthammers Demokratisierungsliste als nächstes auch der Libanon und Syrien und nicht Ägypten, Saudi-Arabien oder Pakistan. Sanfter Druck soll Freunde zu einem langsamen Übergang zur Demokratie bewegen, härtere Mittel sollte man Feinden vorbehalten. Das sei Politik in der realen Welt. „Demokratischer Globalismus ist einfach nicht durchzuhalten.“

Wie Demokratisierung in der Praxis aussehen könnte, beschreibt Zalmay Khalilzad, bis vor kurzem amerikanischer Botschafter in Afghanistan, jetzt im Irak. Im National Interest (Sommer 2005) zieht er zehn Lehren aus seiner Erfahrung in Afghanistan. „Wie man Nation-Building betreibt“ ist das lesenswerte Erfolgsrezept betitelt. Er beginnt bei der nötigen Kenntnis und Berücksichtigung von Geschichte, Kultur und Traditionen. Zweitens dürfen die USA nur als Verbündete und nicht als Besatzer oder Sieger auftreten, am besten schon während der Kämpfe, die Ausgestaltung der neuen Ordnung bleibt lokalen Führen und der Bevölkerung in Wahlen überlassen. Mit den lokalen Eliten muss drittens ein enger und regelmäßiger Kontakt gepflegt werden, eine Partnerschaft, die zu gemeinsamen Strategien und einheimischen statt amerikanischen Lösungen führt. Natürlich übt Amerikas Anwesenheit als „Garantiemacht“ im Hintergrund seine Wirkung auf Verhandlungen aus, aber Amerika muss auch mit einer gewissen Unsicherheit leben können und selbst Gruppen am politischen Prozess teilnehmen lassen, die der neuen Ordnung feindlich gegen-überstehen – solange diese nicht zur Gewalt greifen. „Dauerhafter Wandel vollzieht sich, ohne die Stabilität zu gefährden, während überhasteter Wandel schnelle Erfüllungen unserer Hoffnungen verspricht, aber das Land destabilisiert und am Ende mehr Probleme schafft als zuvor.“

Viertens plädiert Khalilzad für eine kleine, den lokalen Verhältnissen angepasste militärische Präsenz der USA, die nur in Erscheinung tritt, wo es nötig ist. Fünftens hält er es für entscheidend, die politische Elite zu stärken. „Der Erfolg hängt davon ab, ob sich eine Elite ausbildet, die in der Gesellschaft verwurzelt ist sowie den Wunsch und die Fähigkeiten hat, eine neue und bessere politische Ordnung zu errichten.“ Das sei ein mitunter riskanter Prozess, der durch Erziehungsmaßnahmen und die Einbeziehung von Remigranten erleichtert wird, aber letztlich unvorhersehbar ist. Der große Vorteil in Afghanistan sei außerdem, so Khalilzads sechster Punkt, die ständige und intensive Kommunikation mit Eliten ebenso wie mit der Bevölkerung gewesen – Khalilzad gab als gebürtiger Afghane in Landessprache unzählige Interviews und war für einheimische Medien zugänglich. Ein flexibler multilateraler Ansatz, der den UN die Schlüsselrolle bei den Hilfsmaßnahmen überlässt, ist ihm ebenso wichtig wie eine enge Kooperation zwischen militärischen und zivilen Stellen.

Ein neunter Punkt ist die notwendige Einbindung der Nachbarländer, selbst wenn diese den USA kritisch bis feindlich gegenüberstehen. Khalilzad hat seine Erfahrungen mit Pakistan und dem Iran gemacht. Er glaubt die Nachbarn überzeugen zu können, dass Stabilität auch in ihrem Interesse liegt – Annäherung durch Handel ist seine Maxime. Zuletzt bringt Khalilzad die Finanzen ins Spiel: Amerika muss ausreichende Mittel zur Verfügung stellen – und diese effektiver einsetzen. Für Afghanistan bedeutet das auch, die Maßnahmen mit den Verbündeten besser zu koordinieren. Amerikas neuer Mann in Bagdad ist vom Erfolg in Kabul überzeugt, auch wenn erst 40 Prozent der Arbeit getan sei. Afghanistan ist für ihn das bislang beste Beispiel, wie man aus einem „failed“ einen stabilen Staat baut.

Einem Nachbarn Afghanistans wendet sich Michael J. Mazarr in der New Republic vom 15. August zu. Der Professor am U.S. National War College warnt vor Militärschlägen gegen den Iran. Er glaubt, die Hardliner in der iranischen Führung bereiteten sich auf einen Endkampf vor, dessen Folgen weitaus schlimmer wären, als die meisten Beobachter annehmen. Ein Terrorkrieg gegen Israel und Amerika in aller Welt, völliges Chaos im Irak, Raketen gegen die saudische Ölproduktion, Einstellung iranischer Ölausfuhr, eine ernste Krise der Weltwirtschaft – Amerikas „chirurgische“ Luftschläge würden in diesem Szenario zwangsläufig zur Invasion des ganzen Landes und zum „Regime Change“ führen müssen, mit der Aussicht eines Guerillakriegs.

Aber Amerika hat noch Freunde in der Welt. Der Bush-Vertraute Robert Blackwill rückt im National Interest (Sommer 2005) Indien in den Mittelpunkt. Die USA und Indien teilen alle zentralen Interessen – Terrorismus, China, Energiezufuhr, Stabilität der Weltwirtschaft. Bush hat darauf reagiert. Indiens Nuklearwaffen sind kein Thema mehr, sein Streben nach dem Sicherheitsratssitz wird unterstützt, sein Anspruch auf regionale Hegemonie anerkannt. Der strategische Partner Amerikas im 21. Jahrhundert wird Indien heißen.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 9, September 2005, S. 108 - 111

Teilen

Mehr von den Autoren