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01. Jan. 2006

Verhältnismäßig unmenschlich

Klare Worte: Charles Krauthammer fordert Vorschriften für das Foltern

„Im Bereich der Politik, wo Geheimhaltung und bewusste Täuschung stets eine große Rolle gespielt haben, ist Selbstbetrug die Gefahr par excellence; der Mann, der auf seine eigenen Lügen hereinfällt, verliert jeden Kontakt nicht nur zu seinem Publikum, sondern zu der wirklichen Welt, die sich an ihm rächen wird“, schrieb Hannah Arendt 1971 über einen amerikanischen Skandal. Die Exekutive hatte im Vietnam-Krieg ihre Befugnisse überschritten und die Öffentlichkeit hinters Licht geführt, wie die „Pentagon Papers“ zeigten. Vier Jahre später drückte die große politische Denkerin der amerikanischen Republik ihre Bewunderung aus. Am Ende steht der Satz: „Die Erhabenheit dieser Republik bestand darin, um der Freiheit willen dem Größten wie dem Niederträchtigsten im Menschen angemessen Rechnung zu tragen.“

Dem Niederträchtigsten im Menschen angemessen Rechnung zu tragen, erklärt Charles Krauthammer zu seiner Absicht. Im Weekly Standard vom 5. Dezember stößt der wortmächtige Verteidiger der amerikanischen Regierung ins Zentrum der im Augenblick am heftigsten geführten transatlantischen Debatte vor. „Die Wahrheit über die Folter“ lautet schlicht der Titel des Stückes. Weder überhitzt noch polemisch, wie man es von ihm gewohnt ist, sondern kalt und nüchtern im Ton wägt Krauthammer die Probleme. Eine genaue Lektüre seines Textes zeigt, worum es in der amerikanischen Diskussion eigentlich geht. CIA-Flüge, Geheimgefängnisse in Osteuropa, „waterboarding“, der von Senator John McCain durchgesetzte Zusatz eines absoluten Folterverbots zum Verteidigungsbudget, Widerstände dagegen von Weißem Haus und Pentagon, die Initiative von Senator Lindsay Graham, bestimmten Gefangenen den Zugang zu Gerichten zu verweigern – alles vermischt sich in der Wahrnehmung. Eine differenzierte Analyse kann nicht schaden. Ob man Krauthammers Argumente teilt oder nicht, sie verdeutlichen jedenfalls den konzeptionellen Unterschied zwischen der Regierung (wenn man Krauthammer in diesem Fall nicht ganz unberechtigt als deren Sprachrohr gelten lässt) und McCain – was noch nichts über die Praxis aussagt.

Krauthammer unterscheidet drei Kategorien Kriegsgefangener: Erstens Soldaten, die ehrenvoll und menschlich zu behandeln und von der Genfer Konvention geschützt sind. Zweitens gefangene Terroristen, die „ungesetzlichen feindlichen Kämpfer“, die in der Tradition der Partisanen und Freischärler früherer Kriege stehen, das Leben der Zivilbevölkerung ohne jede Rücksicht riskieren und darum weder eine menschliche Behandlung noch den Schutz der Genfer Konvention verdient haben – und mit denen dennoch entsprechend der Genfer Konvention mit Menschlichkeit und Würde zu verfahren ist, weil das den Prinzi-pien einer zivilisierten Nation wie der Amerikas entspreche. Zur menschlichen Behandlung rechnet Krauthammer auch die Versorgung und religiöse Freiheit der meisten Gefangenen in Guantánamo – etwa das Recht dschihadistischer, sich auf den Koran berufender Terroristen, ein Exemplar des Korans zu besitzen, was überhaupt erst auf Missstände in dem Gefangenenlager aufmerksam gemacht habe. Werden hier schon bei vielen Bedenken einsetzen, gilt dies erst recht für Krauthammers Schöpfung einer dritten Kategorie von Kriegsgefangenen, nämlich des „Terroristen mit Informationen“, bei dem allein sich das Problem der Folter überhaupt stelle.

Doch Krauthammer macht sich die Sache nicht so leicht, wie der Leser zunächst annehmen könnte. Das Folterverbot McCains lehnt er nur ab, weil es der Realität nicht angemessen sei. Die „tickende Bombe“ und andere bekannte Szenarien dienen ihm zur Begründung dafür, dass es unter extremen Umständen, nach sorgfältiger Abwägung, nicht nur erlaubt, sondern sogar moralisch geboten sein könnte, härtere Formen der Befragung bis hin zur Folter anzuwenden, um viele Leben zu retten. Krauthammers konkretes Beispiel ist Khalid Scheich Mohammed, einer der höchstrangigen gefangenen Al-Qaida-Terroristen. Einen Mann wie ihn, der Kenntnisse künftiger Massenmorde besitzt, müsse eine Regierung auch notfalls „isoliert, des-orientiert, einsam, verzweifelt, kalt und schlaflos“ halten, um ihm seine finsteren Pläne zu entlocken, so Krauthammer. McCains Einwand, Folter führe zwar zu Geständnissen, aber nie zur Wahrheit, hält Krauthammer nur für teilweise begründet: In Israel hätten „verschärfte Verhöre“ wiederholt zur Rettung vieler Menschen geführt.

Am israelischen Fall tritt der harte Kern des Streites hervor, hier begegnen sich die Argumente von Krauthammer und McCain auf einer Ebene. Denn der Senator aus Arizona nennt Israel ein Vorbild. Er bezieht sich dabei auf das 1999 vom Obersten Gerichtshof Israels ergangene Folterverbot. Die israelische Praxis ist allerdings komplizierter, und das weiß McCain so gut wie Krauthammer. Als ultima ratio in Extremfällen haben alle, linke wie rechte israelische Regierungen Methoden angewendet, die als Folter geächtet sind. Wenn sie die „tickende Bombe“ fürchteten, haben sie also zu ungesetzlichen Mitteln gegriffen, für die sie sich danach gegebenenfalls vor Gericht verantworten mussten. Genau darum geht es McCain, wie Krauthammer zeigt: Folter bleibt verboten, aber im Extremfall müsse der Präsident dem Gesetz zuwiderhandeln. „Er trägt dann die Verantwortung dafür“, so zitiert Krauthammer McCain, und kann zur Rechenschaft gezogen werden.

Krauthammer hingegen will eine juristische Regelung dieser Grauzone. Dabei beschönigt er nichts, er nennt eindeutig Folter, was in CIA-Verhören mitunter geschieht: „Jede Form der Folter ist ein monströses Böses. Es besteht kein Zweifel, dass es Individuen wie Gesellschaften verdirbt, die es praktizieren. Aber gewählte Regierungen, die vor allem anderen für den Schutz ihrer Bürger verantwortlich sind, haben die Pflicht, auch schlaflose Nächte und Gewissensnöte auf sich zu nehmen, um das zu tun, was notwendig ist – und nur, was notwendig ist, kein bisschen mehr –, um Informationen zu erhalten, die einen Massenmord verhindern könnten.“ Wie allerdings das, „was notwendig ist“, bestimmt werden könnte, ist eine gefährliche Angelegenheit, wie auch Krauthammer weiß. Darum plädiert er für einen Verhaltenskodex, der Entscheidungen, die zur Folter geführt haben, transparent macht. Er verlangt, um das soldatische Ethos zu wahren, ein absolutes Folterverbot für alle militärischen Einheiten, selbst in Extremfällen: „Wir wollen nicht, dass irgendein Gefreiter, wir wollen nicht einmal, dass irgendein Oberst oder General diese Abwägungen trifft.“

Dagegen sollen hochausgebildete, ständig überprüfte, sachkundige zivile Verhörspezialisten auch bis zur Folter oder deren Androhung gehen dürfen, um lebensrettende Informationen zu erhalten. Sie müssen dafür, so fordert Krauthammer, eine Genehmigung der höchsten politischen Autoritäten einholen – also beim Präsidenten und bei Kabinettsmitgliedern – oder bei Gefahr im Verzug binnen weniger Stunden nachträglich darum ersuchen. Nur in zwei Fällen kann dies überhaupt in Frage kommen: Neben der „tickenden Bombe“ nennt Krauthammer hochrangige Terroristen, die über lebenswichtige Informationen verfügen, ohne dass ein Anschlag unmittelbar droht. In seinem Bemühen, Regeln zu entwerfen für den Vollzug dieser „schrecklichen und monströsen, so entwürdigenden und moralisch verdorbenen Sache“, wie er die Folter nennt, landet Krauthammer schließlich bei einer Verhältnismäßigkeit des Unmenschlichen: Die Härte der angewendeten Verhörmethoden müsse der Dringlichkeit der erwarteten Information entsprechen, was heißen soll: Stehen mehr Menschenleben auf dem Spiel, sind auch unmenschlichere Maßnahmen erlaubt.

McCain wie Krauthammer halten beide für möglich, dass in äußert seltenen Extremfällen Folter möglich sein könnte. Beide sind zugleich besorgt über die Unaufrichtigkeit, mit der das Thema von den Regierenden behandelt wurde, beide wollen künftige Missstände verhindern. Doch während Krauthammer Regeln für die Ausnahme sucht, will ein potenzieller Präsident McCain erst in der Ausnahmesituation seine Entscheidung fällen und dann dafür die Verantwortung tragen.

John McCain, der Rebell und Einzelgänger, ist derzeit der aussichtsreichste Bewerber um die republikanische Präsidentschaftskandidatur, wie Byron York in der New Republic vom 12. Dezember berichtet. Seine Popularität war immer hoch, doch seit George W. Bush die Gunst der Wähler verliert, versöhnt sich auch das republikanische Establishment mit McCain. Für diese Annäherung gibt es gute Gründe: McCain hat selbstlos die Wiederwahl Bushs 2004 unterstützt, er verteidigt ungebrochen und mit besseren Argumenten als Bush Irak-Krieg und Demokratieexport, er ist fiskalisch streng konservativ, und er hat seinen von der eigenen Partei ungeliebten Aktivismus gemildert, mit dem er die Finanzierung von Wahlkämpfen einschränken will. Zu Fall bringen könnte sich McCain, ein Gegner der religiösen Rechten, vor allem selbst durch seine risikofreudige Unabhängigkeit: „Ich glaube, in letzter Zeit habe ich die republikanische Basis nicht gegen mich aufgebracht. Aber ich kann nicht versprechen, dass es so bleibt.“ Das Gegenstück dazu verkörpert der 29-jährige Abgeordnete Patrick McHenry, der Benjamin Wallace-Wells im Washington Monthly (Oktober/November) zufolge repräsentativ für einen neuen, zunehmenden Typus von Jungkarrieristen steht, deren „letzte Loyalität nicht irgendeinem Prinzip oder einer Ideologie gilt, sondern allein der politischen Maschine der Republikanischen Partei“. McHenry sei einer, der die Kunst beherrsche, im Namen seiner Partei „zu verteidigen, was nicht zu verteidigen ist“.

Unweigerlich taucht dabei das Dauerthema Irak auf. Wie man es hätte besser machen können, erzählt James A. Gavrilis in Foreign Policy (November/Dezember). Der Autor, Major und Kommandeur einer Spezialeinheit, war im April 2003 zwei Wochen lang für eine Stadt verantwortlich, die seine Kompanie erobert hatte. Er berichtet von der „kleinen Revolution“, die in Ar-Rutbah stattfand, während in Bagdad die Statue Saddams stürzte. Gavrilis war nicht im geringsten auf zivile Maßnahmen des Nation-Building vorbereitet worden, doch als er es musste, baute er mit Augenmaß und in wenigen Tagen eine funktionierende Stadt auf – mit Hilfe der Iraker. Sein Rezept: Respekt für die Bewohner und enge Zusammenarbeit mit ihnen. „Wir verhielten uns wie Gäste in ihrem Haus. Wir haben die Iraker nicht als Besiegte, sondern als Verbündete behandelt“, erklärt Gavrilis. Als seine Kompanie nach zwei Wochen abzog, blickte er mit Stolz auf seine kleine Stadt. Kurze Zeit später war aber auch dort der anfängliche Sieg verspielt. Aus Freundschaft wurde Feindschaft, so Gavrilis.

Allerdings, zunehmenden Behauptungen zum Trotz, ist die Situation im Irak nicht der in Vietnam vergleichbar, wie Frederick W. Kagan in Policy Review (Dezember/Januar) erläutert. Vor allem müsse man endlich den Unterschied zwischen einem Aufstand wie im Irak und einem Guerillakrieg wie in Vietnam begreifen. Aufgrund dieses Denkfehlers schlagen Kagan zufolge auch die Counterinsurgency-Strategien fehl, die die Konzentration auf sichere Zonen vorsehen, um diese dann immer weiter auszubreiten. Im Irak wäre das ein Schritt zurück, denn im Vergleich zu Vietnam sei das Land bereits so weit befriedet, dass ein Rückzug aus bestimmten Gegenden diese erst voll und ganz zum Zentrum der Aufständischen machen würde. Militärische Lektionen für den Irak lassen sich nicht aus Vietnam, sondern nur aus dem Kampf der Briten gegen die IRA oder der Spanier gegen die ETA lernen, so Kagan.

Der Irak-Krieg war einer der Fälle, in denen die Bush-Doktrin Anwendung fand. Robert Jervis, einer der bedeutendsten außenpolitischen Theoretiker der USA, verkündet in Political Science Quarterly (Herbst 2005) bereits deren Ende. Mit einer messerscharfen Argumentation weist Jervis die inneren Widersprüche der Dok-trin nach. Nicht nur daran werde sie scheitern: Die Bush-Doktrin setze ein Maß an öffentlicher Zustimmung voraus, das in einer Demokratie auf Dauer nicht aufrechtzuerhalten ist. Sie laste bei der Prävention von Gefahren den Geheimdiensten Aufgaben auf, die diese gar nicht erfüllen können. Ihr Vertrauen in die globale Demokratie stoße in der Praxis auf zu viele Grenzen, die Doktrin sei zu ehrgeizig. Bestenfalls sei sie ein „gigantisches Glücksspiel“. Man habe darauf gesetzt, dass der Irak zur stabilen Demokratie reife, der Nahe Osten sich reformiere und der israelisch-palästinensische Konflikt gelöst werde. Jedes bescheidenere Ergebnis werde der Rest der Welt als Scheitern werten.

Diesen Rest der Welt beschwört in der Dezember-Ausgabe des Commentary Norman Podhoretz: „Wer lügt über den Irak?“, fragt der Gründervater der Neokonservativen und rückt zahlreiche Anschuldigungen gegen die Regierung zurecht. Wenn es um die Massenvernichtungswaffen gehe, widerspricht Podhoretz dem Vorwurf der Lüge mit dem Argument, dass alle an die Existenz der Waffen geglaubt hätten, „auch die Briten, die Franzosen, die Deutschen“. Die transatlantische Zusammenarbeit funktioniert auf manchen Gebieten reibungslos.

TIM B. MÜLLER, geb. 1978, Redakteur der IP, ist Historiker und schreibt regelmäßig für die Süddeutsche Zeitung.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar 2006, S. 124 - 127.

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