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01. Dez. 2005

Foucault und der Stellvertreter

Bleiben, um zu gehen: Im jüngsten Streit über den Irak geht es um die Nachfolge Bushs

Wer hätte gedacht, dass Michel Foucault noch einmal zu dieser Ehre kommt. Die Begeisterung des französischen Meisterdenkers für die iranische Revolution 1979 wird oft als peinliches biographisches Detail abgetan. Seinen Kritikern gilt er prototypisch als radikaler westlicher Intellektueller, der sich für Erhebungen der Dritten Welt begeistert, ohne Ahnung von Ursachen und Folgen zu haben – wie so viele magisch angezogen von den authentisch drapierten Akteuren, der antiwestlichen Stoßrichtung, dem Intensitätserlebnis. Die „gemäßigten Technokraten“ einer islamischen Modernisierung fanden seine Verachtung, die Alternative zum Westen war spirituell, eine Revolution aus dem Osten, ein Aufstand „von Menschen mit bloßen Händen“, wie er schrieb: „Das ist vielleicht die erste große Erhebung gegen die weltumspannenden Systeme, die modernste und irrsinnigste Form der Revolte.“ Später blieb das nur zögerliche Eingeständnis des Scheiterns übrig: „Die iranische Revolution ist nicht jener ‚Gesetzmäßigkeit‘ der Revolutionen erlegen, wonach, wie es scheint, aus der blinden Begeisterung stets die Tyrannei hervorgeht, die insgeheim darin bereits angelegt ist. Die Spiritualität, auf die sich die zum Tode Bereiten beriefen, ist ohne gemeinsames Maß mit der blutigen Herrschaft eines fundamentalistischen Klerus.“

Pankaj Mishra erklärt in der New York Review of Books vom 17. November, dass diese Episode trotz des politischen Irrtums, dem Foucault erlegen war, einen Schlüssel zum Verständnis des gegenwärtigen Islams enthalten könnte. Foucault sah in der islamischen Revolution nicht einfach eine der üblichen Befreiungsbewegungen mit Rückhalt in Moskau, sondern einen radikalen Gegenentwurf zur säkular-westlichen Moderne, in ihrer kapitalistischen wie kommunistischen Ausprägung. Er sagte die lange Dauer dieser neuartigen spirituellen Bewegung voraus, die nicht auf den Iran beschränkt bleiben, sondern die islamische Welt umgestalten würde. Die von der Moderne entwurzelten Muslime in den Städten verarbeiteten seiner Analyse zufolge ihre Entfremdungs- und Vereinsamungserfahrung in der Zuwendung zu einer traditionellen und zugleich, als Erzeugnis individueller Wahl, als „Erfindung einer Tradition“, modernen Form des Islams. Das Fehlen einer demokratischen Kultur im Nahen Osten ließ der islamischen Erweckungsbewegung nur Opfer und Märtyrertum als Waffen im Kampf gegen korrupte Tyrannen – selbst diese Deutung sieht Mishra bei Foucault schon angelegt. Das westliche Drängen auf Modernisierung und Säkularisierung, im Bündnis mit autokratischen und korrupten Eliten, habe die Gegenbewegung erst entfacht und dem „politischen Islam“ immer weitere „Konvertiten“ zugetrieben.

Nach dem Iran kam Afghanistan. Die kommunistischen Versuche einer brachialen Modernisierung lösten den globalen Dschihad aus. Der antisowjetische, damit zugleich auch antiwestliche Kampf brachte bekanntlich erstmals, unterstützt vom Westen und forciert von Pakistan, die internationale Gemeinschaft der Dschihadisten zusammen, deren Erbschaft uns heute beschäftigt. Von Foucault schlägt Mishra den Bogen zu Reza Aslan, dessen Buch „No God but God“ Mishra für die beste gegenwärtige Deutung des Islams hält.

Die Vielfalt, Uneindeutigkeit und Widersprüchlichkeit, die der Islam wie jede andere kulturelle Formation aufweist, haben auch schon andere konstatiert. Aber erst Aslans Buch gebe dem Islam jene „innere Komplexität, die Begriffe wie ‚der Westen‘ oder ‚Amerika‘ in unseren westlichen Augen besitzen“. Diese Sicht hat auch politisch-praktische Resultate. Wer diese Komplexität begriffen habe, spreche nicht länger nur von bösen Dschihadisten, die man bekämpfen, und moderaten Muslimen, die man für die liberale Demokratie gewinnen müsse. Vielmehr begegnet man einem anderen, in seinem Facettenreichtum zutiefst religiösen Denken. Reform ist dabei nicht an Säkularisierung geknüpft, diese sei vielmehr ein Hindernis. Wie Tocqueville die tragende Rolle der Religion in der amerikanischen Zivilgesellschaft entdeckt hat, könne auch in islamisch geprägten Ländern „ein demokratisches System nur auf einer islamischen Grundlage entstehen, die den islamischen Idealen von Pluralismus und Menschenrechten verpflichtet ist“.

Den Schlüssel zu dieser Reform halten heute Mishra und Aslan zufolge Intellektuelle wie Abdulasis Sachedina, Abdolkarim Sorusch, Tariq Ramadan, Khaled Abou El Fadl und andere in Händen – weil sie als durch und durch religiöse Denker islamische Gesellschaften ansprechen und zugleich sich einer dem Westen verständlichen Sprache bedienen können. All diese Denker, und das macht Foucault so aktuell, teilen dessen Ansicht von der Krise, in der sich die säkulare Ideologie des Westens befinde. Darum suchen sie einen Mittelweg – oder vielmehr auf einem genuin islamischen Weg nach einer gemeinsamen Grundlage mit den liberalen Werten des Westens. Wenn sie sich dabei auf die egalitäre Politik des Propheten als Inspiration für eine islamische Demokratie berufen, sei das, so Mishra, nicht „fundamentalistischer“ als die westliche Beschwörung des antiken Griechenlands als Wiege der Demokratie.

Der scheinbar fundamentalistische Bezug auf den Urtext des Korans ist in Wahrheit eine intellektuelle, mit der islamischen Tradition vereinbare Strategie, um die klerikalen Interpretationen der Scharia abzuschütteln und die Bedeutung des Individuums und seiner freien Entscheidung in der islamischen Gemeinschaft zu stärken. Nicht Moderate oder Säkulare sind die Garanten einer tiefreichenden Reform. Der politische Islam, so lautet Mishras Schlussfolgerung, ist die Ideologie des Terrors. Der politische Islam ist aber auch die Hoffnung auf eine friedliche Zukunft – die geistige Grundlage einer islamischen Demokratie. Vielleicht haben die Dschihadisten mit ihrer individualistischen Neuerfindung des Islams wider Willen sogar die Waffe geschaffen, mit der sie im Krieg der Ideen am Ende selbst besiegt werden.

Auch mehr als zweieinhalb Jahre nach dem offiziell erklärten Abschluss der Kampfhandlungen im Irak dreht sich die Debatte in den USA immer noch um jenen Krieg, im Augenblick sogar so stark wie seit langem nicht mehr. Den Grund dafür versucht Franklin Foer in der New Republic vom 31. Oktober zu bestimmen: Ein klassischer Stellvertreterkrieg ist in den politischen Schützengräben Wa-shingtons ausgebrochen. Den Anfang machte die Debatte um Harriet Miers, jene Kandidatin für den Supreme Court, die längst ersetzt wurde. Sie „könnte die kleine Lady sein, die den großen Krieg auslöste“. So heftige Kritik wie bei dieser gescheiterten Nominierung ist dem Präsidenten aus seinen eigenen konservativen Reihen noch nie entgegengeschlagen.

Dieser Streit war nur ein Vorwand. Er hat in Wahrheit die Nachfolgedebatte eröffnet. Von Miers war man schnell beim Irak angelangt. So deutlich wie in den letzten Wochen haben sich die konservativen Gegner des Irak-Krieges noch nie positioniert. So deutlich haben aber auch die neokonservativen Befürworter des Krieges noch nie ihre Unzufriedenheit mit der Kriegführung der Regierung artikuliert. Die konservative Presse hat sich auf einen Schlag verwandelt. Von beinahe bedingungsloser Loyalität ist sie zur offenen Kritik übergegangen. Bislang habe der „Krieg gegen den Terror“, so Foer, seine Rolle als ideologische Klammer erfüllt, die die verschiedenen Lager innerhalb der Republikanischen Partei zusammenhielt. Damit sei es nun vorbei. Fiskalische gegen religiöse Konservative, außenpolitische Falken gegen Neoisolationisten – der Kampf um die beste Ausgangsposition für die nächste Wahl 2008 sei entbrannt. Das bestätigt Ryan Lizza in derselben Ausgabe der New Republic in einem Artikel über die Partei.

Symptomatisch ist das jüngste Erscheinen von Brent Scowcroft, Freund und Sicherheitsberater des früheren Präsidenten George H. W. Bush. Jeffrey Goldblum hat ihm im New Yorker vom 31. Oktober ein bemerkenswertes Porträt gewidmet. Obwohl es seinem Naturell widerspricht, tritt Scowcroft allem Anschein nach als inoffizieller Sprecher des realpolitischen Flügels der Republikaner auf, wenn er die Außenpolitik der Regierung öffentlich kritisiert. Den „revolutionären Utopismus“, Demokratie schnell und gewaltsam verbreiten zu wollen, hält er für einen gefährlichen Irrtum. Als fatalen Ideengeber der Neocons, des Präsidenten und besonders des Vizepräsidenten macht Scowcroft den Princetoner Gelehrten Bernard Lewis aus – dieser habe geraten, „man sollte den Arabern mit einem großen Stock zwischen die Augen schlagen. Denn sie respektieren Macht.“ Diese Ansicht habe sich besonders Dick Cheney zu eigen gemacht. „Die eigentliche Anomalie in dieser Regierung ist Cheney“, erklärt Scowcroft.

Im ungebrochen neokonservativen Weekly Standard vom 14. November wird sogar bereits eine detaillierte Strategie für die Republikanische Partei in der „Zeit nach Bush“ entworfen. Die Autoren, Ross Douthat und Reihan Salam, erklären: „Die Innenpolitik von Präsident Bush sieht immer weniger wie eine revolutionäre Variante des traditionellen Konservatismus und immer mehr wie eine evolutionäre Sackgasse aus.“ Am wichtigsten sei, zu begreifen, dass die Republikaner zunehmend eine Partei der Arbeiterklasse geworden seien, nicht mehr nur „Country Club“, sondern vor allem „Sam’s Club“. Die ökonomischen Ängste dieser breiten Wählerschichten müssten ernst genommen und ins Zentrum gerückt werden. Die Strategie, die Douthat und Salam vorschlagen, akzeptiert die Aufgaben des „big government“: Steuerreduzierungen für sozial Schwächere, Kindergeld, flexible Einwanderungspolitik gehören zu den Anregungen. Die Autoren plädieren für einen Konservatismus des Sowohl-als-auch und gegen eine Politik des Entweder-oder. Sie wollen, dass die Republikaner wieder eine „Mehrheitspartei“ werden.

In Foreign Affairs (November/Dezember) zeigt John Owen, wie die Theorie des demokratischen Friedens – immerhin das Kernstück der außenpolitischen Ideen des Präsidenten – von konservativen Autoren wie Edward Mansfield und Jack Snyder unter Beschuss genommen wird. Demnach verhalten sich Staaten, die die ersten Schritte in Richtung Demokratie gehen, sogar viel aggressiver nach außen. Historisch gesehen sind Staaten mit freien Wahlen und ohne liberale Institutionen sogar besonders häufig in Kriege verwickelt. Und Melvin Laird, republikanischer Verteidigungsminister unter Nixon, nutzt in derselben Ausgabe die Gelegenheit nicht nur, um seine Vietnam-Politik zu verteidigen. Auch er unterzieht die Fehler der Regierung im Irak einer scharfen Kritik. Besonders seinen Amtsnachfolger Rumsfeld nimmt er ins Visier. Doch Lairds Empfehlung lautet: Es gebe keine Alternative zur „Irakisierung“, und erst wenn ausreichend ausgebildete irakische Truppen zur Verfügung stehen, könnten sich die USA zurückziehen. Die Regierung – vor allem Rice, der Laird Großes zutraut – müsse sich aber besser erklären.

Diese Ratschläge aus den Reihen der Republikaner unterscheiden sich nicht grundlegend von den Schlussfolgerungen, zu denen die beiden jüngsten faktischen Beiträge zum Thema Irak gelangen. Frederick Kagan hat im Weekly Standard vom 31. Oktober seine „Blaupause für den Sieg“ veröffentlicht. Der Militärhistoriker erklärt, dass weder der Terror Zarqawis noch die ausländischen Dschihadisten das Hauptproblem seien. „Das wahre Problem liegt innerhalb der sunnitischen Gemeinschaft.“ Die Sunniten sähen sich als Widerstandskämpfer, die ihre Heimat und ihre Position verteidigen und dafür auch Koalitionen mit den Terroristen eingehen. Also sei die wichtigste Aufgabe, die Sunniten „zu überzeugen, dass sie ihre politische Position durch Gewalt nicht verbessern, sondern nur verschlechtern können“. Das könne aber nur gelingen, wenn die USA glaubwürdig ihre langfristige Präsenz versprächen. Ansonsten warteten alle nur auf den Abzug der Amerikaner, um dann übereinander herzufallen. Amerikanisches Gerede vom Rückzug schade nur und werde am Ende die Dauer der Truppenstationierungen verlängern. Vorerst wäre also Kagan zufolge der richtige Schritt, mehr Soldaten in den Irak zu senden. Erfolg bestehe nicht in der Zahl ausgebildeter irakischer Bataillone, sondern darin, dass die ethnischen Gruppen des Iraks auf Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung verzichten. Sobald dieser Zeitpunkt gekommen ist, kann Amerika den Rückzug antreten.

Zu diesem Schluss kommt auch Fallows, der am bisher ausführlichsten dokumentiert, wie es zu der Auflösung der irakischen Armee kam. Er beschreibt ausführlich, was alles schiefging und untersucht den – wie sich zeigt: miserablen – Ausbildungsstand der neuen irakischen Truppen. Am Ende seiner langen Reportage im Atlantic Monthly vom Dezember steht sein Urteil. „Ich bin zu einer ernüchternden Schlussfolgerung gelangt: Die Vereinigten Staaten können die Iraker am besten ausbilden und so am schnellsten den Irak verlassen, wenn sie sich deutlich verpflichten, auf sehr lange Zeit im Irak zu bleiben.“

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 12, Dezember 2005, S. 124 - 127.

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