Gegen die Vernachlässigung
Buchkritik
Bücher des Jahres, die wir gerne ausführlicher rezensiert hätten
Die Buchproduktion eines Jahres ist einschüchternd, nur weniges kann besprochen werden. Darum sind hier einige Bücher ausgewählt, die man nicht übersehen sollte. Diese Empfehlungen konzentrieren sich auf solche Bücher, die zu dieser Jahreszeit besonders gerne gelesen und verschenkt werden – auf historisch-politische Sachbücher.
Der Titel des besten deutschsprachigen historisch-politischen Sachbuchs des Jahres gebührt vielleicht am ehesten Jürgen Mantheys großer Biographie einer Stadt, die vor 750 Jahren gegründet wurde: „Königsberg“. Manthey beschwört den Geist einer „Weltbürgerrepublik“, den weder der russische Autokrat noch sein deutscher Freund erfasst haben dürften, als sie sich einsam – kein anderer Staats- oder Regierungschef der Region war eingeladen – zur Feier ins heutige Kaliningrad begaben. Die fatale Geschichte deutscher Russland-Faszination beschreibt Gerd Koenens großartiges jüngstes Buch „Der Russland-Komplex“, das hier nicht fehlen darf, auch wenn es noch ausführlicher gewürdigt werden soll. In der Stadt, deren deutsche Existenz vor 60 Jahren aufhörte, spiegelt sich das große Thema des vergangenen Jahres – das Kriegsende 1945.
Eine knappe und dennoch präzise „Kurze Geschichte des Zweiten Weltkriegs“ hat Gerhard Schreiber vorgelegt. Wie weit die Deutschen in den zurückliegenden sechs Jahrzehnten mit ihrer „Vergangenheitsbewältigung“ gekommen sind, bringt Norbert Frei in „1945 und wir“ gewohnt kenntnisreich auf den Punkt. Die politische Instrumentalisierung der natio-nalsozialistischen Verbrechen analysiert und kommentiert, nicht immer treffsicher, aber mitunter originell, Eric Freys „Das Hitler-Syndrom“. Den komplexen und heiklen, aber so oft auch formelhaft wiederholten Fragen, die sich aus der Darstellung der deutschen Vergangenheit ergeben, gewinnen Konrad H. Jarausch und Michael Geyer in „Zerbrochener Spiegel“ neue Einsichten ab. Richard Overys gewaltige und meisterhafte Studie „Die Diktatoren“ zeigt so eingehend wie kein Buch zuvor, wie sinnvoll ein Vergleich von Hitler und Stalin sowie ihrer totalitären Gewaltherrschaften ist – und wo dessen Grenzen liegen. Den bekannten Seiten des sowjetischen Tyrannen fügt Klaus Kellmanns „Stalin“, ein gut lesbares und auch für Einsteiger geeignetes Buch, kleine Ergänzungen hinzu.
Das Verhältnis der Deutschen zur Welt führen an schlagenden historischen Beispielen zwei Bücher vor: Wie sehr sich die deutsche Wissenschaft immer wieder der Macht- und Expansionspolitik angedient hat und dabei durchaus auch zu innovativen fachlichen Ergebnissen gelangt ist, macht Eduard Mühles Werk über Hermann Aubin und die deutsche Ostforschung, „Für Volk und deutschen Osten“, deutlich. Dieses Buch verdient besondere Erwähnung, weil es eine seit Jahren teils erbittert geführte Debatte nüchtern in manchen Punkten einer Klärung zuführt – und weil es trotz seines gewaltigen Umfangs und seiner streng akademischen Orientierung immer lesbar bleibt. Schlanker, thesenstärker und provokativer tritt Dirk van Laaks „Über alles in der Welt“ auf, eine kleine Geschichte des deutschen Imperialismus. Der Autor sieht noch die Entwicklungspolitik der Bundesrepublik in einer Kontinuität zur Kolonialidee.
Der Rest der Welt soll nicht vergessen werden. Wer begreifen will, was in der iranischen Gesellschaft vor sich geht, dem wurde mit der Übersetzung von Azar Nafisis vielgerühmtem Buch „Lolita lesen in Teheran“ ein großes Geschenk gemacht. Genauso viel erfährt der Leser darin über das Widerstandspotenzial, das große Literatur entfalten kann. Eine aktuelle Ergänzung dieser schon einige Jahre zurückliegenden Erfahrungen liefert die Neuausgabe von Navid Kermanis „Iran – Die Revolution der Kinder“. Die Vorgeschichte des jüdischen Staates erzählt meisterlich wie immer und mit viel Liebe für persönliche Details Tom Segev in „Es war einmal in Palästina“. Er zeigt, wie sehr die Briten, im Widerspruch zu bis heute verbreiteten historischen Klischees, die Gründung des Staates Israel gefördert haben. Die sachlich verlässliche Abenteuervariante eines kleinen Ausschnitts aus dieser Geschichte ist Richard Andrews’ „Der Spion des Lawrence von Arabien“.
Amerika ist ohne Tocqueville nicht zu verstehen, und der französische Denker mit dem kalten, analytischen Blick auf die Neue Welt, der aristokratische Liberale, der die Erneuerungskraft der Demokratie erkannte und den großen Konflikt des 20. Jahrhunderts vorausahnte, ist nur schwer zu begreifen ohne die umfassende Biographie des „Alexis de Tocqueville“ aus der Feder von André Jardin. Amerika lässt sich aber auch nicht verstehen, wenn man die Zivilreligion des Kultes um die „Gründerväter“ und die immer neue Inszenierung dieser Gründungsszene als Bezugspunkt der amerikanischen Politik ignoriert. Joseph J. Ellis hat nach einer Eloge auf alle Gründerväter nun mit „Seine Exzellenz George Washington“ ein nüchternes Porträt des ersten Präsidenten geschaffen, das auf lange Zeit unser Bild bestimmen wird.
Zwei politisch-theoretische Bücher sollen nicht verschwiegen werden. Ein immer aktueller Klassiker, Fritz Sterns „Kulturpessimismus als politische Gefahr“ von 1961, wurde neu aufgelegt. Ein anderer ist womöglich entstanden – André Glucksmanns Streitschrift „Hass. Die Rückkehr einer elementaren Gewalt“. Eindringlich, mit wechselnder Tiefenschärfe geht der französische intellektuelle Einzelkämpfer den fatalen Ideologien unseres Terrorzeitalters auf den Grund: Antisemitismus, Antiamerikanismus und Frauenhass. Auch davon soll hier ein andermal noch die Rede sein.
Zuletzt dürfen zwei Werke aus der Welt angelsächsischer Gelehrter nicht unerwähnt bleiben. Yuri Slezkines vielgerühmtes und heftig umstrittenes Buch „The Jewish Century“ verknüpft spannend erzählt und mit Mut zur These und zur Bildung von Idealtypen die Geschichte der Moderne mit der Geschichte der Juden. Und in einem Jahr, in der Imperien-Debatten gar nicht mehr zu zählen sind, zeigt nur ein Buch unter Verzicht auf alle vorschnellen Parallelisierungen, wie das britische Empire wirklich funktionierte. In der Geschichte der Royal Navy bricht sich in N. A. M. Rodgers „The Command of the Ocean“, dem monumentalen zweiten Band eines noch monumentaleren Unternehmens, jedes Detail britischer Herrschaft zwischen 1649 und 1815. Wenn wir das beste historisch-politische Sachbuch des Jahres wählen müssten – es wäre dieses.
Jürgen Manthey: Königsberg. Carl Hanser Verlag, € 29,90.
erd Koenen: Der Russland-Komplex. C. H. Beck, € 29,90.
Gerhard Schreiber: Kurze Geschichte des Zweiten Weltkriegs. C. H. Beck, € 14,90.
Norbert Frei: 1945 und wir. Das Dritte Reich im Bewußtsein der Deutschen. C. H. Beck, € 19,90.
ric Frey: Das Hitler-Syndrom. Über den Umgang mit dem Bösen in der Weltpolitik. Eichborn Verlag, € 19,90.
Konrad H. Jarausch und Michael Geyer: Zerbrochener Spiegel. Deutsche Geschichten im 20. Jahrhundert. DVA, € 39,90.
Richard Overy: Die Diktatoren. Hitlers Deutschland, Stalins Rußland. DVA, € 48.
Klaus Kellmann: Stalin. Primus Verlag, € 24,90.
Eduard Mühle: Für Volk und deutschen Osten. Droste Verlag, € 50.
Dirk van Laak: Über alles in der Welt. C. H. Beck, € 14,90.
Azar Nafisi: Lolita lesen in Teheran. DVA, € 17,90.
Navid Kermani: Iran. Die Revolution der Kinder. C. H. Beck, € 12,90.
Tom Segev: Es war einmal in Palästina. Juden und Araber vor der Staatsgründung Israels. Siedler Verlag, € 28.
Richard Andrews: Der Spion des Lawrence von Arabien. Aufbau-Verlag, € 24,90.
André Jardin: Alexis de Tocqueville. Campus, € 29,90.
Joseph J. Ellis: Seine Exzellenz George Washington. C. H. Beck, € 24,90.
Fritz Stern: Kulturpessimismus als politische Gefahr. Klett-Cotta, € 24,50.
André Glucksmann: Hass. Nagel & Kimche im Carl Hanser Verlag, € 19,90.
Yuri Slezkine: The Jewish Century. Princeton University Press, $ 29,95.
N. A. M. Rodger: The Command of the Ocean. A Naval History of Britain, 1649–1815. W. W. Norton, $ 45.
Internationale Politik 12, Dezember 2005, S. 134 - 135.